10 Fragen an einen Hartz-IV-Empfänger, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Sie stehen schon vormittags mit einer Flasche Bier vorm Kiosk, liegen im Trainingsanzug auf der Couch und füllen kettenrauchend Kreuzworträtsel aus – die Klischee-Schublade für Hartz-IV-Empfänger ist definitiv besser gefüllt als die Konten der Leistungsempfänger.

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, wie Hartz-IV-Empfänger wirklich sind: nämlich nicht faul, sondern schlicht nicht fit. Viele Arbeitslose sind gesundheitlich eingeschränkt – laut Studie ist das ihr größtes Hindernis bei der Jobsuche. Die Studie zeigt auch: Je länger die Jobsuche dauert und je älter die Arbeitslosen sind, desto schwieriger wird es für sie, Arbeit zu finden. Eine weitere Studie zeigt allerdings, dass zumindest an einem Vorurteil was dran ist: Hartz-IV-Empfänger rauchen mehr als andere. 66 Prozent der männlichen und 54 Prozent der weiblichen Bezieher von Arbeitslosengeld II rauchen regelmäßig. Das sind mehr als doppelt so viele wie unter Menschen, die keine Leistungen bekommen. 40 Prozent der Hartz-IV-Empfänger geben an, sich krank zu fühlen.

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Die Frage ist: Macht Hartz IV krank oder führt Krankheit zu Hartz IV? Jürgen Weber, 57, aus Potsdam wurde zuerst krank, dann verlor er seinen Job als Müllmann. Wegen einer Schulterentzündung: “Das war die Überbelastung”, sagt er. Ein halbes Jahr war er krank geschrieben: “Dann wurde ich einfach gefeuert.” Er ist gelernter Bautischler und nun schon seit 16 Jahren arbeitslos. Andere werden seiner Meinung nach erst durch den Status Hartz IV krank: “Viele bekommen durch den Druck vom Amt psychische Probleme”, sagt der 57-Jährige. Auf seinem Blog berät er Arbeitslose, die mit Antragsformularen und Behörden-Deutsch nicht zurecht kommen, macht ehrenamtliche Hausbesuche.

Der Bedarf ist für seine Beratung ist groß. Im März 2017 bezogen über sechs Millionen Menschen Hartz-IV – so viele wie Hessen Einwohner hat. Darunter sind auch jene, die zwar Arbeit haben, aber zu wenig verdienen, um davon leben zu können, oder alleinerziehende Mütter, die wegen fehlender Kinderbetreuung nicht arbeiten können. Als arbeitslos sind momentan 2,5 Millionen Menschen gemeldet, die Arbeitslosenquote liegt bei 5,6 Prozent, es ist der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung. Bei Hartz-IV liegt der Regelsatz bei 409 Euro im Monat, zusätzlich zahlt das Jobcenter die Kosten für Miete und Krankenversicherung. Wir wollten wissen, wie Jürgen lebt.

Jürgen steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, um sich um seinen Pflegehund zu kümmern.
Jürgen steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, um sich um seinen Pflegehund zu kümmern

VICE: Bist du ein Schnorrer?
Jürgen Weber: Ich bekomme Geld vom Staat und kann verstehen, wenn Leute das so sehen. Ich sehe das anders. Ich renne ja nicht mit einem Becher durch die Fußgängerzone. Was ich bekomme, ist eine minimale und viel zu knappe Grundsicherung, keine Almosen. Die Leute, die im Jobcenter sitzen, machen ihre Arbeit nicht gut. Wenn sie überhaupt mal was vermitteln, dann passt das nicht. Einmal sollte ich bei einer Versicherungsfirma arbeiten, um Kunden anzuheuern. Da hätte ich nur Geld bekommen, wenn ich Leute erfolgreich bequatscht hätte. Das ist doch keine faire Bezahlung, das habe ich direkt sein gelassen.

Ich habe zwar keinen Job, mit dem ich Geld verdiene, aber ich bin nicht arbeitslos. Ich liege auch nicht den ganzen Tag qualmend auf der Couch. Seit zwölf Jahren rauche ich nicht mehr. Meinen Tag verbringe ich damit, dass ich Blog-Einträge schreibe, Mails zu Hartz-IV-Fragen beantworte, Leute direkt berate und mich um einen Pflegehund kümmere. Wenn so ein Tag rum ist, und erst dann, lege ich gemütlich die Beine vorm Fernseher hoch.

Fühlst du dich minderwertig?
Wenn ich andere berate oder auf Armuts-Kongressen über Hartz IV informiere, dann halte ich mich für ein schlaues Kerlchen. Ich kenne mich aus mit den Sozialgesetzen und weiß Bescheid über die Hartz-IV-Urteile. Minderwertig fühle ich mich, wenn ich ins Portemonnaie gucke und merke: Ich kann mal wieder nicht ins Kino gehen. Das letzte Mal, als ich im Kino war, ist dort die Titanic gesunken.


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Wieso schaffst du es nicht, dir einen Job zu suchen?
Ich finde Jobs. Das Problem ist, einen Job auch zu behalten. Eigentlich bin ich gelernter Bautischler. Seit ich 2001 meine Schulterprobleme bekommen habe und gefeuert wurde, habe ich immer mal wieder was gemacht, aber nur Kleckerjobs: als Saisonarbeiter im Winterdienst für 450 Euro im Monat, als Ein-Euro-Jobber einen Computer-Kurs für Senioren. Für eine Putzfirma habe ich auch schon gearbeitet. Lange hat das nie gedauert, weil Verträge ausgelaufen sind, oder weil ich gefeuert wurde. Ich bin Gewerkschafter und mache den Mund auf. Wenn mir was nicht passt, fordere ich einen Betriebsrat, wenn es den noch nicht gibt. Mittlerweile habe ich so viele Lücken im Lebenslauf, dass ich die nicht mehr schönreden kann.

Mit welchen Tricks wehrst du dich gegen das Jobcenter?
Das Gesetz ist meine Waffe. Ich trickse nicht, sondern lege das Gesetz so aus, wie es mir in den Kram passt. Das Jobcenter Potsdam habe ich schon 30 Mal verklagt, deshalb bin ich da so beliebt wie Fußpilz. Vor dem Sozialgericht brauche ich keinen Anwalt und wenn eine Klage Erfolgsaussichten hat, bekomme ich Prozesskostenhilfe, von der dann ein Anwalt gezahlt wird. Einen Prozess habe ich gewonnen, weil ich beweisen konnte, dass der Ein-Euro-Job, den ich machen sollte, eigentlich eine richtige Stelle gewesen wäre. Da ging es um die Instandhaltung eines Naturschutzgebietes.

Welche Lügen hast du den Jobcenter-Mitarbeitern schon erzählt?
Ich habe es nicht nötig, Lügen zu erzählen. Nur so viel: Man kann schummeln, auch im Bereich Geld. Mehr sage ich aber nicht, weil ich das nicht tue und weil ich keine schlafenden Hunde wecken möchte. Bei all den Jobcenter-Regeln würde ich sagen: Knast ist schlimmer als Hartz-IV, aber Hartzer leben in einer Art offenem Strafvollzug. Sie stehen ständig unter Druck, viele sind psychisch kaputt. Zu allem sollen sie Ja und Amen sagen, weil das Jobcenter mit Sanktionen droht. Schlimm finde ich zum Beispiel die so genannte Mitwirkungspflicht beim Ausfüllen eines Hartz-IV-Antrags. Übersetzt heißt das, die wollen alles über einen wissen, am besten noch die Größe der Unterhose. Für mich ist da der Strafbestand der Nötigung erfüllt.

Das ist Jürgens “Kampfkleidung”, wie er sagt. In Fußgängerzonen oder bei Kongressen will er so auf die eingeschränkte Freiheit von Hartz-IV-Empfängern aufmerksam machen

Verdienst du dir mit Schwarzarbeit was dazu?
Nö. Darauf verzichte ich, weil das äußerst teuer werden kann, wenn man erwischt wird. Hier ist das Gesetz eindeutig, da habe ich keine Chance, es für mich auszulegen. Von meinen Beratungen weiß ich auch, dass es nicht oft vorkommt, die allermeisten Hartz-IV-ler sind keine asozialen Betrüger.

Wie viel Geld hast du auf dem Konto?
Gerade sind es 66,80 Euro. Ich bekomme den Regelsatz, also 409 Euro. Am Anfang des Monats lege ich das Geld für meine Fixkosten zurück. Mein Auto wird mir nicht bezahlt. Da werden Steuern, Versicherungen und Sprit fällig. Meine Haftpflichtversicherung, Strom, Telefon und Internet muss ich auch vom Regelsatz bezahlen. Und natürlich Lebensmittel. Am Monatsanfang kaufe ich nur Sonderangebote, die ich dann einfriere. Für die nächsten drei Wochen muss ich dann nur noch Brot oder Brötchen kaufen, das geht von 66,80 Euro. Problematisch wird es, wenn Sachen kaputt gehen, egal ob Schuhe oder Waschmaschine. Spontan etwas kaufen kann ich nie.

Für welche Sachen, die eigentlich völlig unsinnig sind, gibst du Geld aus?
Ich habe so wenig Geld, da komme ich gar nicht auf den Gedenken, etwas sinnlos auszugeben. Manche meinen, mein Auto wäre Luxus, aber ich brauche es, um zu Leuten zu fahren, die ich berate. Andere geben ihr Geld in der Kneipe aus, bei mir säuft nur mein Auto. Luxus wäre für mich, mir mal eine Modelleisenbahn zu kaufen. Aber das ist nicht drin. Wenn ich einen Monat gut kalkuliert habe, kann ich mir mal eine Packung Eis gönnen, mal eine zusätzliche Melone, manchmal einen Cappuccino im Café.

Ein Hobby, für das Jürgen kein Geld hat: Modelleisenbahnen.
Ein Hobby, für das Jürgen kein Geld hat: Modelleisenbahnen

Wie schwer ist es, eine Frau zu finden, wenn man arbeitslos ist?
Ich bin alleine, und dass ich Hartz IV bekomme, spielt da eine große Rolle. Wie soll ich Leute kennenlernen, wenn ich für ein Sozialleben zu arm bin? Wer kommt zu einer Geburtstagseinladung, wenn es heißt: Kaffee und Kuchen bitte selber mitbringen? Auch auf ein Glas Wein kann ich niemanden einladen. Frauen spricht das natürlich nicht an. Wenn die merken, dass ich ihnen finanziell nichts bieten kann, lassen die die Finger von mir. Ich beneide Leute, die eine gute Beziehung haben. Das hätte ich auch gerne.

Wovon träumst du?
Ganz einfach: von Geld. Es würde mir ein Leben ermöglichen, in dem ich mir keine Gedanken machen muss, ob ich mir ein Schnitzel leisten kann oder nicht.

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