Die Autorin trink beim Baumblütenfest Wein und hält einen Luftballon
Fotos: Philipp Sipos
Menschen

Ich war auf Deutschlands schönstem und zugleich versoffenstem Weinfest

Das Baumblütenfest lockt mit Obstwein aus 1-Liter-Plastikflaschen Sauftouristen ins Berliner Umland. Doch die Stadt Werder will den Exzess jetzt eindämmen. Muss das wirklich sein?

Ich wache auf und sehe eine Benachrichtigung auf meinem Handydisplay: Heute vor fünf Jahren: Baumblütenfest, Werder. Damals war ich 24 Jahre alt, noch im Studium und lebte in meiner Krachbumm-WG mit Wasserschaden nahe dem Berliner Strich in der Kurfürstenstraße. Das Baumblütenfest war das assigste Sauffest überhaupt. Und einmal im Jahr waren meine Freunde und ich ein Teil davon. 

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Das Baumblütenfest ist eigentlich ein Weinfest im Brandenburgischen Werder. Unter blühenden Kirschbäumen an der Havel verkaufen Bauern dort alljährlich ihre Obstweine. Nahe an Berlin und doch weit weg von Technoclubs und Nachtleben, könnte es das idyllischste Fest im Umland der Hauptstadt sein. Wären da nicht die Grölgruppen, Saufsportler und Freizeitboxer. Bei knapp 190.000 Besuchern zählte die Polizei 2019 fast 500 Straftaten. 100 davon waren Körperverletzungen. Ein neues Konzept soll den Sauftourismus jetzt beenden und Straftaten verhindern: Das Baumblütenfest ist dieses Jahr kleiner, mit weniger Bühnen, Besuchern und keinen Karussellen mehr. Die Tradition solle im Vordergrund stehen, nicht der Alkohol. Schön und gut, aber Obstwein gibts da ja immer noch, oder? Verschwinden Sauftouristen einfach, wenn man sie für unerwünscht erklärt? Ich habe Zweifel. 

Bei meinen früheren Festausflügen hat mich und sicher auch viele andere Menschen das Heile-Welt-Image Werders weniger interessiert. Eher schon der Alkohol. Die Frage war nicht, ob jemand aus der Gruppe kotzen musste, sondern wann und wie viele. Schon mit Anfang zwanzig sagten wir uns jährlich: OK, das wird unser letztes Baumblütenfest, es ist einfach zu versoffen. Und dann kam das nächste Jahr und wir gingen wieder hin.

Baumblütenfest: Feiern, bis es es nicht mehr geht

Eine Detailaufnahme von einer Plastikflasche mit gelbem Wein.

Badreiniger oder Mangowein?

Bereits die Anreise war immer ein Kampf. Am Berliner Bahnhof Zoo waberte der süßliche Geruch von Energydrinks schon auf den Stufen zum Gleis Drei in meine Nase. Dort blickte ich auf ein Meer aus 18-Jährigen, die Vodka-Freeway aus 1,5-Liter-Flaschen tranken und Schlager grölten, die ich zum Glück nicht kannte. Das Knutschen und Schubsen wurde nur unterbrochen, um sich in die Regionalbahn zu quetschen. Dort nüchterten alle bis Werder ein bisschen aus, weil man wegen der Enge die Getränke schlecht zum Mund führen konnte. In jedem Wagen gab es einen Tobias, der dachte Abteilanführer zu sein. Er brüllte herum, schlug an die Decke des Zugs und bewarf andere Fahrgäste mit Kronkorken. Alle hassten diese Tobiasse und sagten nur nichts, um nicht verdroschen zu werden. 

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In Werder sah ich jedes Jahr vor dem Bahnhof links die Polizei und rechts einen Bürgersteig mit Sichübergebenden. Dazwischen: Glückliche Familien hinter langen Malertischen, die bunte Obstweine in Plastikflaschen an die grölende Meute verkauften, eingebettet in eine verträumte Dorflandschaft direkt am Wasser. Ein Liter vier Euro. Das konnten sich alle leisten und taten es auch. Wir begannen mit Erdbeerwein, probierten danach Heidelbeere, Kirsch und Brombeere. Im Laufe des Tages wurden die Geschmacksrichtungen verbotener: Am Abend verkosteten wir Mangowein und "Tropicalwein". Der letzte Schluck versetzte auch die Stärksten von uns ins Nebeldelirium. 

Ein Mann in einer roten Jacke pinkelt in einem Vorgarten.

Pinkeln unter Baumblüten ist das schönste Pinkeln

Wir waren eh schon die allerbesten Freunde, aber der Wein verband uns für immer. Alkohol – der Brandbeschleuniger für Feuer und Freundschaften. Er machte, dass die wildesten Dinge passierten: Katja und Matze wurden ein Paar, nachdem sie sich auf dem Kettenkarussell ihre Liebe gestanden hatten. Es folgte eine katastrophale Beziehung, aber das Zusammenkommen war süß. Ein Bekannter trennte sich bei einer Baumblüte drei Mal von seiner Freundin, die jedes Mal weinte, woraufhin er sie aus Mitleid zurücknahm. Schließlich verließen die beiden glücklich wiedervereint das Fest. Ein ehemaliger Klassenkamerad aß bei einer Baumblüte acht Bratwürste, drei davon ohne Brötchen. Katja und ich fanden einen riesigen Haufen Knochen und versuchten den Fall zu lösen, scheiterten jedoch. Mia steckte Norbert, der betrunken war und sich nicht wehren konnte in eine Mülltonne und Bela fragte den Grillmann, ob er auch Fickschnitzel verkaufen würde. Alles war perfekt.

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Und dann gingen wir wirklich nicht mehr hin.
Zu assig, zu peinlich und sowieso: Lass doch Techno feiern gehen. 

Die Jahre zogen ins Land. Heute arbeite ich wie eine Erwachsene, meine Eltern geben mir kein Geld mehr und ich wohne sogar in einer eigenen Mietwohnung. Die renoviert ist. Ohne Wasserschaden. Trinken besser nur noch freitags, weil Montag wieder Arbeit. Die Baumblüte begraben irgendwo in meiner Vergangenheit. Schön wars, aber die Zeiten sind wirklich vorbei. 

Und dann lese ich knapp fünf Jahre nach meinem letzten Baumblütenfest vom neuen Konzept, von "Tradition statt Trinkgelage." Bitte was? Es gibt doch schon eine Tradition, ob man sie gut findet oder nicht: Saufen, Nackensteak essen und sich prügeln.

Kann dieser Plan aufgehen, wird das Baumblütenfest seinen bildungsfernen Zauber verlieren? Und ist das gut so? Meine Neugierde darauf und auf Obstwein aus Plastikflaschen lässt mir keine Wahl: Am letzten Aprilwochenende und auf den Tag genau fünf Jahre nach meinem letzten Besuch, mache ich mich wieder auf den Weg nach Werder.

Nostalgie in Plastikflaschen – zurück beim Baumblütenfest

Der Fotograf Philipp Sipos und ich lassen uns in der Regio beide auf Sitzplätzen nieder, kein Tobias brüllt uns an. "Wahrscheinlich sind die Chaoten schon alle vor Ort", sage ich entschuldigend. Ich hatte apokalyptische Zustände versprochen. Am Bahnhof zählt die Polizei mit einem Klickgerät alle Ankommenden. Ich erkenne auch so: Hier sind weniger Menschen als sonst. Niemand übergibt sich. Nur ein einziger Mann pinkelt vor den Bahnhof. Das einzig Skandalöse ist, dass eine Flasche Wein mittlerweile zehn Euro kostet. Zu Recherchezwecken kaufen wir jeweils einen Liter. Ich entscheide mich traditionell für Erdbeerwein, Philipp probiert Johannisbeerwein, weil der so schön sauer sein soll. 

Ein Obststand mit vielen Plastikflaschen, in denen bunte Weine sind.

Ein Obststand mit Umdrehungen

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Der Wein schmeckt herrlich süß nach Anfang zwanzig. Wir schlendern durch Werder und manchmal seufze ich nostalgisch. Die Flaschen sind so voll, dass sie bei jedem Schritt ein wenig überschwappen. Nach zwanzig Metern kleben unsere Hände und wir trinken ein paar Schlücke ab, um das Problem nicht zu verschlimmern.

Einige Besucher des Baumblütenfestes die Hauptstraße zum früheren Festgelände entlang.

Früher war diese Straße voller feiernder Menschen

"Merkst du schon was?", fragt Philipp.

"Irgendwie schon, du auch?", antworte ich.

"Ja voll, habe heute aber auch wenig gegessen."

Vor einem der unzähligen Kirschbäume treffe ich Matthias und Vincent. Sie sind beide 33 Jahre alt und fallen mir auf, weil sie beide Mützen tragen, die aussehen wie Kuscheltierkühe. Das reicht mir schon, um sie anzusprechen. Ob sich das Fest ihrer Meinung nach sehr verändert hat? Matthias sagt, er könne meine Frage nicht beantworten, weil er sich generell nicht an Baumblütenfeste erinnern kann – "Wegen Saufen." Plötzlich unterbricht er das Gespräch: "Moment, der schnelle Sonic ruft an. Da muss ich rangehen." Auf seinem Handydisplay steht: "der Scxnelle sonic". Wir verabschieden uns.

Zwei Männer unter einem blühenden Kirschbaum.

Vincent (l.) und Matthias, der diese Mützen seinem Kind mitbringt

Wir schlendern weiter, als plötzlich neben uns ein etwa 70-Jähriger umfällt. Er landet sicher im weichen Gras und seine Freunde helfen ihm wieder auf die Beine. Sein dreckiges Alte-Männer-Lachen zeigt, dass es ihm gut geht. Trotzdem bleiben wir erschrocken stehen und schämen uns heimlich ein bisschen für ihn. Früher hätte ihm einer meiner Freunde vielleicht anerkennend auf die Schulter geklopft, aber jetzt gucke ich schnell weg und gehe weiter.

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So langsam schepperts auch bei mir und das ist wohl auch ein Grund dafür, dass ich mir für zehn Euro einen Luftballon kaufe, der ein Schweinsgesicht aus der Kinderserie Peppa Wutz zeigt. Ich wickele ihn mir an einer Schnur ums Handgelenk und kämpfe ab diesem Zeitpunkt mit dem Wind, der das Schwein meinen Interviewpartnern immer wieder mitten ins Gesicht dozt. 

Links: Eine Frau mit orangenen Haaren und einem blauen Pullover. Rechts: Der Schweineballon.

Die Luftballonverkäuferin Shelly macht normalerweise eine Ausbildung zur Hotelfachfrau

Meine nächste Begegnung heißt wie ich: Alex. Er sagt, dass er 34 Jahre alt sei und heute zum 40. Mal das Baumblütenfest besuche. Sein Beruf sei Mathegenie. Als ich mein Handy zücke, um unser Gespräch aufzunehmen, legt er seine Stirn konzentriert in Falten. Ich lerne nun den professionellen Alex kennen: "Ich muss ganz klar sagen, dass der Unterhaltungswert des Baumblütenfestes aufgrund der Neuerungen eine Einbuße von fünfzig Prozent erleiden musste. Ich beobachte weniger Verkaufsstände, weniger Klohäuschen und ja, auch weniger Menschen. Sicherlich: Die Baumblüten erfreuen mich auch dieses Jahr, weil sie so prächtig aussehen. Aber dass der Zugang zur Bühne nun 30 Euro Eintritt kostet … Diese Entscheidung begrüße ich nicht und lehne sie an dieser Stelle offiziell ab. Dieser Preis spaltet die Besucherschaft in zwei Lager."

Rainer hält eine Weinflasche. Alex grinst in die Kamera.

Rainer, 35 (l.) und Alex, 34: “Ich habe so vier Liter getankt.”

30 Euro, um zur Bühne zu kommen? Ich bin ernüchtert und das hat nichts mit meinem Pegel zu tun. Wo sollen die Leute denn zu zweitausendst "Disco Pogo" grölen, (das dort erstaunlicherweise immer noch läuft)? Das will ich mir ansehen. Zum Abschied sagt Alex, dass wir so weitermachen sollen. 

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Die Autorin steht in der Menge, hält eine Flasche Wein und zeigt ihren Ballon.

So sieht Glück aus

Als Pressevertreter kommen wir kostenlos in den Bühnenbereich, erklärt eine Frau vom Organisationsteam, aber nur ohne Weinflaschen. Ein kurzer Blick genügt und Philipp und ich leeren synchron unsere Flaschen, in denen bestimmt noch ein Viertel Liter Wein herumschwappt. Die Organisationsfrau sieht uns mit offenem Mund an. Möchte sie auch kosten? Nein, sie findet uns cool und frech, glaube ich.

Links: Die Autorin telefoniert mit einem Weinglas. Rechts: Ein Baum mit Lametta.

Hallo? Guten Tag? Ich höre Sie so schlecht. Oh, das ist ein Glas

Sie lotst uns an der Schlange vorbei hoch auf einen Berg – einen Partyberg für die Rich People, die 30 Euro Eintritt gezahlt haben. Die Stimmung ist ausgelassen, alle freuen sich richtig doll. 18-Jährige knutschen unter Baumblüten und manchmal schießt aus einer Kanone Konfetti. Aus anderen sogar Feuer. Irgendein DJ legt irgendwas auf und wie früher kann ich zum Glück nicht mitsingen. Alle hier sind betrunken, aber nicht eklig. Hier trinkt man nämlich nicht aus Ein-Liter-Plastikflaschen, sondern aus Nullkommazwei-Liter-Weingläsern. Ich schnaube verächtlich und ordere selbst ein Gläschen Kirschwein. 

Ein DJ kehrt uns den Rücken zu und vor ihm feiert die Meute.

Deutsche Coachella

Vielleicht arrangiere ich mich in diesem Moment mit diesem Kompromissbaumblütenfest. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich trotz des neuen Konzepts einen tollen Tag. Mir hat der Exzess gefehlt, aber war die Assigkeit nicht genau das, was mich immer so gestört hat? Bin ich einfach prinzipiell gegen Veränderung? Ich war schon vor fünf Jahren kein Fan von Alkoholvergiftungen. Prügeln wollte ich mich auch da schon nicht. Trotzdem fand ich das Rabaukenbaumblütenfest eine Zeit lang wirklich toll. Weil ich nicht wusste, was passieren würde und weil ich am nächsten Tag kopfschmerzlos aufwachte, glaube ich. Heute weiß ich ziemlich sicher, was bei einer Party passieren wird, nämlich ungefähr das gleiche wie immer. Was nett ist! Aber auch weniger aufregend. Und wenn ich von einer Party nach Hause komme, hat mein Vergangenheits-Ich schon eine Flasche Wasser, Elotrans und eine Kopfschmerztablette für mich auf den Nachttisch gelegt, weil der Kater am nächsten Morgen eben doch kommen wird.

Ein Käsewagen auf einem Bürgersteig in der Nacht

Hochkultur!

Vielleicht haben diejenigen unter uns, die immer mal wieder Alkohol trinken, das mit Ende Zwanzig einfach schon so oft gemacht, dass man zurückliegende Besäufnisse romantisieren muss, um weiter positiv über Alkohol sprechen zu können. 

Ich beschließe, so nicht zu sein. 

Tatsächlich kamen dieses Jahr 100.000 Besucher weniger als noch 2019 und auch die Straftaten gingen zurück: von 500 auf 100. Das Baumblütenfest wird weniger besucht, aber Obstwein gibt es immer noch. Viel weniger Menschen übergeben sich und das ist auch gut so. Ich habe in zehn Stunden nur eine Person umkippen sehen und selbst die hat darüber gelacht. Für mich waren Sauffeste früher toll und sind es heute noch. Nur sind sie vielleicht einfach nicht für immer super aufregend. Es sei denn, man ist der andere Alex und ein Mathegenie, dann reichen auch 39 Besuche nicht.

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