Wie 'Berliner Zeitung' und 'Kurier' mit identischen Artikeln zwei völlig verschiedene Berlins zeigen
Die Berliner Zeitung und der Berliner Kurier vom 4. Mai 2018 || Foto: VICE

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Journalismus

Wie 'Berliner Zeitung' und 'Kurier' mit identischen Artikeln zwei völlig verschiedene Berlins zeigen

Beim Berliner Verlag gab es harte Einschnitte. Seitdem nehmen dessen Titel es bei den Überschriften nicht immer so genau mit der Wahrheit.

Die Achtung vor der Wahrheit ist eines der obersten Gebote der Presse. So steht es im Pressekodex. Nur was genau die Wahrheit ist, lässt sich nicht immer ganz einfach definieren.

Statistiken können sich widersprechen, Augenzeugen erzählen verschiedene Versionen ein und desselben Ereignisses, und dann gibt es ja noch die subjektive Wahrnehmung der Journalisten: Der eine hält diese Fakten und Zusammenhänge für besonders wichtig, der andere jene.

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Um sich ausgewogen informieren zu können, steht den Menschen in Deutschland deshalb eine Vielzahl von Medien zur Verfügung, etwa die Berliner Zeitung und der Berliner Kurier. Nur dass diese beiden ungefähr so verschieden sind wie eineiige Zwillinge, von denen man eins ins Hertha- und das andere ins Union-Trikot gesteckt hat: Denn bisweilen veröffentlichen die beiden Zeitungen identische Artikel – und drucken lediglich unterschiedliche Aufmacher-Fotos und Überschriften darüber. Auf den ersten Blick können sich die Aussagen der Artikel dadurch drastisch voneinander unterscheiden.

Ohne "Drogensumpf" und "Kotti-Killer" geht es scheinbar nicht

So berichtete die Berliner Zeitung in dieser Woche über eine Aufklärungskampagne zu Drogen, die die Berliner Gesundheitsverwaltung in Auftrag geben möchte. Der betont nüchterne Tenor des Artikels steckt schon in der Überschrift: "Drogen in Clubs: 'Ein erhobener Zeigefinger hilft wenig''". Die Überschrift des Berliner Kuriers zum selben Thema dagegen scheint mit eben diesem erhobenen Zeigefinger getippt worden zu sein: "Nach Todesfall: Was der Senat gegen den Drogen-Sumpf in den Clubs tut". Das Aufmacherbild einer nächtlichen Berliner Straßenszene tauschte die Redaktion mit einem Foto des bekannteren Berghains. Ansonsten ist der Artikel unter den beiden Überschriften identisch. Kein Wunder, er stammt ja beide Male von derselben Autorin: Silvia Perdoni.


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In den Archiven der beiden Zeitungen finden sich gleich mehrerer solcher Beispiele. Die "linke Spaßguerilla" aus der Berliner Zeitung, die am 1. Mai in Grunewald "demonstrieren" will, macht der Kurier zu "Chaoten", die "mit Krawallen drohen" – wie der Journalist Martin Kroeger auf Twitter anmerkte. Wenn die Berliner Zeitung titelt "Friedrichshainer Partybahnhof: Wie die Warschauer Straße sicherer werden soll", macht der Kurier daraus : "Die Bahn schickt jetzt ihre ganz harten Jungs" an den "Brennpunkt Warschauer". Und was der Berliner Zeitung ein gewöhnlicher "Angeklagter" ist, ist dem Kurier der "Kotti-Killer".

Die Berliner Zeitung ist eine seriöse Tageszeitung. Der Berliner Kurier ist ein Boulevardblatt, das Zeitungsmachen auch als Unterhaltung versteht. Wo die einen versuchen, sich gegen den Tagesspiegel und die Berliner Morgenpost zu behaupten, kämpfen die anderen mit Bild und B.Z. um die schockierendste Schlagzeile des Tages – zur Not auch mit Artikeln, die eigentlich für ein anderes Publikum geschrieben wurden.

Harte Sparmaßnahmen sind der Auslöser

Der 'Kurier' und die 'Zeitung' nebeneinander: Links heißt der Artikel

Die Aufmachungen identischer Artikel können im Ton auch sehr ähnlich sein, wie in dieser Gegenüberstellung der Berliner Zeitung und des Berliner Kurier vom Freitag

Dass die beiden Zeitungen überhaupt mit denselben Autoren und Artikeln arbeiten, liegt daran, dass beide zum Berliner Verlag gehören – und dass dieser sparen muss. Seit zwei Jahren wird deshalb "aus einer Hand" produziert, wie die dpa schreibt. 2016 hatte die DuMont Mediengruppe, zu der der Verlag gehört, dafür eine neue Gesellschaft gegründet. Die Berliner Newsroom GmbH sollte von nun an täglich jeweils eine Berliner Zeitung und eine Berliner Kurier an den Kiosk und ins Netz bringen. Die Redakteure beider Zeitungen sollten sich zunächst bei der neuen Firma bewerben. Alte Mitarbeiter, diese Vermutung liegt zumindest nahe, sollten entweder durch neue, günstigere ersetzt werden oder mit neuen Verträgen für weniger Geld weiterarbeiten. Rund 50 Stellen sollten komplett gestrichen werden, gab der Verlag damals bekannt. Vor einem Jahr kündigte DuMont dann aber gleich mehr als der Hälfte der damaligen Mitarbeiter. Bis heute ist unklar, ob das rechtlich zulässig war.

Die Einschnitte haben einen ernsten wirtschaftlichen Hintergrund. Die verkaufte Auflage der Berliner Zeitung ist in den vergangenen 20 Jahren um mehr als die Hälfte gesunken: Statt 216.603 Exemplaren setzt der Verlag laut dem Marktanalysten IVW heute nur noch 97.285 ab. Noch schlimmer traf es den Kurier: Einst 191.922 verkauften Zeitungen 1998 steht heute eine Auflage von gerade mal gut 73.200 gegenüber – E-Paper bereits mitgerechnet. Ob Spar-Methoden wie die gegenseitige Zweitverwertung von Artikeln, zumindest in dieser Form, die Zeitungen attraktiver für Leser machen?

Fragwürdig sind sie ohnehin. Denn wer Berlin für ein Moloch linksversiffter Feierdruffies hält, kann einen Euro in einen Kurier investieren und erhält dafür die zur eigenen Gesinnung passenden Überschriften. Wer die Stadt für den kulturellen Nabel eines liberalen Deutschlands hält, zahlt halt 60 Cent mehr und bekommt mit Berliner Zeitung ein "Qualitätsblatt". Mindestens einer von beiden müsste sich am Ende verarscht vorkommen, wenn er zufällig auch noch im Café oder der U-Bahn durch das vermeintliche Konkurrenzprodukt blättert.

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