In einer Zeit, als Pädagogen im Westen Deutschlands noch über Vereinsamung vor dem Bildschirm schwadronierten, waren Computerspiele in der DDR öffentlich erwünscht.
In den 1980er Jahren sollten Games Kinder an die Technologie heranführen und die DDR als fortschrittliches Land zeigen. Nerds standen auf den Schulhöfen des Westens abseits. Auf denen des Ostens auch—aber der Staat rechnete mit ihnen. Sie passten zur Logik des DDR-Bildungssystems mit seiner Erziehung zum sozialistischen Fortschrittsglauben.
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Mathe, Naturwissenschaften und „polytechnischer Unterricht” waren in den swojetischen Bruderstaaten wichtiger als im Westen. Sie nahmen schon seit den 70ern je nach Schulform und Klassenstufe 40 bis 55 Prozent des Stundenplans ein. Noch heute schwärmen Informatiker des Ostens unisono vom Bildungsniveau der damaligen Zeit.
Games passten in diese Logik. Was für Politiker des Westens nach Zeitverschwendung aussah, erkannte man in der DDR als Türöffner. „Computerspiele sollten dabei helfen, Vorreiter in der Mikroelektronik zu werden”, erklärt Karla Höß. Sie weiß das, weil sie zu einer der merkwürdigsten Blüten jener Zeit geforscht hat: Der völlig zurecht gefloppten Spielkonsole BSS 01. „BSS” stand für „Bildschirmspiel”, „01″ für die nie erfüllte Hoffnung eines besseren Nachfolgemodells. Für Nerds war das natürlich Kinderkram.
Die Computer-Pioniere der Frühzeit wollten kein Pong-Plagiat spielen, sondern mit richtigen Computern arbeiten. Das war schwierig. Wer etwa Mitte der Achtziger Jahre den Mikrorechnerbausatz Z1013 kaufen wollte, der musste das teure Teil schriftlich bestellen und gut und gerne ein Jahr warten. Dafür bekam man dann eine Platine und eine legendär schlechte „Folientastatur.”
Diesen Computer musste man nicht erst auspacken, um ihn zu modifizieren, man musste ihn erst einmal einpacken. Deshalb war diese Form der Computertechnik auch seit der Geburt verdammt, um in einer Nische zu bleiben. Sie boten auch keine Unterhaltung für normal begabte Menschen. Wer spielen wollte, der programmierte sich seine Spiele in aller Regel erst einmal selbst.
DDR-Computer waren erstaunlich populär—in ihrer Nische. Richtig ausbrechen konnte nur einer: Der Arcade-Automat Polyplay, von dem die VEB Polytechnik Karl-Marx-Stadt immerhin geschätzte 2000 Stück herstellte. Der Automat stand in Jugendzentren und Ferienheimen herum.
Ich durfte meinen Erstkontakt 2007 in einer DDR-Nostalgiekneipe erleben. Aus den acht installierten Spielen wählte ich das mit dem schönsten Namen: „Wasserrohrbruch.”
Jahrzehnte bevor die internationale Indiespieleszene die Faszination des Banalen mit dem Verkaufssimulator „Cart Life” und dem Zollspiel „Papers, Please” entdeckte, verhinderten Menschen in der DDR das virtuelle Volllaufen eines Kellers.
Eine Spielfigur stürzt mit Eimer in der Hand hin und her, während das Wasser heruntertropft. Die Figur bleibt ihrer Aufgabe treu. Sie verlässt den überschwemmten Keller unter keinen Umständen.
Der Joystick („Spielhebel”) des Automaten war ausgeleiert, das Bier billig, und so ertrank ich schnell. Ich war beeindruckt – zur selben Zeit hatte es im Westen bessere Spielautomaten gegeben, aber das hier konnte man durchaus spielen. Menschen standen vor dem Polyplay Schlange.
Das Spielen war auch für Nerds eine der wichtigsten Beschäftigungen, egal wie schlecht die Hardware dafür geeignet schien. Der Lerncomputer LC80 hatte immerhin eine Art Gehäuse, die offene Leiterplatte steckte in einer zeitlos schönen Kunstledermappe. Aber als Display diente eine Taschenrechneranzeige mit sechs Ziffern. Was sollte man darauf spielen? „So Logikspiele. Also abwechselnd Streichhölzer wegnehmen, zum Beispiel”, sagt Alexander Lorz trocken.
Aber der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. „Wir hatten dieses chinesische Ringespiel. Du hattest einen Griff mit einer Metallschlaufe und unten einen Blechstreifen mit beweglichen Metallteilen und du musstest die Ringe von der Schlaufe ein- und ausfädeln. Um einen bestimmten Ring abzunehmen, mussten aber bestimmte Ringe noch drauf sein. Das war ein typisches Beispiel für ein Problem, dass man mathematisch durch Rekursion lösen kann.” Das Training hat offenbar geholfen. Lorz ist Diplom-Informatiker, arbeitet an der TU Dresden und ist im Chaos Computer Club engagiert.
Mir fällt auf, dass alle Zeitzeugen, die ich für diese Geschichte spreche, auch heute mit Computern arbeiten. Das Bastlertum war erwünscht und wurde gefördert, offenbar mit Erfolg. Die „Gesellschaft für Sport und Technik” bot „Computersport” als organisierte Freizeitaktivität an. Unter „Sport” verstand man dabei Programmieren oder Bugfixing auf Zeitdruck. Aber die Nerds kamen auch zusammen, um gemeinsam Computer zu bauen und zu modifizieren—doch die organisierte Vorbereitung auf die internationale Vorherrschaft in der Mikroelektronik war heiß begehrt. Nicht jeder kam rein.
Der Mangel an sinnvoller Computertechnik war es vielleicht, der den Hass auf den BSS 01 erklären kann. Karla Höß hat zusammen mit Emily Völker und Bengt Jöran Eitel die Geschichte der Konsole erforscht. Sie sind dabei auf echtes Unverständnis gestoßen. Beteiligte an der Produktion der Konsole verstehen mitunter auch heute nicht, warum jemand das BSS spannend finden könnte. „Eigentlich waren die selbst nicht daran interessiert. Und ihnen war von vornherein klar, dass sich das nicht lohnt.”
Das Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) hatte sich seine Expertise anderswo aufgebaut. Das Herz des Produktionsleiters schlug eher für Radiowecker. Die Arbeit am BSS 01 ging dagegen an der Fachkenntnis des Werkes vorbei. „Das war keine Eigenentwicklung. Da tauchte oft die Frage auf, warum machen wir das eigentlich?” Das Werk konnte Mikrochips selber herstellen, musste für die DDR-Konsole aber „nur Plastikgehäuse zusammenschrauben”.
Der Schaltkreis dagegen wurde fertig aus den USA eingekauft. Schließlich erschien die Konsole zum Mondpreis, 550 Ostmark waren locker ein halber Monatslohn für eine Kiste, die nur vier Varianten desselben Spiels kannte. Das Halbleiterwerk musste einen Lageraum anmieten und Leute abstellen, um die unverkauften Lagerbestände der Konsole zu hüten.
Die Computerfachleute wurden also im Sinne der DDR-Ideologie instrumentalisiert und lagen letztlich ganz auf Linie—dennoch blieben sie Individualisten. Eine politische Bedeutung bekam ihr Hobby erst nach der Wende. Ohne Netzwerktechnik war etwa Datenschutz kein relevantes Thema. Und heute vertritt man schon eine politische Position, wenn man ein Gerät nur aufschrauben will. Alexander etwa ist erst vor vier Jahren beim CCC gelandet.
Er „kommt mit der Wegwerfkultur nicht mehr klar”, sagt er. Das ist allerdings weniger ein DDR-Thema, sondern es verbindet eher alle Nerds ab einem gewissen Alter. Das man die Kiste aufmacht und modifiziert, war in den Achtziger Jahren auch in Westdeutschland und anderswo noch verbreitet.