Lene Wichmann hieß früher Karoline Wichmann. Sie hat sich umbenannt, weil sie ihren alten Vornamen früher nur schwer aussprechen konnte. Lene stottert seit ihrer Kindheit. Nach zwei logopädischen Behandlungen während ihrer Jugend hat sie ihr Stottern als Teil von sich akzeptiert. Es ist zwar nicht verschwunden, aber durch die Behandlungen schwächer geworden. Es taucht immer noch jeden Tag in ganz alltäglichen Situationen auf.
Menschen, die stottern, wiederholen immer wieder unfreiwillig einzelne Silben und Laute oder unterbrechen mitten im Wort das Sprechen. Die medizinische Ursache des Stotterns ist nicht eindeutig geklärt, auch wenn es zahlreiche Theorien dazu gibt.
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Heute ist Lene 38 Jahre alt, lebt in Bern in der Schweiz und arbeitet als Fotografin. Richtige Tipps gegen das Stottern habe sie nicht, sagt sie. Aber ein Satz ihrer Logopädin sei ihr in Erinnerung geblieben: Das Schlimmste am Stottern ist die Angst davor. Deshalb erlaube sie sich das Stottern heute und nehme sich in Gesprächen den Raum, den sie braucht, sagt Lene. Sie bestehe darauf, auszureden. Und wenn sie beim Sprechen doch mal eine längere Pause machen muss, dann sei das eben so.
Wir haben Fragen.
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VICE: Wurdest du in der Schule gemobbt?
Lene Wichmann: Ja, wurde ich. Ich habe leider nicht nur gestottert, sondern hatte auch O-Beine. Einmal hat ein Mitschüler zu mir gesagt: “Das O-Bein kann nicht sprechen.” Die Situation sehe ich noch genau vor mir. Ich habe mich in der Schulzeit sehr zurückgezogen und nur selten gesprochen, weil ich Angst hatte, zu stottern.
Wenn ich mich dann doch mal gemeldet habe und für meine mündliche Note noch gerade so mit einer Vier bewertet wurde, haben sich meine Mitschüler bei den Lehrern beschwert. Sie fühlten sich selbst unfair behandelt. Dann wurde vor versammelter Mannschaft diskutiert, dass ich die Vier nicht verdient hätte. Wenn 30 Leute über dich reden und du dich nicht verteidigen kannst, weil du Angst hast zu sprechen, ist das ganz schön unangenehm.
Was hat das Stottern mit deinem Selbstbewusstsein gemacht?
Das Stottern hat mein Selbstbewusstsein in der Schulzeit sehr geschmälert. Ich kam mir immer ein bisschen vor wie der Dummie, mit dem irgendwas nicht stimmt. Ich dachte, ich bin nicht in Ordnung, so wie ich bin. Ich war sowieso schon eher schüchtern und wegen des Stotterns habe ich dann so wenig wie möglich gesprochen. Mir war das Stottern sehr peinlich und ich hatte Angst vor komischen Reaktionen.
Am unsichersten war ich vor Vorträgen. Da habe ich mir immer wahnsinnige Sorgen gemacht und konnte die Nacht davor nicht schlafen. Aus heutiger Sicht hat das Vermeiden des Stotterns mich natürlich nur noch mehr verkrampft. Ich war damals aber einfach noch nicht selbstbewusst genug, um mein Stottern zu akzeptieren. Mein oberstes Ziel war, in Ruhe gelassen zu werden.
Wie flirtet man, wenn man stottert?
Es kommt immer auf die Situation an: Sprechen wir von Online-Dating, vom Flirten in Alltagssituationen oder beim Tanzen? Beim Online-Dating fällt Stottern ja nicht auf. Grundsätzlich ist Flirten von Angesicht zu Angesicht schon eine aufregende Situation. Und Aufregung verstärkt mein Stottern. Der Moment, in dem die andere Person merkt, dass ich anders spreche, ist der, der mich nervös macht. Diese Irritation, die ich im Gesicht des anderen sehe – das ist der schlimmste Moment. Deswegen ist Flirten etwas, vor dem ich mich in der Vergangenheit eher gedrückt habe. Heute bin ich aber weniger nervös, weshalb mir Flirten auch weniger Angst macht.
Halten dich manche Menschen für weniger intelligent, wenn du stotterst?
Das hat mir natürlich noch nie jemand gesagt. Aber ich meine, diesen Gedanken schon an den Reaktionen von Leuten abgelesen zu haben. Menschen gucken einfach komisch, wenn sie vorher mit Stottern noch nicht konfrontiert wurden, und fragen sich, was mit mir los ist. Das Problem ist auch, dass Stottern in vielen Filmen mit Dummheit gleichgesetzt wird. Beziehungsweise haben die weniger intelligenten Figuren häufig Probleme mit flüssigem Sprechen. Wenn ich das sehe, denke ich automatisch: OK, andere halten mich vielleicht auch für dumm.
Ist The King’s Speech dann dein Lieblingsfilm – oder eher gar nicht?
Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber er wurde mir schon oft empfohlen. Ich weiß nicht, wie Stottern darin präsentiert wird, und denke, dass er mir unangenehme Gefühle bereiten könnte. Aber ich glaube, ich gucke ihn mir bald einfach mal an.
Wie bringt man dich am schnellsten zum Stottern?
Sobald ich eine Unsicherheit bei meinem Gegenüber feststelle, werde ich auch unsicherer. Einmal hatte ich ein Vorstellungsgespräch und der Mann, mit dem ich das Gespräch hatte, wurde total nervös. Er fing an, den Kugelschreiber immer wieder klicken zu lassen und wackelte ständig mit dem Fuß herum. Ich weiß nicht, ob er ungeduldig war oder ob ihm meine Sprachpausen einfach unangenehm waren. Ich habe dann versucht, schneller zu sprechen, und habe dadurch noch mehr gestottert. Also kurz gesagt: Je nervöser andere reagieren, desto nervöser macht es mich und verstärkt das Stottern.
Sind manche Menschen von deinem Stottern genervt?
Auch das hat mir noch nie jemand ins Gesicht gesagt, aber ich glaube schon, dass manche genervt sind. Manchmal nehmen mir Leute die Wörter aus dem Mund und beenden Sätze für mich. Entweder, weil sie ungeduldig sind oder weil sie denken, dass mir das hilft. Ich fühle mich aber total übergangen, wenn mir nicht genug Zeit zum Aussprechen gegeben wird. Bei Anrufen, bei denen mich die Leute vorher nicht kannten, haben Leute auch schon öfter einfach aufgelegt, wenn ich für einen Satz länger gebraucht habe. Ich glaube aber nicht unbedingt, dass die genervt waren, sondern eher verwundert. Die dachten wahrscheinlich, dass ich mir einen Scherz mit denen erlaube oder dass die Verbindung schlecht ist.
Welche Ziele konntest du wegen des Stotterns nicht erreichen?
Beruflich habe ich alles erreicht, was ich wollte. Ich wusste schon früh, dass ich Fotografin werden möchte, und das hat geklappt. Aber es gibt sicher einige Dinge, die ich gerne gemacht hätte, aber vermieden habe: Sprachen lernen zum Beispiel. Das fand ich immer sehr herausfordernd. Im Deutschen habe ich mir Strategien zurechtgelegt, wie ich auch mit Silben fertig werde, die mich herausfordern. In anderen Sprachen habe ich diese Strategien nicht. Dann gibt es auch einen Teil in mir, der gerne mal auf einer Bühne stehen und sprechen würde. Das traue ich mir derzeit aber noch nicht zu und habe Angst, kein Wort rauszubringen, wenn ich da oben stehe.
Was war der dämlichste Tipp, den dir jemand gegen das Stottern gegeben hat?
Wenn mir Leute sagen, dass ich doch einfach weniger aufgeregt sein soll. Häufig beziehen die Leute mein Stottern auf sich persönlich und denken, dass ich wegen ihrer Person an sich stottere. Es liegt aber nicht an der Person. Manchmal machen mich bestimmte Situationen einfach nervös, aber es ist egal, wer da vor mir steht. Es hilft mir absolut gar nicht weiter, wenn ich dann dazu ermutigt werde, einfach nicht nervös zu sein. Außerdem kommt mein Stottern immer mal wieder vor. Stottern hat nicht grundsätzlich etwas mit Aufgeregtheit zu tun, es wird durch sie nur verstärkt. Ich kann mich dann nicht auf Bestellung entspannen.
Was ist die blödeste Reaktion, die du von anderen auf dein Stottern bekommen hast?
Es gibt diverse Reaktionen, die ich sehr blöd finde. Was ich am blödesten von allen finde, ist wenn jemand mein Stottern oder generell meine Symptome nachmacht. Wenn ich stottere, wiederhole ich in kurzen Abständen die gleichen Laute. Wenn das Menschen nachmachen, fühle ich mich nicht ernst genommen. Ich glaube nicht, dass das böse gemeint ist. Ich glaube eher, dass die Leute in solchen Momenten nicht ganz nachdenken oder das irgendwie lustig finden. Ich finde das dann aber nicht so lustig. Auch blöd finde ich, wenn sich Leute wahnsinnig erschrecken, die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen und mir ganz viel Mitleid schenken.
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