Das Jahr 2016 ist wie eine Teerwalze über die Welt hinweggerauscht. Nicht nur Ricardo Villalobos kann davon ein Meme-Lied singen. Dabei erging es uns in Europa noch ziemlich gut. Doch wir müssen auch festhalten: 2016 war ein verdammt gutes Jahr für elektronische Musik. Gemeinsam mit unseren internationalen THUMP-Kolleginnen und -Kollegen hatten wir deshalb eine schwere Wahl, als es darum ging, die besten Tracks und Alben des Jahres auszuwählen. Viele Zigaretten wurden geraucht, Clubnächte durchgrübelt, Platten wieder und wieder gewendet. Und kein Hacker wollte uns die Entscheidung abnehmen. Am Ende sind wir dennoch auf 10 großartige Alben und 20 großartige Tracks—die wir dir hier gelistet haben—gekommen, die dieses Scheißjahr erträglich gemacht haben. Zeit, zu tanzen! Und aktiv zu werden …
Carla Dal Forno—You Know What It’s Like
Es gibt da dieses Gefühl des Unwohlseins, der Indisponiertheit. Nennen wir es “das große Ekeln”. Das große Ekeln ist das Gefühl, das du bekommst, wenn dein Boss dich vor deinen Kollegen zurechtweist, wenn ein Schwarm dir nicht zurückschreibt oder dein Partner in einer unsinnigen Auseinandersetzung etwas Boshaftes zu dir sagt. Das Debüt-Soloalbum von Carla Dal Forno, You Know What It’s Like, ist das perfekte Gegenmittel zu diesem Gefühl—vielleicht ist es aber auch der passende Soundtrack, um sich darin zu suhlen. Dal Fornos dumpfer Gesang, die düsteren Synthesizer und die starken Dub-Einflüsse finden in Tracks wie “What You Gonna Do Now?” zusammen, die diese selbstzerstörerischen Gedanken begleiten, die in deinem Kopf herumschwirren, während du an verregneten, ereignislosen Sonntagnachmittagen vor dich hin vegetierst. Es ist eine extrem einfühlsame Platte für Momente, in denen du alles hinterfragen willst, aber nicht in der Lage für irgendeinen Entschluss bist.—Anna Codrea-Rado
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DJ Marfox—Chapa Quente
Auf der neusten Veröffentlichung des Lissaboner Labels Principe Discos, erweiterte der Batida-Pionier seine Palette, um zurückliegende Touren durch Europa und Amerika zu feiern. Der Track “Unsound” ist zum Beispiel von den düsteren Techno-Sounds beeinflusst, die er auf dem gleichnamigen Festival erlebt hat. “2685” vermischt alte Rave-Elemente mit einer schwindelerregenden Flöten-Melodie—überraschend und erfrischend wie feiner Sprühregen auf dem Gesicht. Das Highlight ist allerdings “Tarraxo Everyday” mit seinen ruckelnden Drums und einer New Age’esquen-Synthspur. “Ich habe eine Ahnung, wann ein Song direkt funktioniert”, sagte DJ Marfox, als wir ihn interviewten. “Es ist ein schönes Gefühl.” Auf Chapa Quente ist diese greifbare Freude schwer zu überhören.—Ezra Marcus
Elysia Crampton—Elysia Crampton Presents: Demon City
Elysia Cramptons Name steht zwar auf Demon City ganz oben, aber sie macht gleichzeitig deutlich, dass sie es alleine nicht so geschafft hätte. Das Album war eine Reflektion über das Zusammensein mit ihren Freunden. Crampton wollte herauszufinden, inwiefern deren Unterstützung “ihre eigene Autonomie, ihr eigenes Handeln” beeinflusst. Künstler wie Chino Amobi, Why Be, Rabit und Lexxi werden deshalb nicht mit “feat.”, sondern einem “with” hier angeführt. Die Problematik des Album löst die Produzentin dabei verhältnismäßig intuitiv—einerseits, weil alle ihre Kollaborateure Langzeitfreunde sind, und andererseits, weil beinahe-überladene und überfordernde Werke wie “Dummy Track” demonstrieren, dass Crampton für den Regiestuhl geboren ist. Sie weiß genau, wie mit wie viel Details und Spielereien sie einen Track beladen kann, bevor sie loslässt. Wie die meisten ihrer Arbeiten stellt auch hier eine Atmosphäre optimistischer Sehnsucht ihre das Fundament ihres Schaffens dar. Dank der Unterstützung durch ihre Crew ist ihre Musik aber eindringlicher denn je.—Colin Joyce
Hieroglyphic Being—The Disco’s of Imhotep
Zwar ist der Output von Jamal Moss als Hieroglyphic Being bereits in den letzten Jahren durchgängig stark gewesen, aber The Disco’s of Imhotep ist das bislang beste Werk des Produzenten aus Chicago. Das im August auf dem Ninja Tune-Sublabel Technicolor erschienene Album ist ein eindrucksvolles Dokument rohen, ungefilterten Houses. Moss’ vielfältige interstellare Anspielungen sind eine Erinnerung an die heilende Essenz von Clubmusik und Musik im Allgemeinen. Tracks mit Titeln wie “The Way of the Tree of Life” landen so einem kolossal-kosmischen Aufschlag. Wie ein spiritueller Pulsar überbrückt der Produzent damit die Lücke zwischen ihm selbst und tausenden Jahren Ekstase und Erleuchtung bis zurück ins altertümliche Ägypten. Wenn du aber einen genauen Blick auf diesen Monolithen wirfst, wirst du feststellen, dass auf seiner Oberfläche in großen Lettern “Zukunft” und nicht “Nostalgie” prangt.—Thomas Vorreyer
Huerco S—For Those of You Who Have Never (And Also Those Who Have)
Ambientmusik, so hat es sich Brian Eno einst vorgestellt, soll so “ignorierbar wie spannend sein.” Aber die Schönheit von For Those of You Who Have Never (And Also Those Who Have)—dem ersten Vorstoß von Produzent Brian Leeds alias Huerco S in den Bereich der Ambientmusik—besteht in seiner vermeintlichen Ablehnung dieser Idee. Auf dem durchaus entspannungstauglichen For Those of You tut sich deshalb eine ganze Menge mehr, als du vielleicht von einem Ambientalbum erwarten würdest. Von spektral-schwirrenden Synthesizern und behutsam arrangierten Elektronikklängen, bis hin zu Stücken, die klingen wie schlafwandelnde Clubtracks, bei denen die Drumspuren gekonnt entfernt wurden. Anstatt die Orte zu erweitern, an denen du dich aufhältst, atmet dieses hauchdünne Soundgitter und verschmilzt zu etwas Dunklerem, etwas Zerbrechlicherem und Kokonartigem. Dieses Album setzt sich nicht mit der Welt um dich herum auseinander, es erschafft eine ganze Welt für sich.—Colin Joyce
Kablam—Furiosa
Die Schwedin Kablam hat uns mit Furiosa ein Mixtape/Mini-Album voller aggressiver, wunderbar scharfkantiger Klänge geschenkt—die durch ihre pure Energie zugänglich werden, sobald du es erstmal geschafft hast, mit der bittersüßen, eleganten Brutalität dieser Musik zurechtzukommen. Stell dir dazu eine Massenorgie vor, nur mit Aliens. Mit Aliens aus Metall. Und diese Aliens sind eigentlich Panzer, Panzer auf drei Beinen und sie marschieren gerade in deine Stadt ein. Es ist also ein bisschen wie Krieg der Welten. Nur ohne Tom Cruise, zum Glück.—Thomas Vorreyer
Kornel Kovacs—The Bells
The Bells beginnt mit einer Melodie-Reminiszenz, einem düsteren Intro-das-es-niemals-gab zu einem Kornel Kovacs Kiffer-Track von 2014. Es ist der Einstieg in ein Album, das in seiner eigenen Schwerelosigkeit aufgeht. Und der Auftakt eines Produzenten, der nicht an die gängigen Regeln der Zeit gebunden zu sein scheint. Kornél Kovács spielt mit dieser temporalen Schlüpfrigkeit über sein komplette Debüt-Doppel-LP hinweg: Die ersten beiden Seiten sind ein funkelndes Tribut an 80er Jahre Synth-Pop und funkigen Disco-House, wohingegen die zweite Platte ein funkelnde Reise durch verschiedene Disco-Atmosphären darstellt. Der Titel des Albums wiederum verweist auf ein anderes Jahrzehnt und insbesondere auf Jeff Mills gleichnamigen Techno-Hit “The Bells” von 1997—einer hypnotischen Tour de Force, die mit Kovács’ Platte kaum etwas gemein hat bis auf seinen schichtmäßigen und organischen Ansatz. All das ergibt ein Album, das selbstbewusst weiß, dass es nicht so einfach in eine Epochen- oder Genreschublade gepackt werden kann. Also denk nicht zu viel darüber nach, leg die Platte auf, lass dich frech vom Cover angrinsen und tu das, wozu dich einer der zeitlosen Tracks des Albums auffordert: “Dance… While The Record Spins.”—Jesse Weiss
Leon Vynehall—Rojus
Seit Leon Vynehall 2014 Music for the Uninvited veröffentlicht hat, sind die Erwartungen an das Folgealbum ziemlich hoch gewesen. Dieses hat Vynehall 2016 schließlich abgeliefert und enttäuscht hat er damit nicht. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger ist Rojus aber eine ganze Ecke düsterer ausgefallen. Die Songs gehen nahtlos ineinander über und bauen dadurch eine große Harmonie auf. Vom verträumt-tropischen “Saxony”, über den hypnotisierenden Piano-House von “Paradisea” bis zum Hitanwärter “Blush” wirst du den Eindruck nicht los, dass alles aus einem Guss besteht. Im Gegensatz zu vielen anderen Veröffentlichungen heutzutage steckt hier auch eine Menge Liebe im Detail, was zur einzigartigen Atmosphäre von Rojus beiträgt. Das einzige Problem ist jetzt nur, dass die Erwartungen für sein nächstes Werk noch höher sein werden. Vynehall scheint der Druck aber nicht viel auszumachen. Bitte weitermachen, Leon!—Philipp Kutter
Max Graef & Glenn Astro—The Yard Work Simulator
Immer, wenn Max Graef und Glenn Astro irgendetwas zusammen anpacken, ist der Vibe der gleiche: zwei gute Freunde mit einer großen Vorliebe für alten House, 90er Jahre HipHop, Jazz und schön-schmierige Disco-Sounds, die gerade die Zeit ihres Lebens haben. The Yard Work Simulator, ihre Duo-Debüt-LP, führt diesen kumpelhaften Vibe fort, der von keinem A&R-Hansel oder Festivalbooker konzipiert oder aus dem Hut gezaubert werden kann. Die Platte ist nicht ausdrücklich auf den Dancefloor ausgelegt, aber funktioniert als Portal zu den fröhlichen Sounds, lebendigen Farben und Styles, die in den Köpfen der beiden umherschwirren—in diesem Fall sind das Jazz, Funk, House, HipHop und andere Genres, in denen sich schwimmende Synthesizer und pumpende Percussion zuhause fühlen. Andere Alben sind dafür gemacht, um dazu zu tanzen, sie beim Autofahren zu hören oder um unter der Dusche dazu zu singen. Diese Platte ist mehr wie ein paar Typen, die im Wohnzimmer abhängen und Bier trinken—und du bist eingeladen.—David Garber
Omar S—The Best
Aus karmatechnischen Gesichtspunkten ist es wahrscheinlich nicht die weiseste Entscheidung, sein Album The Best zu nennen. Dieses Omar S-Album aber einfach als arrogante Selbstbeweihräucherung abzutun, würde bedeuten, eine der irreführendsten LPs des Jahres und die beste seiner bisherigen Karriere zu verpassen. Sein Ruf als unerschrockener Lieferant robust-dreckiger House-Scheiben bleibt darauf unangetastet. Gleichzeitig kommen auf The Best Facetten seines musikalischen Könnens ans Licht, die bislang ungenutzt waren—oder zumindest weit im Hintergrund standen. Von der minimalistisch-makabren Entspanntheit von “Take Ya Pik, Nik!!!”, bis zum hallenden Rattern von “Smash” zeigt The Best Omar S als Weltenbauer mit einem unnachahmlichen Talent für große House-Tracks, nur um diese danach mit schmerzendem Pathos zu überziehen—Prahlerei, die von einer tiefen Melancholie zurück auf den Boden der Tatsachen geholt wird. Es ist eine Platte, die genau das enthält, was draufsteht—wenn auch nicht unbedingt so wie du erwartet hast .—Angus Harrison
Roman Flügel—All The Right Noises
Wenn die Bezeichnung Tausendsassa auf jemanden zutrifft, dann auf Roman Flügel. Kaum eine elektronische Stilrichtung, die der Frankfurter in zwei Jahrzehnten künstlerischen Schaffens noch nicht besetzt hat. Dennoch findet er immer wieder eine Nische, einen musikalischen Ort, an dem er vorher noch nicht war. Auf seinem dritten Album besucht er den Ambient-Kosmos und bewegt sich damit künstlerisch bisher am weitesten von der Tanzfläche weg. Flügel deutet dabei allerdings auch immer wieder seine Herkunft aus dem 4/4-Bereich an. “Warm And Dewy” mit seinen 130 BPM ist dafür ein Beispiel und bleibt dennoch zugleich die Ausnahme auf All The Right Noises. Denn spätestens im fulminanten Schlusstrack “Fantasy” wird noch mal klargemacht: das hier ist nicht für den Club, sondern für was Anderes gedacht. Musik für Kopfhörer und eine lange Reise, wie sie auch Roman Flügels musikalisches Werk ist. Man folgt ihm weiterhin nur zu gerne.—Philipp Kutter
Umfang—Riffs
Emma Burgess-Olsons Produktionen als Umfang neigen dazu, noch facettenreicher als ihre DJ-Sets zu sein. Ihre Veröffentlichung für 1080p, Riffs, aus dem August ist da vielleicht am abgedrehtesten ausgefallen. Über fünf Tracks flitzt sie durch geräumige Synth-Sequenzen und spärliche Bassdrums; es liegt eine erdrückende Ängstlichkeit in der Luft, ein beklemmendes Bewusstsein für den rapide sinkenden Sauerstoffgehalt, während Umfang dich der Stratosphäre näher bringt. Riffs ist eine dieser seltenen Platten, die mich bei jedem Anhören wieder erstaunt, sowohl aufgrund ihrer eigenen erschütternden Logik als auch aufgrund der Tatsache, was für Errungenschaften einer Künstlerin noch bleiben, die auf jeder Veröffentlichung merkwürdiger wird. Welche irdischen Gefilde gibt es noch zu erobern, wenn man einmal die Umlaufbahn verlassen hat?—Colin Joyce
Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.
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