Vor acht Jahren veröffentlichten wir einen Artikel mit dem Titel “2012 ist noch gar nichts; 2020 wird es wirklich schlimm”. Die Überschrift ist leider wahr geworden: 2012 loderte zwar hier und da noch die Glut des Arabischen Frühlings und überall herrschte Maya-Endzeitstimmung. Das war aber nichts gegen das, was gerade abgeht. Vor allem in den USA.
2020 pfeift das Klima auf dem vorletzten Loch. Eine Pandemie hat zahlreiche Volkswirtschaften auf Talfahrt geschickt und weltweit bislang rund 820.000 Menschen umgebracht. In vielen westlichen Ländern gibt es Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Rechte wettern gegen Corona-Maßnahmen und US-Präsident Trump tut alles dafür, das Land weiter zu spalten.
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Unser Artikel von 2012 war ein Interview mit dem Wissenschaftler Peter Turchin, dessen Forschungsgebiet “Kliodynamik” sich mit “temporär variierenden Prozessen und der Suche nach kausalen Mechanismen” der Geschichte befasst, um quasi die Zukunft vorherzusagen. Er konzentriert sich auf Entwicklungen in den USA und Westeuropa. Eine rückblickende Bewertung seines Teams der Vorhersagen über die vergangenen zehn Jahre kannst du hier nachlesen. VICE hat jetzt wieder mit Turchin gesprochen, um zu erfahren, was uns in den kommenden Jahren erwartet.
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VICE: Als wir uns 2012 unterhalten haben, hast du erklärt, dass 2020 die USA eine Phase von Gewalt und Unruhen erleben würde. Fühlst du dich bestätigt?
Peter Turchin: Die Theorie, die diese Vorhersage ermöglicht hat, wurde bestätigt – ich persönlich weniger. Natürlich konnte niemand genau wissen, was passieren würde. Die Zukunft kann nicht in einem absoluten Sinne vorhergesehen werden.
Gab es einen Punkt in den vergangenen Jahren, an dem sich die Entwicklung bereits abgezeichnet hat?
Das ist eine kumulative Sache, eine Anhäufung vieler Faktoren. Es gibt strukturelle Entwicklungen, die Instabilität fördern – beispielsweise ein sinkender Lebensstandard und wachsende Konflikte und Konkurrenz innerhalb der Eliten. Diese bewegen sich schon etwa seit den 1980ern in die falsche Richtung – 2010 konnten meine Kollegen und ich also bereits auf drei Jahrzehnte dieser Entwicklung zurückblicken.
Es gab keine Anzeichen dafür, dass unsere politischen Eliten bereit waren, etwas zu unternehmen, um diese Entwicklungen umzukehren. Diese Bereitschaft gibt es auch immer noch nicht. Dann gab es eine Welle von Selbstmordterrorismus, also Amokläufen. Und die Lebenserwartung großer Teile der amerikanischen Bevölkerung ist gesunken. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm werden würde. Die Wahl von Donald Trump ist ein sehr gutes Beispiel für einen politischen Unternehmer, der die Unzufriedenheit der Massen kanalisiert. Dafür gibt es zahlreiche historische Beispiele. Also, wie ich bereits sagte: Es war eine kumulative Sache.
2012 hast du gesagt, dass Revolutionen beginnen, “wenn Angehörige der Elite versuchen, die bestehende politische Ordnung umzuwerfen, um ihre eigene Situation zu verbessern”. Kannst du das anhand unseres heutigen Wissensstandes erklären?
Wie ich schon sagte, ist Donald Trump ein gutes Beispiel für einen intra-elitären Konflikt. Er begann als frustrierter Eliten-Anwärter, der seinen Wohlstand in politische Macht umwandeln wollte. 2016 gelang ihm das auch, indem er die weit verbreitete Unzufriedenheit mit den etablierten Eliten ausnutzte. Das führte zu noch mehr Polarisierung und intra-elitären Konflikten, als wir bis 2016 gewohnt waren.
Deine Theorie besagt, dass diese Perioden in 50-Jahres-Zyklen funktionieren. Sagt sie auch voraus, wann die derzeitige Zeit der Auflehnung wieder vorbei sein wird?
Das hast du missverstanden: Es geht um sehr lange andauernde Zyklen. In der US-amerikanischen Geschichte hatten wir zwei große Zyklen. Zuerst war da wachsender Wohlstand und eine Einigkeit der Eliten, die etwa 1820 ihren Höhepunkt erreichte. Von da an nahmen die Krisenindikatoren in den Jahrzehnten bis zum Bürgerkrieg 1861 rapide zu. Danach fielen die Krisenindikatoren wieder etwas von ihrem Höchstwert ab, aber blieben bis 1920 auf einem relativ hohen Niveau. Das waren die Jahre der sogenannten Reconstruction, der rassistischen Jim-Crow-Gesetze, der Gilded Age, der gewalttätigen Arbeiterunruhen und Anarchisten. Es war eine Zeit, die von Umbrüchen und Ungleichheiten geprägt war. Das war unser erstes Zeitalter der Uneinigkeit.
Dann veränderte sich die Lage: Als Ergebnis der Reformen, die während der progressiven Ära eingeführt wurden und mit dem New Deal vollendet wurden, stiegen die Gehälter und auch die Politik zeigte sich wieder geschlossener. Die 1950er waren ein Goldenes Zeitalter der Arbeiterrechte und Kooperation zwischen den Parteien. In den 1970er und 1980er Jahren veränderte sich die Lage wieder und in den folgenden zwei Jahrzehnten stiegen die Krisenindikatoren wieder genauso steil an wie in den Jahrzehnten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Das Durchschnittseinkommen sank im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt und die Polarisierung der politischen Parteien erreichte neue Höhen. Jetzt befinden wir uns im zweiten Zeitalter der Uneinigkeit.
Der 50-Jahres-Zyklus überlagert diese längerfristige Dynamik. Weil zwei Dynamiken in den Jahren um 2020 zusammentreffen, ist unsere Gesellschaft momentan besonders anfällig für Ausbrüche politischer Gewalt.
Um deine Frage zu beantworten: Diese turbulenten Perioden halten an, bis die strukturellen Trends, die sie antreiben, umgekehrt worden sind. In der Geschichte hat das bislang immer fünf bis fünfzehn Jahre gedauert. Ich gehe also davon aus, dass es auch nach 2020 unruhig weitergehen wird.