Schon lange bevor sie depressiv wurde, hat sich Judith “den ganzen depressiven Kram” reingezogen. Die Bücher in der Berliner Wohnung der 23-Jährigen sind nach Farben sortiert: Französische Lyrik steht neben Sylvia Plath und Virginia Woolf. Einer ihrer Lieblingsfilme: Virgin Suicides von Sofia Coppola. Ihre Verehrung für die US-Schriftstellerin Plath geht sogar so weit, dass sie sich eine Zeile aus “Mad Girl’s Love Song” hat tätowieren lassen: “I think I made you up inside my head” steht auf ihrem Unterarm. “Melancholie”, sagt Judith, “ist etwas, womit ich mein Leben lang kokettiert habe.” Früher habe sie das immer als produktive Phasen empfunden, die sie nutzte, um zu schreiben oder zu malen. Aber vor eineinhalb Jahren hörte sie auf, kreativ zu sein.
“Ich wurde kalt, emotionsarm und niedergeschlagen”, sagt sie. Judith wurde depressiv. Das ging ganz langsam und wurde immer schlimmer. Irgendwann war es soweit, dass sie sich gar nicht mehr bewegte. “Angesichts meines Literaturgeschmacks”, sagt sie, “sollte man denken, ich hätte die Anzeichen erkennen müssen.” Das tat sie aber nicht. Es dauerte Wochen, bis sie sich Hilfe holte, und Monate, bis eine Diagnose feststand.
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Laut Schätzungen der WHO sind über vier Millionen Menschen in Deutschland depressiv – jeder 20. leidet also an der Krankheit. Judith sagt: “Ich lerne langsam, damit umzugehen.” Sie studiert wieder digitale Medienkultur, sie führt eine Beziehung und nimmt jeden Morgen und jeden Abend Antidepressiva. Wir haben Fragen.
VICE: Stellst du dich nicht auch ein bisschen an?
Judith: Nein, echt nicht. Ich kann mich auch nicht einfach zusammenreißen. Genauso wenig könnte ich “mal mehr rausgehen” oder “mal mehr Sport machen”, um die Depression loszuwerden. Zum Glück muss ich mir solche Vorschläge nicht so häufig anhören. Mein Umfeld weiß, dass Depressionen eine Krankheit sind und keine Form ganz schlechter Laune. Es gibt aber genug Menschen, die denken, Depression sei vergleichbar mit Melancholie oder Traurigkeit.
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Dabei ist es das Gegenteil: die völlige Abwesenheit von Emotion. Ein lähmender Zustand. Wenn man depressiv ist, kann man einen Menschen, den man liebt, umarmen und es fühlt sich an, als würde man einen Steinklotz berühren. Man ist zu keiner Gemütsregung mehr in der Lage, außer vielleicht zu Angst. Das ist nichts, was man sich aussucht.
Was war die längste Zeitspanne, die du im Bett gelegen und nichts gemacht hast?
Vor eineinhalb Jahren habe ich das für zwei Wochen am Stück durchgezogen. Ich hatte noch keine Diagnose, aber ich wusste bereits, dass ich depressiv war. Ich bin ja nicht blöd. Ich bin nicht zur Uni gegangen oder zur Arbeit. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und lag nur noch rum. Nachts habe ich geschwitzt, als hätte jemand einen Eimer Wasser über mich gekippt. Ich bin in dieser Zeit verwahrlost, habe sogar aufgehört zu duschen. Irgendwann habe ich jeden Abend fünf Bier getrunken, weil ich gehofft habe, so einschlafen zu können. An manchen Tagen dachte ich sogar, ich hätte vergessen, wie man atmet.
Machen Antidepressiva aus dir einen anderen Menschen?
Nein, aber sie halten mir den Rücken frei. Sie geben mir Stabilität. Allerdings habe ich eine Weile gebraucht, um auf die richtigen Medikamente eingestellt zu werden. Ich musste viele Antidepressiva ausprobieren, bis ich die gefunden habe, die ich jetzt nehme. Eines davon ist ein Uralt-Mittel, das kaum noch verschrieben wird, mir aber hilft.
Nach dem Aufstehen nehme ich ein Amphetamin-Derivat. Das hilft mir, den Morgen zu bewältigen. Wenn man depressiv ist, findet man den ganz furchtbar. Da ist noch so viel Tag übrig, den man hinter sich bringen muss. Und abends nehme ich ein Mittel, das stark sedierend wirkt, damit ich schlafen kann. Das schlägt mir wie ein Hammer auf den Kopf.
Hast du Freunden mal was von deinen Medikamenten abgegeben?
Ich habe es ihnen mal scherzhaft angeboten, vor allem das Amphetamin-Zeug für den Morgen. Das knallt ganz schön. Aber keiner wollte es ausprobieren. Mit dem Zeug fühlst du dich wie auf einer Party, auf der du als einziger Speed genommen hast. Dein Herz rast, du bist völlig aufgedreht, kannst nicht stillsitzen. Zumindest am Anfang. Im Lauf der Zeit habe ich eine Toleranz dagegen aufgebaut.
Hast du noch Spaß an Sex?
Ich habe zwar noch Sex, aber es ist nicht mehr wie früher. Das gehört zu den gemeinen Nebenwirkungen der Antidepressiva. Ich habe viel von meiner Libido verloren. Das verändert den Alltag sehr, vor allem den meiner Beziehung. Ich führe eine polyamoröse Beziehung und habe früher viel gedatet. Auch jetzt noch kann ich mir eine monogame Beziehung gar nicht vorstellen. Aber der Antrieb ist ein anderer geworden. Wenn ich mit jemandem schlafe, dann, weil ich mir Nähe wünsche, oder weil ich es schön finde, aber kaum aus sexuellem Interesse.
Nerven dich andere Depressive?
Überhaupt nicht. Mit Ärzten oder mit Psychologen zu reden, ist toll. Aber trotzdem wird man diesen kindischen Zweifel nicht los: “Woher sollen die das wissen? Die hatten es ja nie.” Wenn man mit anderen Betroffenen redet, löst sich der Zweifel auf und man kann offen über die Krankheit diskutieren. Da darf man auch jammern, das ist für mich toll, weil ich im Alltag nicht so larmoyant sein möchte.
Wer ist schuld daran, dass du eine Depression hast?
Das hat mich am Anfang viel beschäftigt. Mir ging es so schlecht und ich konnte keinen Auslöser erkennen. Letztendlich gibt es immer ein ganzes Konglomerat aus Auslösern: die eigene Erwartungshaltung, die von anderen, genetische Ursachen. Ich glaube, dass es jeden treffen kann. Das Geflecht der Auslöser ist so verworren, dass es kaum möglich ist zu sagen, was Schuld an einer Depression ist. Wer daran Schuld ist, ist schon viel einfacher: niemand. Ich habe das Glück, dass ich das meiner Familie nie erklären musste. In meiner Verwandtschaft gibt es mehrere psychisch Kranke. Jeder in meiner Familie geht sehr bewusst mit dem Thema um.
Kannst du überhaupt glücklich sein?
Glück heißt für mich Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich meine Familie habe und gute Freunde. Das macht mich glücklich. Es geht mir auch nicht permanent schlecht. Es geht mal besser, mal schlechter und wenn es besser geht, habe ich auch an ganz banalen Dingen Spaß: ausgehen, tanzen, mich mit jemandem unterhalten.
Aber die Depression bleibt wie ein Grundrauschen. Sie beeinflusst mich bei allem, was ich tue, und ich kann sie für keinen einzigen Moment vergessen. Sie hat mein Selbstbewusstsein angegriffen. Deswegen spüre ich in lauter Alltagssituationen, dass ich nicht gut funktioniere. Schon im Supermarkt nach etwas zu fragen, ist für mich eine Herausforderung.
Bist du eine Belastung für deine Mitmenschen?
Gerade am Anfang war ich das. Vor allem für meinen Freund. Ich lag die ganze Zeit nur in der Ecke und habe geheult. Ich konnte nicht rausgehen, nichts unternehmen. Ich bin zu jemandem geworden, um den man sich kümmern musste. Mein Freund musste das alles aushalten. Er hat sich Sorgen gemacht, dass die Dinge noch schlimmer werden könnten, und sich vorgeworfen, mir nicht helfen zu können.
Tatsächlich hat mir die offizielle Diagnose sehr geholfen, selbstbewusster zu meiner Depression zu stehen. Natürlich brauche ich immer noch die Geduld meiner Mitmenschen, aber wenn ich mich seltsam benehme, liegt das nicht daran, dass ich ein unerträglicher Mensch bin, sondern es ist Symptom meiner Krankheit. Ich weiß, dass ich nicht selber schuld bin, wenn ich seltsam bin.
Hast du über Suizid nachgedacht?
Ja. Und als ich mit den Antidepressiva angefangen habe, wurden diese Gedanken stärker. Durch die Medikamente hatte ich auf einmal wesentlich mehr Energie, war aber am Anfang noch genauso niedergeschlagen wie vorher. In den Wochen zuvor hatte ich viel weniger Antrieb. Da ging es mir zu schlecht, um mich umbringen zu wollen.
Anfangs konnte ich diese Gedanken nicht so richtig artikulieren. Ich habe angefangen, mich selbst zu verletzen, indem ich mich mit Rasierklingen geschnitten habe. Mit der Zeit wurden die Suizidgedanken immer präsenter. Wie in einem Sog wurde ich wie besessen von diesem Selbsttötungs-Thema. Ich bin da reingestrudelt und habe immer mehr die Kontrolle verloren. Ich habe mich bis in die kleinsten Details damit beschäftigt, wie ein Suizid funktioniert.
Ich bin da wieder rausgekommen. Ganz mühsam, aber erfolgreich. Das habe ich durch meine Gesprächstherapie und die Medikamente geschafft, die dann irgendwann angeschlagen haben. Aber bis heute versuche ich, mich von diesem Thema fernzuhalten.
Notrufnummern für Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Notfallsituationen bieten Hilfe für Personen, die Unterstützung brauchen – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. In dieser Liste sind bundesweite Anlaufstellen für Menschen mit Depressionen aufgeführt.