Wer in seiner Schullaufbahn nie die Möglichkeit hatte, einen Kerzenständer im Feuer zu schmieden, hat wahrscheinlich keine Waldorfschule besucht. Dort geht das. Ruth, 18, besucht seit der 4. Klasse die Waldorfschule in Bochum-Wattenscheid. Natürlich hat die Zwölftklässlerin dort auch alle Fächer, die in einem Gymnasium auf dem Lehrplan stehen. Aber sie sagt, sie könnte heute eben auch einen eigenen Garten anlegen, wenn sie sich noch genau an den Gartenbau-Unterricht in der 8. Klasse erinnern würde. Dank ihrer vielfältigen Schulausbildung.
Ruth ist eine von knapp 87.000 Schülerinnen und Schülern, die in Deutschland 245 Waldorfschulen besuchen – ungefähr ein Drittel aller Waldorfschulen in Europa. Rudolf Steiner entwickelte die Waldorfpädagogik um 1920, damals für die Arbeiterkinder der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. Der Reformpädagoge forderte, dass alle Menschen die gleichen Freiheiten genießen sollten. Anfang des 20. Jahrhunderts äußerte er sich allerdings auch rassistisch. Bis heute streiten Eltern, Schülerinnnen, Schüler und Lehrer über das komplizierte Erbe Steiners. Aber seit den Anfangstagen der Waldorfschule habe sich auch sehr viel verändert, sagt Ruth.
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Wir haben Fragen.
VICE: Mobben dich Gymnasiastinnen?
Ruth: Gar nicht. Ich habe Freunde, die ein Gymnasium besuchen. Als ich in der fünften oder sechsten Klasse war, habe ich eine Zeit lang gemieden anzusprechen, auf welcher Schule ich bin. Das kam vielleicht daher, dass ich das Gefühl hatte, anders zu sein, weil ich auf eine Waldorfschule gehe. Dann habe ich gemerkt, dass es überhaupt nicht schlimm ist und sogar sehr viele Vorteile bieten kann.
Ich glaube, dass Waldorfschüler weltoffen sind. Man bringt uns bei, dass alle gleich sind, die gleichen Chancen haben und wir nicht immer in Erfolgsmaßstäben denken müssen.
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Aber es gibt Leute die überhaupt nicht wissen, was eine Waldorfschule ist. Manche fragen: “Oh Gott, was hat das arme Kind denn, dass es auf eine Waldorfschule gehen muss?” Die denken, dass ich eine Behinderung habe. Diese Leute kennen nur die Klischees und bilden sich daraus ihre Meinung.
Hast du kein Problem damit, dass sich der Schulgründer Rudolf Steiner rassistisch geäußert hat?
Die Waldorfschule ist nicht so krass auf Steiner bezogen, wie man vielleicht denkt. Sein Name wird selten genannt. Die Waldorfschule war eine Idee von ihm, die sich weiterentwickelt hat. Mittlerweile ist sie ein eigenständiges Wesen. Mit Rassismus haben wir in der Schule überhaupt nichts zu tun. Wir haben Grundsätze von Rudolf Steiner, die wir umsetzen. Also das persönliche und lockere Arbeiten miteinander, dass wir mehr Spaß am Lernen haben. Es gibt Menschen, die sich sehr damit auseinandersetzen und versuchen, andere Werte weiterzugeben: Umweltbewusstsein, ein offenes und soziales Miteinander. Ich habe nur am Rande Steiners rassistische Äußerungen mitbekommen. Ich finde solche Aussagen ziemlich dumm, mit sowas zeigt man, dass man mit Neuem oder Anderem nicht umgehen kann. Das denken auch die meisten Waldorfschüler.
Hast du Lehrer oder Lehrerinnen, die unwissenschaftliches Zeug unterrichten?
Nein, wir haben die normalen Unterrichtsfächer wie alle anderen. Zusätzlich gibt es Fächer wie Eurythmie, Gartenbau oder Werken. Und wir diskutieren mit Lehrern schon mal irgendwelche philosophischen Fragen, auch vor oder nach dem Unterricht. Letztens haben wir mit unserem Kunstlehrer darüber geredet, warum in die Schule gehen so schwierig ist. Warum das Aneignen von Wissen als Kind keinen Spaß macht. So können wir unsere Meinung sagen und es kann ein Gespräch entstehen, das eigentlich nichts mit dem Unterricht zu tun hat. Ich finde es sehr schön, dass ich mit den Lehrern fast auf persönlicher Ebene reden kann.
Nervt es dich, dass sich der Unterricht bei euch an den Langsamsten orientiert?
Wir richten uns zwar nach den Langsamsten und versuchen, sie mitzuziehen. Aber das merkt man gar nicht, zumindest in der Unter- und Mittelstufe. Da ist der Unterricht sehr entspannt. Ab der elften Klasse stieg das Tempo stark an. Wir schreiben ja das gleiche Abi wie alle anderen. Dafür muss gelernt werden. So kann es sein, dass die Langsamsten Schwierigkeiten bekommen. Die Lehrer können aber auch nicht mehr darauf Rücksicht nehmen, weil wir sonst unser Abi einfach nicht schaffen. Es wäre gut gewesen, wenn sie das Tempo schon in der neunten Klasse angezogen hätten. Aber das ist schulabhängig und kein Waldorfding.
Hast du Angst, auf die echte Welt mit Leistungsdruck, Kapitalismus und Oberflächlichkeit nicht richtig vorbereitet zu werden?
Nein, habe ich nicht. Ich bekomme ja auch neben der Schule sehr viel von der Welt mit. Ich denke aber auch, dass es die Pflicht der Eltern ist, die Kinder darauf vorzubereiten. Die wenigsten Schulen bringen dir bei, wie das Leben außerhalb der Schule sein wird. Fächer wie Biologie bereiten dich nicht auf die Welt vor. Auch Waldorfschüler und -schülerinnen können oberflächlich oder kapitalistisch denken. Wir sind einfach relativ normal.
Wie sehr langweilen dich Menschen, die dich fragen, ob du deinen Namen tanzen kannst?
Das ist das Erste, was ich höre, wenn ich sage, dass ich auf die Waldorfschule gehe. Bis zur zehnten Klasse war es sehr nervig. Mittlerweile lache ich darüber. Ich denke mir dann: Die haben sich gar nicht damit auseinandergesetzt. Eurythmie ist Bewegung zu Musik und Gedichten. Und da gibt es Buchstaben, die wir mit unseren Armen darstellen können. Aber wir tanzen da nicht wild in der Gegend rum und es ist auch kein Sport. Das sind ruhige Bewegungen, die der Entwicklung von räumlichen Denken und dem Gleichgewicht helfen. So kommen wir auch einfach mal aus dem Alltag raus und erleben ein bisschen was anderes.
So viel Freiheit können sich nur reiche Eltern für ihre Kinder leisten, oder?
Nach der Frage mit dem Tanzen ist das die meistgestellte Frage. Tatsächlich ist das nicht so. Ich würde auch nicht sagen, dass ich in einer reichen Familie aufgewachsen bin, genauso wenig wie viele andere Schülerinnen und Schüler. Natürlich gibt es die, so wie an jeder anderen Schule. Die Waldorfschule nimmt nicht nur Kinder, deren Eltern besonders viel zahlen. Es gibt einen Festsatz, aber man versucht, die Schule auch für Kinder, deren Eltern wenig Geld haben, möglich zu machen. Die Kosten orientieren sich am Gehalt der Eltern. Wenn sie wenig haben, zahlen sie weniger. Und dafür zahlen andere mehr, die sich das leisten können. Außerdem gibt es Stipendien.
Fühlst du dich als Teil einer Elite, weil du auf eine Privatschule gehst?
Nein, gar nicht. Ich wusste lange Zeit nicht, dass es eine Privatschule ist. Für mich war es einfach immer die Waldorfschule. Ich finde auch nicht, dass die Schüler elitär wirken oder abgehoben sind. Es sind alle eher bodenständige Menschen.
Sind deine Eltern Hippies?
Nein, sie sind Ökos. Wir sind alle Ökos, wir leben auf einem Demeter-Bauernhof. Unser Hof produziert Bio-Produkte und basiert auf einer Idee von Rudolf Steiner. Wir versuchen auf die Umwelt zu achten, möglichst wenig mit dem Auto zu fahren, sondern Fahrrad oder E-Bike. Viele meiner Mitschüler sind auch öko eingestellt und achten darauf, wie sich ihr Handeln auf die Umwelt auswirkt.
Hattest du als Kind nur Holzspielzeug und weißt nicht, was eine Playstation ist?
Ich habe Freunde, die sind fast ohne elektronische Geräte aufgewachsen. Unsere Familie hatte aber immer einen Fernseher. Wir hatten Holzspielzeug, aber auch unser Playmobil. Bei Freunden habe ich mal eine Wii gesehen und auch darauf gespielt. Eine Playstation habe ich aber bis heute noch nie bewusst bei jemandem rumstehen sehen.