Die Synagoge in Offenbach liegt hinter einer vier Meter hohen, schusssicheren Eisentür mit 360-Grad-Kameraüberwachung. Dahinter: Mendel Gurewitz, ein orthodoxer Rabbiner, der auch genauso aussieht, wie man sich einen orthodoxen Rabbiner vorstellt: Rauschebart, schwarzer Hut, Horn-Brille. Er zündet sich eine Zigarette an und präsentiert eine seiner Lieblingsverschwörungstheorien über Juden: “Wenn man das Logo einer Marlboro-Schachtel umdreht, kann man darauf ‘horrible Jew‘ lesen”, sagt er.
Geboren ist er vor 43 Jahren in New York, aufgewachsen in Frankreich, Großeltern aus der Sowjetunion und nun lebt er in Offenbach. Bereits Gurewitz’ Vater und Großvater waren Rabbiner, er jedoch habe sich zunächst vehement dagegen gewehrt, auch einer zu werden: “Ich wollte auf keinen Fall so leben wie mein Vater. Jetzt lebe ich aber wie mein Vater und es ist ganz großartig”, sagt er und zupft dabei an seinen Tzitzit, den traditionellen weißen Fäden mit Knoten, die an den Seiten der Kleidung runterhängen.
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Im Judentum gibt es keine Hölle, jeder komme früher oder später ins Paradies: “Nachdem man in einer Art Verbesserungsanstalt war”, sagt Gurewitz. Druck übe er nicht aus. “Das schlechte Gewissen selbst jedoch ist Bestrafung und Druckmittel genug, die Gesetze zu befolgen.” Wir fragen uns natürlich: Wie folgsam ist der Rabbi wohl selbst?
Er macht einem das Gespräch nicht einfach, weil er – alter jüdischer Trick – auf Fragen gerne mit Gegenfragen antwortet. Auf die Frage, was er davon halte, dass ich, selbst Jüdin, am liebsten Cordon Bleu esse (Schwein ist nicht koscher), fragt er nur, ob es gut schmeckt. Rabbiner Gurewitz sagt, er lese regelmäßig VICE, deshalb könne ihn nichts schrecken: “Es gibt keine Tabus und keine Scham! Im Judentum sagt man, wer sich schämt, der lernt nicht.” Eine hervorragende Basis für die folgenden 10 Fragen:
VICE: Was ist der beste Judenwitz, den du kennst?
Mendel Gurewitz: “Wie unterhält sich heute ein gescheiter polnischer Jude mit einem dummen? – Von New York aus per Telefon.”
Was ist das Schlimmste, das du als Jude in Deutschland erlebt hast?
Man nennt mich den Magneten, weil ich Gefahren anziehe. Ich erlebe dauernd Übergriffe, meist verbaler Art, Beleidigungen wie “Scheiß Jude!”. Eigentlich sollte ich mich nicht wundern – ich lebe ja in Offenbach. Meine älteren Kinder und meine Frau haben auch Angst, auf die Straße zu gehen, es ist eben nicht besonders angenehm, böse Blicke zu ernten, wenn man eine Kippa trägt. Meistens reagiere ich da nicht, aber einmal ist so ein Fall publik geworden. Ich wurde 2013 im Einkaufszentrum von muslimischen Jugendlichen beschimpft, geschubst, und beschloss, nicht mehr stillzuhalten. Es ist mein Grundsatz, statt Vergeltung Vergebung zu üben, also lud ich die Jugendlichen in die Synagoge ein. Wir haben uns kennengelernt – sie hatten keine Ahnung, wie viel Ähnlichkeit Juden und Muslime haben. Danach haben sie sich entschuldigt. Ich besuche seitdem auch Schulen, um gegen den Rassismus vorzugehen, und beantworte alle Fragen der Schüler.
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Die vielen Regeln, der Antisemitismus – nervt es nicht, Jude zu sein?
Du hast Recht, es ist eine große Last, Jude zu sein, absolut nicht zu empfehlen. Ich frage mich auch, wieso ausgerechnet wir das auserwählte Volk sind. Was wir alles deswegen durchmachen müssen! Konnte G’tt nicht jemand anderen aussuchen? Allerdings: G’tt hat zwar Gebote gemacht, aber auch die Lücken gelassen. Manche Juden stellen Zeitschaltuhren für ihre Elektrogeräte ein, um das Gebot zu umgehen, kein Feuer zu machen. Das ist kein Betrug an G’tt, das ist kreativ! Aber nicht nur das Judentum trickst: Ich saß mal neben einem Imam im Flugzeug und wunderte mich, wieso er statt dem Halal-Menü das reguläre bestellte. Er entgegnete, dass die Gesetze des Korans nicht im Himmel gelten würden und er im Flugzeug alles machen dürfe.
Hand aufs Herz. Auch als Rabbiner hattest du auch mal unkoshere Zeiten, oder?
Nein, enttäuschenderweise war ich ganz brav. Nur einmal habe ich mich gewundert, wieso die Jungs auf der Rabbiner-Fortbildungsreise eine Zigarette im Kreis rumgegeben haben, die so gar nicht nach Tabak gerochen hat. Später habe ich verstanden, dass es Marihuana war. Mich haben Drogen aber nie interessiert – das Judentum ist aber sehr locker, was Alkoholkonsum angeht, besonders an Feiertagen.
Welche Verbote findest du im Judentum unsinnig?
Es gibt Verbote, die für mich rational gesehen keinen Grund haben und aus der Luft gegriffen scheinen, wie auch bei anderen Religionen. Wieso sollte man bitte kein Schwein essen dürfen? Aber diese Verbote als unsinnig zu bezeichnen, würde heißen, dass ich denke, ich sei so klug wie G’tt selbst, der diese Verbote gemacht hat. Ich glaube daran, dass es schon einen Sinn haben wird, nur ist er für mich unverständlich. Ich muss auch nicht alles begreifen.
Findest du, die Siedlungspolitik in Israel ist gerechtfertigt?
Was ist überhaupt ein Siedler? So etwas gibt es nicht. Das ist jüdisches Land. Als Jude muss ich mich da absurderweise oft rechtfertigen, aber ich wiederhole immer wieder, dass ich kein Botschafter für Israel bin. Das ist auch als Jude nicht meine Aufgabe. Ich denke, dass dieses schöne Land den Juden gehört – das war ein Geschenk G’ttes, so steht es auch in der Thora. Oder würdest du etwa ein Erbstück deiner Großmutter weiterverschenken? So in etwa fühlen viele Juden zu Israel.
Als Rabbiner bist du auch Ratgeber. Was war das krasseste Anliegen, mit dem jemand auf dich zukam?
Es gibt so viele Verrückte, die mich um Rat fragen – ich könnte fast ein Buch dazu schreiben. Vor Kurzem fuhr an der Synagoge ein Mann mit Traktor vor und war überzeugt, dass er mit mir dringend nach Schweden fahren müsse, um einen jüdischen Tempel zu bauen, weil G’tt es ihm so geheißen habe. Irgendwie habe ich ihn beruhigen können. Jeder, der sich mit Religion beschäftigt, kann schon mal durchdrehen. Mich erschreckt also kaum mehr etwas.
Jeden Freitag an Shabbat ist es laut Thora strenges Gebot, Sex zu haben; hältst du dich dran?
Ich verstehe die Frage nicht. Sex an Shabbat ist Minimum. Oder sollte es zumindest sein. Ich habe neun Kinder, fünf Töchter und vier Söhne zwischen einem und 18 Jahren. So kommen die dann auch zustande.
Welche Vorteile hat ein beschnittener Penis?
Durch die Beschneidung im Säuglingsalter geht man in religiöser Hinsicht einen Bund mit G’tt ein. 80 Prozent der Amerikaner sind aber beschnitten, weil ein beschnittener Penis ein kleineres Risiko für Krankheiten birgt, wie Balanitis, einer Eichelentzündung. Was Sex angeht – keine Ahnung, ich habe ja keinen Vergleich.
Kann prinzipiell auch ich der Messias sein?
Klar, wo ist das Problem? Du musst bloß Frieden auf der Welt schaffen. Die UNO versucht das schon seit Jahren. Viel Erfolg.