Vor wenigen Wochen feierte Jan sein fünfjähriges Jubiläum. Seit einem halben Jahrzehnt steht der 41-Jährige bei einem großen deutschen Autohersteller am Fließband und montiert Türen an halbfertige Sportcoupés und Mittelklassewagen. Ob er den Job morgen noch hat, weiß er nicht. Er ist Leiharbeiter. Sein Arbeitgeber ist nicht das Autowerk, in dem er bis zu sechs Tage die Woche steht, sondern ein Zeitarbeitsbüro, das er nie betritt.
In der Fachsprache heißt es “Arbeitnehmerüberlassung”, in der realen Welt spricht selbst die Politik meist über “Zeitarbeit” oder “Leiharbeit”, wenn sie diese Praxis wahlweise bewirbt oder scharf kritisiert. Sein berufliches Schicksal teilt Jan mit mehr als einer Million Männern und Frauen in Deutschland. Um ihn vor Disziplinarmaßnahmen seines Arbeitgebers zu schützen, haben wir seinen Namen geändert. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Menschen, die nicht dort angestellt sind, wo sie arbeiten, um mehr als 40 Prozent gestiegen. Statistiken zeigen auch: Wer einmal als Leiharbeiter anfängt, findet so schnell keinen festen Job. So wie Jan.
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Wir haben Fragen.
VICE: Ist Leiharbeit wirklich so schlimm?
Jan: Aktuell habe ich in meiner Laufbahn als Leiharbeiter den höchsten Punkt erreicht und bekomme einen höheren Lohn als meine fest angestellten Kollegen. Ich bin eigentlich staatlich anerkannter Erzieher und habe in diesem Job immer wenig verdient, gerade so meine Rechnungen zahlen können. Vor fünf Jahren hab ich mir gesagt, Ich will auch mal in den Urlaub fahren können, ich bin begeisterter Motorradfahrer. Als Leiharbeiter kann ich mir dieses Hobby auf einmal leisten. Dafür muss ich aber jederzeit springen und habe keinen festen Dienstplan. Am Montagvormittag habe ich um kurz vor 11 die Meldung bekommen, dass ich vier Stunden später zur Schicht antreten soll. Festangestellte können ihr gesamtes Jahr planen und wissen, wann sie Urlaub haben. Ich weiß nicht einmal, wie ich nächste Woche eingesetzt werde. Oder ob ich den Job morgen überhaupt noch habe. Im Moment könnte ich alleine eine vierköpfige Familie ernähren, aber ob das morgen noch so ist, kann ich nicht sagen.
Wie sehr belastet es dich psychisch, nicht zu wissen, welchen Job du nächste Woche machst?
Dieses flexible Arbeiten liegt mir. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste an ein und demselben Band sechs Tage lang jede Woche die gleiche Arbeit machen und das für die nächsten 25 Jahre, sage ich klar, da bin ich lieber Springer. Aber ich frage mich ständig, wie es in Zukunft weitergeht. Der Autohersteller könnte mich jeden Morgen abbestellen und ich müsste dann wieder für Mindestlohn in einer Wäscherei arbeiten oder so. Ich hab keine Kinder, da kann ich das derzeit verantworten. Aber soll ich wirklich unter den Bedingungen eine Familie gründen?
Beneidest du festangestellte Kollegen?
Es tut weh, zu sehen wie meine festangestellten Kollegen hohe Gewinnbeteiligungen bekommen und wir Leiharbeiter mit leeren Händen daneben stehen. In fünf Jahren kommt da einiges zusammen. Da gibt es natürlich Neid und Gezicke untereinander und man muss einiges abkönnen. Wir sind 3.500 Angestellte im Betrieb, die alle die gleichen Autos bauen und gleichzeitig herrscht eine deutliche Klassengesellschaft.
Bist du schuld, dass du nach fünf Jahren Leiharbeit noch immer keine Festanstellung hast?
Die Betriebe wollen sich doch nicht mehr festlegen. Wenn ich einmal fest angestellt bin, kann ich nicht mehr von einem auf den anderen Tag gekündigt werden. In meinem Fall war Leiharbeit erst einmal die Chance, etwas anderes zu machen. Politiker sagen, Leiharbeit sei eine Chance zum Einstieg. Aber an der Übernahme in eine Festanstellung hapert es allgemein. Es gibt gesetzliche Regelungen, dass eine Firma ihre Zeitarbeiter nach einer gewissen Zeit fest übernehmen muss. In der Metallbranche liegt die Frist bei 47 Monaten. Wir haben bei uns im Betrieb gerade jede Menge Leiharbeiter, die bis vor Kurzem bei einem anderen Autowerk in der Nähe waren – und demnächst vermutlich wieder dahin zurück wechseln. Deren Frist bis zur Festanstellung fängt dann wieder bei null an. Und ich bin jetzt seit fünf Jahren dabei und wurde immer noch nicht übernommen. Das fühlt sich schon scheiße an.
Hast du die Hoffnung auf eine Festanstellung aufgegeben?
Ich habe mich dieses Jahr auf eine Festanstellung bei dem Autobauer beworben. Im Bewerbungsverfahren war leider in der dritten Runde für mich Schluss. Weil in meinen ersten drei Jahren noch ein Zulieferbetrieb zwischen meinem Verleiher und meiner Firma stand, müsste ich noch anderthalb Jahre durchhalten, obwohl ich seit fünf Jahren den gleichen Job mache. Ich hoffe jetzt einfach, dass die vergessen, mich rechtzeitig zu kündigen. Aber ob das was wird? Als Pädagoge jenseits der 40 bin ich garantiert nicht ganz oben auf deren Wunschliste. Jetzt brauchen sie mich natürlich als flexiblen Lückenfüller.
Bist du weniger freundlich zu festangestellten Kollegen, weil du eh bald wieder woanders arbeitest?
Das gibt es schon. Und das sehe ich auch bei Kollegen. Wir sind ja auch nicht nur studierte Pädagogen am Fließband. Aber es ist auch wichtig, Freunde unter den Festangestellten zu haben, damit du Fürsprecher hast. Es gibt auch eine Menge Festangestellte, die sehen, wie das System funktioniert, und sich für uns einsetzen.
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Fühlst du dich minderwertig gegenüber festangestellten Freunden?
Ich fühle mich als Arbeiter zweiter Klasse, auf jeden Fall. Ich kann das schon ab und habe auch Freunde, die früher Leiharbeiter waren und dann übernommen wurden. Aber wenn ich allein die Prämien sehe, die andere in den letzten Jahren bekommen haben. Da könnte ich mir zwei, drei Autos von kaufen. Oder mal einen Monat in die Karibik fliegen. Das Geld habe ich nicht bekommen, obwohl ich die gleiche Arbeit gemacht habe.
Wie oft verstößt dein Arbeitgeber gegen Gesetze?
Das ist gar nicht nötig. Festangestellte dürfen bei uns maximal elf Monate lang in meinem aktuellen Arbeitszeitmodell eingesetzt werden. Die psychische Belastung sei zu hoch, heißt es. Für Leiharbeiter gibt es keine Begrenzung. Natürlich achten einige Vorarbeiter gut darauf, dass die Belastung gleichmäßig auf alle Kollegen verteilt ist, aber es gibt auch immer wieder Bereiche, da werden die Leiharbeiter mit Aufgaben geprügelt und die eigenen Leute geschont. Der Job geht einfach auf die Knochen. Und wenn ein Festangestellter operiert werden muss und ein halbes Jahr ausfällt, kostet das den Betrieb viel Geld. Ein Leiharbeiter wird einfach abbestellt und ersetzt.
Warum organisierst du dich nicht einfach und tust was gegen die schlechte Behandlung?
Klar, eine Gewerkschaft wie die IG Metall lässt sich nichts gefallen. Aber als Leiharbeiter habe ich keine Gewerkschaft und ich darf auch nicht streiken. In dem Fall würde ich einfach abbestellt werden. Vor einiger Zeit gab es bei uns Warnstreiks unter den Festangestellten. Die Leute von der IG Metall haben uns damals auch zu ihren Veranstaltungen eingeladen. Wenn es deswegen Ärger gebe, hätten sie Anwälte für uns, haben sie gesagt. Die sind geil drauf. Das hat mich echt begeistert. Aber als Leiharbeiter komme ich da natürlich nicht rein. Und sonst haben die Leiher alle Angst, da widerspricht keiner. Ein falsches Wort und man ist draußen.
Nimmst du festangestellten Kolleginnen und Kollegen den Job weg?
Die Personalplanung in unserem Betrieb ist so knapp, die könnten problemlos weitere Leute einstellen. Ich habe jetzt nicht BWL studiert und weiß nicht, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, wie das gehandhabt wird. Aber ich denke, der Wirtschaft wäre es lieber, wir wären alle Tagelöhner, oder?
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