Wie wir Obdachlose wahrnehmen, hat etwas Paradoxes. Auf der einen Seite sind sie extrem sichtbar, weil sie oft viel Zeit an einem Ort verbringen. Auf der anderen sind sie auch so etwas wie ein blinder Fleck in unserer Gesellschaft. Denn am liebsten denkt man so wenig wie möglich über sie nach.
Wenn man das täte, müsste man sich nämlich unangenehme Fragen stellen: Was bedeutet es eigentlich, an einem Mitmenschen einfach vorbeizugehen, dem es so viel schlechter geht als mir? Wie viel Verantwortung habe ich, für einen Fremden, der seit fünf Minuten versucht, sich an einer U-Bahn-Sitzbank aufzurichten, aber einfach zu betrunken ist? Ist es fair, nur den Leuten Geld zu geben, die mir sympathisch sind?
Videos by VICE
Ich habe schon einige Obdachlose interviewt, aber selbst da ging es nur um die großen Fragen: Was dazu geführt hat, dass sie ihre Wohnung und auch sonst allen Halt verloren haben, wie man mit Drogenabhängigkeit auf der Straße umgeht, und welche Art von Sozialleistung ihnen wirklich helfen würde. Aber es gab ein paar Sachen, die ich mich noch nie zu fragen getraut habe, obwohl sie mich genauso interessieren.
Also habe ich mich deshalb mit “Bumerang” im Weinbergspark in Berlin getroffen. Bumerang ist 33 (“genau wie Christus!”), kommt ursprünglich aus Polen und lebt mit ein paar Unterbrechungen bereits seit 15 Jahren auf der Straße. Warum er Bumerang heißt? “Weil ich immer wiederkomme—auch wenn alle dachten, ich bin schon lange weg!”
VICE: Bumerang, wie findest du es, wenn jemand darauf besteht, dir Essen zu kaufen, statt dir Geld zu geben?
Bumerang: Ich finde das OK, vor allem wenn ich Hunger habe. Ich freue mich eigentlich über jede Spende. Manchmal frage ich auch selber direkt nach Essen.
Ärgerst du dich über Leute, die dir nur zehn Cent geben?
Nein, zehn Cent sind besser als nichts. Ich denke dann nicht “Was für ein Arschloch” oder so.
Bist du manchmal böse auf die Gesellschaft?
Ja, manchmal schon. Ich denke, ich bin ein guter Mensch, deshalb finde ich es schon ein bisschen unfair, dass ich in dieser Situation bin. Aber es ist auch meine Schuld. Nur, es ist hart. Und manchmal ist es mir peinlich, immer andere um Geld zu fragen. Aber nette Menschen verstehen das.
Wann hattest du das letzte Mal Sex?
Kurz bevor meine Frau gestorben ist. Das war jetzt vor zweieinhalb Jahren.
Das tut mir leid.
Ja. Sie war schwanger, aber sie hat zu viele Drogen genommen und das Kind verloren. Ich war nichtmal dabei, als sie gestorben ist. Ein Kumpel hat mich angerufen und gesagt: “Hey, deine Frau ist tot.” Ich habe so viel geweint. Manchmal träume ich von ihr.
Also, ich würde schon gerne mal eine andere Frau haben, aber es geht nicht. Keine ist so wie meine, und ich muss immer an sie denken.
Wenn du einen Wunsch hättest, was würdest du dir wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass meine Frau wieder lebt. Aber sie lebt nicht mehr, das geht nicht. Also vielleicht eine Wohnung, und Arbeit. Ich will ja arbeiten! Ich kann eigentlich alles machen.
Wer ist der größte Feind für Obdachlose in dieser Stadt?
Also früher hatte ich immer mit den Securitys von der Deutschen Bahn oder der BVG Probleme, wenn ich in der U-Bahn geschlafen habe oder so. Ich habe mich echt so oft mit Securitys geschlagen [Lacht]. Die Polizei ist OK. Wenn du nichts machst, machen die auch nichts.
Wir haben mit Bumerangs Gang auch schon mal einen ganzen Tag verbracht: “Wenn du das runterkriegst, ist Parfüm trinken kein Problem mehr”—Ein Abend mit Berlins polnischen Obdachlosen
Was ist das Beste, das dir in der letzten Woche passiert ist?
Jemand hat mir zehn Euro geschenkt. Ich weiß nicht warum, der war halt ein guter Mensch. Der hat auch nichts gesagt, sondern mir das einfach gegeben.
Und was das Schlimmste?
Na ja, das ist persönlich … aber OK. Ich wollte auf Toilette gehen, und dann habe ich es nicht geschafft. Das war scheiße. Aber ich bin dann zu einem Kumpel gegangen, bei dem kann ich manchmal duschen. Aber nur manchmal.
Glaubst du, du wirst jemals wieder eine Wohnung haben?
Ich hoffe das. Aber niemand weiß, was morgen passiert.
Was vermisst du am meisten, wenn du an dein Leben vor der Obdachlosigkeit denkst?
Weißt du, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Das hier ist jetzt mein Leben. Na ja, vielleicht mein Motorrad, das vermisse ich schon. Aber ich sage immer: Lieber Lachen als Weinen. Das Wichtigste ist, dass man nicht allein ist. Man muss immer jemanden haben—eine Frau, oder Kumpels. Das ist das Wichtigste: Nie allein sein.