Zuerst spürte Mo nur ein plötzliches Kribbeln in ihrer Hand. Am nächsten Morgen war bereits ihre gesamte linke Körperhälfte taub. Nach sechs Monate langen Untersuchungen im Krankenhaus stand die Ursache fest: Multiple Sklerose (MS). “Ich werde nie wieder tanzen können”, das war Mo’s erste Reaktion auf ihre Diagnose. “Ich konnte der Ärztin kaum zuhören, ich war überfordert und habe geweint”, sagt die Bochumerin über ihr Diagnose-Gespräch vor rund zehn Jahren. Damals war Mo Mitte 20 und hatte nur klischeehafte Vorstellungen über die Autoimmunerkrankung: Schmerzen, Rollstuhl, Pflegebedürftigkeit.
Multiple Sklerose ist eine chronische neurologische Krankheit, bei der das Immunsystem gesundes Gewebe des zentralen Nervensystems angreift. Dadurch kommt es zu Entzündungen und Schädigungen der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark. Nach der Abheilung der Entzündungen bildet sich verhärtetes Narbengewebe. Übersetzt bedeutet Multiple Sklerose deshalb “vielfache Verhärtung”. Mo ist eine von rund 250.000 Menschen mit MS in Deutschland, über 70 Prozent der Erkrankten sind Frauen. Bei den meisten Betroffenen beginnt die Krankheit zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Damit ist MS eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen bei jungen Erwachsenen.
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Die MS verursacht individuelle und unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome und wird deshalb auch als “Krankheit der 1.000 Gesichter” bezeichnet. Bereits als Kind hatte Mo aufgrund ihrer MS starke Kopfschmerzen und einen grauen Schleier vor den Augen. Mittlerweile ist sie auf dem linken Auge blind. Auch häufige Wortfindungsstörungen, Probleme beim Schlucken und Gehen oder ihre Blasenschwäche erschweren Mo den Alltag. “Eine meiner nervigsten Symptome ist die Fatigue. Durch die plötzliche, übertriebene Müdigkeit, verliere ich von einer Sekunde auf die andere die Kontrolle über meinen Körper. Ich fühle mich dadurch wie ausgeknockt. Das beeinträchtigt meinen Alltag und mein Sozialleben extrem”, sagt Mo.
Mit dem Tanzen hat Mo aufgehört – freiwillig. In ihrer Freizeit macht sie heute Yoga oder klärt als Teil der Kampagne “trotz ms” oder auf Instagram als “msninjaaa” über MS auf. Mo nennt sich “MS-Ninja”, weil sie Vorurteile über das Leben mit MS bekämpft und dabei ihre Identität geheim hält. Und auch in diesem Text möchte sie anonym bleiben. “Ich will, dass die Aufklärung über MS im Vordergrund steht, nicht meine Person”, sagt Mo.
Wir haben Fragen.
VICE: Wie reagiert dein Körper auf Alkohol oder Drogen?
Mo: Ich trinke mittlerweile nur selten Alkohol. Ich habe das Gefühl, dass der Alkoholkonsum die MS in meinem Fall verstärkt. Der Tag darauf war immer beschissen und hat meine MS-Symptome stark getriggert. Und Drogen nehme ich keine. Mein Körper reagiert ohnehin schon im nüchternen Zustand extrem auf Emotionen. Wenn ich zum Beispiel sehr glücklich bin, triggert das meine MS, sodass jedes Mal meine Beine kribbeln. Und auch auf Stress, ungesunde Ernährung oder Hitze und Kälte reagiert mein Körper besonders empfindlich. Das fühlt sich für eine kurze Zeit wie ein Aufflammen alter Schübe an. Von Schüben spricht man, wenn bekannte oder neue Symptome auftreten und länger als 24 Stunden anhalten. Ich hatte zum Glück seit sieben Jahren keine Schübe mehr. Meine Schübe wurden meist mit Cortison-Infusionen ambulant behandelt. Wenn ich wegen eines Schubs meine Beine nicht spüren konnte, wurde ich aber auch schon stationär im Krankenhaus behandelt.
Wie wirkt sich MS auf dein Dating- und Sexleben aus?
MS beeinträchtigt das Sexleben vieler Menschen. MS betrifft das gesamte Nervensystem, damit auch die Libido. Auch geringere vaginale Feuchtigkeit und Erektions- oder Orgasmusprobleme kommen häufig bei MS-Patienten vor. Und auch viele weitere Symptome wie zum Beispiel Blasen- und Darmprobleme erschweren MS-Patienten das Sexleben. Die emotionale Herausforderung der MS kommt noch dazu. Deshalb ist es wichtig, beim Dating offen miteinander zu kommunizieren. Das ist für viele Menschen mit MS aber auch eine Hürde, weil sie nicht direkt sagen möchten, dass sie chronisch krank sind. Meine Oma meinte mal zu mir: “Bitte sag niemandem, dass du MS hast, sonst heiratet dich niemand.” Ich war ihr nicht böse, so denkt die alte Generation. Ich hatte beim Dating aber vor allem positive Erfahrungen, wenn ich über meine MS gesprochen habe. Wenn jemand ein Problem mit meiner MS hat, ist das eine Red Flag für mich. Früher habe ich mich auf Dates für meine MS gerechtfertigt, sogar dafür entschuldigt. Mittlerweile stehe ich zu mir selbst, mich gibt es nur mit MS.
Wie viel kostet dich die Krankheit pro Monat?
Für die Medikamente meiner rund 90-minütigen Infusionstherapie zahle ich alle vier bis sechs Wochen einen Eigenanteil von 10 Euro, den Rest der Kosten in Höhe von 4.000 bis 5.000 Euro übernimmt die Krankenkasse. Meine Physio- und Ergotherapie kostet mich bis zu 100 Euro im Monat.
Wirst du aufgrund von MS früher sterben?
Ich habe mit meinem Neurologen nie darüber gesprochen, ob ich aufgrund meiner MS früher sterben werde. Ich weiß durch Selbstrecherchen, dass MS nicht das Lebensalter eines Menschen verkürzt. Der Verlauf meiner MS ist nicht vorhersehbar und mittlerweile beruhigt mich das. Aber ich habe auch immer wieder depressive Phasen. Die Kontrolle über meinen eigenen Körper zu verlieren, ist nicht spurlos an mir vorbei gegangen. Ich war total verängstigt, als ich meinen Körper plötzlich nicht mehr spüren konnte. Manchmal bewege ich alle Teile meines Körpers nur, um sicherzugehen, dass ich sie noch spüren kann.
Welche Reaktionen auf deine Krankheit nerven dich am meisten?
Eine der häufigsten Reaktionen nach meiner Diagnose war die Frage, ob meine MS ansteckend sei. Nein, MS ist nicht ansteckend. Teilweise kann ich verstehen, dass Leute diese Frage stellen, weil viele kaum etwas über MS wissen. Andererseits zieht diese Frage vor allem bei neu diagnostizierten Patienten einen Rattenschwanz an Gefühlen mit sich. Manche Leute geben einem das Gefühl, man sei anders oder eklig. Dadurch fühlt man sich schnell ausgegrenzt, vor allem in der Zeit unmittelbar nach der Diagnose.
Ich finde es auch uncool, wenn sich Leute über meine Wortfindungsstörungen lustig machen. Humor ist wichtig und ich kann auch über mich selbst lachen. Meine Freunde dürfen auch Witze über meine Krankheit machen. Aber wenn mir jemand nicht nahesteht, finde ich es unangebracht. Oder Sprüche wie “Bekomm’ keine Kinder, du verbreitest die Krankheit” sind falsch und nerven.
Wie viele Tage im Jahr meldest du dich wegen MS krank?
Das kommt so gut wie nie vor. Aber ich mache während meiner Arbeitszeit regelmäßig Pausen. Manchmal muss ich mich auch selbst ermahnen, eine Pause zu machen, wenn es mir nicht gut geht. Ich habe zum Glück ein tolles Kollegium, das verständnisvoll ist und mich unterstützt. Das ist nicht selbstverständlich. Viele chronisch kranke Personen haben nicht die Möglichkeit, während ihrer Arbeitszeit Ruhepausen einzulegen.
Hast du Angst davor, pflegebedürftig zu werden?
Ja, davor habe ich große Angst. Ich bin noch nicht auf die Hilfe anderer Leute angewiesen, aber allein die Vorstellung macht mir Angst. Unmittelbar nach meiner Diagnose habe ich meinen Neurologen immer wieder gefragt, wann ich im Rollstuhl lande. Mittlerweile weiß ich, dass es keine Antwort darauf gibt. Und nicht jeder MS-Patient landet im Rollstuhl. Es ist auch nicht fair und richtig, den Rollstuhl als ein Schreckensszenario abzustempeln. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich auch bereits heute im Alltag Hilfe gebrauchen, zum Beispiel beim Einkaufen im Supermarkt und beim Abholen von Medikamenten in der Apotheke. Oder wenn mich jemand zur Infusions-Therapie begleiten würde, wäre das toll. Aber ich frage nicht danach. Ich bin mir sicher, dass mein Umfeld mich unterstützen würde, aber es fällt mir schwer, nach Hilfe zu fragen. Meine Krankheit sieht man mir nicht an. Meine Einschränkungen sollen zwar bemerkt werden, aber ich möchte auch eigenständig sein. Das ist ein Konflikt, den viele Menschen mit MS haben.
Hindert dich deine Krankheit daran, etwas auszuprobieren, was du schon immer mal machen wolltest?
Die Krankheit hindert mich zwar nicht daran, neue Dinge auszuprobieren, aber sie erschwert es mir. Wenn ich eine Reise plane, achte ich darauf, dass in der Nähe meiner Unterkunft ein Krankenhaus ist. Als ich mir noch regelmäßig Spritzen injiziert habe, war das Verreisen noch aufwändiger. Ich musste meine Medikamente bei Reisen ins Ausland ärztlich bescheinigen lassen, bei der Ein- und Ausreise anmelden und während des Transports eine ausreichende Kühlung sicherstellen. Und gibt es in der Unterkunft einen Kühlschrank für meine Spritzen? Funktioniert der überhaupt? Ist es hygienisch, sich in der Unterkunft zu spritzen? Rückblickend hatte ich manchmal gar keine Lust zu verreisen, weil der Aufwand während der Spritzentherapie enorm war. Seit meiner Infusionstherapie fühle ich mich freier.
In welchen Situationen wirst du bevorzugt behandelt?
Meine Familie behandelt mich manchmal bevorzugt, mir werden oft Aufgaben im Haushalt abgenommen und ich werde aufgefordert, mich auszuruhen. Und das auch, wenn es mir eigentlich körperlich gut geht. Unabhängig davon werde ich nicht bevorzugt behandelt. Beruflich wäre es eine Entlastung, wenn ich einen Behindertenausweis hätte. Um den Antrag auf einen Behindertenausweis habe ich mich erst in diesem Jahr gekümmert. Unter anderem bekommt man je nach Behindertengrad mehr Urlaubstage und steuerliche Entlastungen. Aber dadurch werde ich nicht bevorzugter behandelt, sondern gerechter. Das zu erkennen, hat mich viel Überwindung und Zeit gekostet.
Hat dir die MS eine Perspektive auf das Leben gegeben, die den meisten anderen Menschen verwehrt bleibt?
Kurz nach meiner Diagnose war ich euphorischer als zuvor. Ich dachte oft: “Wer weiß, wie lange ich das noch machen kann, ich will das Leben nicht verpassen.” Ich bin zum Beispiel öfter Feiern gegangen, obwohl das sehr kräftezehrend war. Mittlerweile habe ich keine Angst mehr davor, aufgrund meiner Krankheit etwas im Leben zu verpassen. Durch die Erkrankung habe ich viel über mich selbst gelernt und bin dadurch stärker geworden. Ich war früher eine Ja-Sagerin, habe nie jemandem Hilfe abgeschlagen. Aber mittlerweile treffe ich bewusste Entscheidungen und achte mehr auf mich und meine Bedürfnisse. Die MS hat mich Selbstliebe gelehrt – auch wenn das ein immer andauernder Prozess ist. Aber die MS ist nicht das Ende. Sie war für mich ein neuer Anfang.
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