Die Stadtmenschen, die derzeit von unzähligen Zürcher Plakatflächen auf uns herabstrahlen, sind hip, weiss und glücklich. Sie sind angetreten, um die zum Inbegriff der Zürcher Gentrifizierung verkommene Europaallee in ein gutes Licht zu rücken—mit einem Zahnpastalächeln, das wohl auch im Dunkeln leuchtet. Gemäss der Werbeagentur Hochspannung, welche die Kampagne umgesetzt hat, stehen die Menschen "für die enorme Vielfalt des neusten Zürcher Stadt-Quartiers". Ihr Claim: Ein Quartier voll Zürich. In dem wohlgemerkt die günstigste noch erhältliche 3.5-Zimmer-Wohnung 4.700 Franken pro Monat kostet. Die Kampagne versucht die Europaalle zu beleben, indem sie eine Parallele zu anderen Quartieren zieht: "Fast wie auf der Josefswiese, fast wie im Uni-Viertel, fast wie überall in der Stadt."
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Aber eben nur fast. Denn ausserhalb der Ladenöffnungszeiten herrscht in den bereits fertiggestellten Blöcken der Europaallee eine sterile, gähnende Leere—mitten im Herzen von Zürich. Bereits 2013 bilanzierte die Süddeutsche Zeitung, Zürich baue eine Innenstadt für Topverdiener. Im Schmähartikel kritisierte ETH-Architekturprofessor Hubert Klumpner etwa, die Europaallee sei der neoliberale Endpunkt einer Stadtentwicklung, die nur auf Gewinnmaximierung ausgelegt sei.Die Leier ist in allen europäischen Städten dieselbe: Ein Quartier wird durch eine gewinnorientierte Stadtplanung "aufgewertet", die Bewohner durch steigende Mietzinsen von Besserverdienenden verdrängt, die weder die Zeit noch die Inspiration haben, am Leben im Quartier teilzunehmen.Hat die Marketing-Abteilung wohl vergessen Bescheid zu sagen dass Skater cool sind — Philipp Kotsopoulos (@philko04)27. Mai 2016
Kreatives Angebot ausserhalb der Ladenöffnungszeiten
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Seit drei Jahren hauchen rund 150 Besetzer dem Quartier mit diversen Ausstellungen, Kursen, Sportangeboten und Musikveranstaltungen kreatives Leben ein. Anders als in der Europaallee ist dieses Kulturangebot auf dem Koch-Areal auch ausserhalb der Ladenöffnungszeiten erhältlich.Neue städtische Volksinitiative mitlanciert: Wir wollen, dass Stadt das — Dominique Zygmont (@d_zygmont)26. Oktober 2016
Verhältnis zu den Nachbarn verschlechterte sich
Die Anwohner waren der Besetzung nach eigenen Angaben anfangs noch gut gesinnt. "Der Kontakt mit den Besetzern war angenehm", wie einem Erfahrungsbericht auf dem Blog der Anwohner zu entnehmen ist. So seien die Nachbarn im Vorfeld von Veranstaltungen informiert und eingeladen worden. Nach und nach verschlechterte sich jedoch das Verhältnis zwischen den Besetzern und den Anwohner und bei der Polizei häuften sich die Lärmklagen von frustrierten Nachbarn.Wie eine Anwohnerin in einem öffentlichen Erlebnisbericht selbst schildert, hätten die Veranstaltungen die Lärmpegelgrenzwerte manchmal gar nicht überschritten, weswegen die Fachstelle für Lärmbekämpfung der Stadtpolizei Zürich oft nicht einschreiten konnte. Obwohl die Koch-Besetzer in ihren Veranstaltungsräumen diverse Schallschutzmassnahmen vorgenommen haben, stiegen die Lärmklagen dieses Jahr auf 171 Einzelklagen. Mathias Ninck, Sprecher des Sicherheitsdepartementes der Stadt Zürich, erklärte gegenüber der Schweiz am Sonntag jedoch, dass fast alle der 171 Lärmklagen "von den gleichen vier bis fünf Personen" stammten. Über eine Party am Wochenende hätten sich die gleichen Anwohner gleich mehrmals beschwert.Nichtsdestotrotz führte die Beschwerdeflut der Anwohner vor gut einem Monat zu einer regelrechten Lawine öffentlicher Entrüstung über die Besetzung auf dem Koch-Areal. Auslöser war der Artikel "Koch-Areal: Es reicht" des Tages-Anzeiger-Polizeireporters Stefan Hohler, der zusammen mit seinem Kollegen Marius Huber ein stärkeres Durchgreifen seitens der Stadtregierung forderte. Artikel mit Titeln wie "Unhaltbare Zustände" und "Zürcher Koch-Areal räumen wie damals den Platzspitz" folgten vom vermeintlich links-liberalen Tages-Anzeiger. Zudem kritisierte—wohl zur Überraschung aller Beteiligter—der Stadtblogger und Alt-Wohlgroth-Besetzer Réda El Arbi in einem offenen Brief an die Besetzer weniger deren Lärmemissionen, als den Hundekot rund ums Areal und den mangelnden Grundrespekt der Besetzer im Umgang mit Mitmenschen: "So schön einzelne eurer sozialen Projekte auch sind, so stark verlieren sie an Glaubwürdigkeit, wenn ihr euch eurem direkten Umfeld gegenüber wie asoziale Egoisten verhaltet."
171 Klagen von einer Handvoll Klägern
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Etwas vorhersehbarer titelte die bürgerliche NZZ: "Stadtrat übt sich im Aussitzen", "Wie viel Verständnis für Hausbesetzer?" und "Das Koch-Areal ist ein Auslaufmodell". Allen Artikeln gemeinsam ist der einseitige Fokus auf das Lärmempfinden der Nachbarn. Der gesellschaftliche und kulturelle Wert eines autonomen Freiraums wird dabei hinterfragt oder sogar negiert.Die Besetzer konterten die tendenziöse Berichterstattung in gewohnt gewitzter Manier mit einem online Artikel-Generator für Journalisten und Polizeireporter. Nach dem Baukastenprinzip ordnet dieser zufällig verschiedene Textbausteine an, welche die Besetzer plakativ kritisieren. Der digitale Seitenhieb gegen die hochgekochte Berichterstattung wurde zudem mit einem "Viel Lärm um nichts"-Plakat an der Fassade des besetzten Hauses ergänzt. Eine Anspielung auf die Herkunft der Lärmklagen.
Hochgekochte Berichterstattung
Die Besetzer hielten deshalb auf ihrer Homepage fest: "Aus den Lärmklagen einer Handvoll Anwohner*innen wird das Bild eines terrorisierten Quartiers konstruiert (…) und rechte Politiker*innen ergreifen genüsslich die Möglichkeit, die gewaltsame Schliessung autonomer Räume zu fordern." Die SP-Politikerin Min Li Marti vermutete in der linken Zürcher Zeitung P.S. den Freisinn als "treibende Kraft hinter der ganzen Aufregung rund ums Koch-Areal." Die gestern lancierte FDP-Initiative zum Verkauf des Koch-Areals an einen privaten Investor ist ein Indiz dafür, dass sie damit richtig liegen könnte.
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Stadtregierung reagiert mit Vier-Punkte-Plan
Lage hat sich beruhigt
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