Menschen

Ich habe 24 Stunden lang das gemacht, was mir Fremde im Internet gesagt haben

Junger Mann auf dunkler Straße trinkt Powerade und schaut aufs Handy

Die Welt ist voller Besserwisser. Sie tummeln sich in Onlineforen wie Gutefrage.net, in denen sich alle zu Allem äußern und darüber bin ich froh.

Wer sich schon mal gefragt hat, wie viel Masturbation gesund ist oder warum die Pickel am Rücken besonders hartnäckig sind, ist garantiert auf Gutefrage.net gelandet. Die Menschen hier wissen alles. Zumindest fühlt es sich so an.

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Gut für mich. Denn ich habe von vielen Dingen keine Ahnung. Entscheidungen zu treffen fällt mir schwer – deshalb hole ich mir gerne Ratschläge. Im Lockdown-Alltag fehlen mir Perspektiven anderer Menschen.


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Kann mir die allwissende Schwarmintelligenz helfen? Das will ich ausprobieren. Für 24 Stunden befolge ich die Ratschläge von Fremden aus dem Internet, weil ich lernen will, Entscheidungen zu treffen. Ich bitte also die Leute auf Gutefrage.net um Tipps, die mein Leben besser machen. Dann schließe ich mein Profil und warte ab.

Nach ein paar Tagen habe ich Antworten, wie mir der rote Zähler links oben auf der Seite verrät. Es ist ein verregneter Donnerstag, 8 Uhr morgens. Mein Wecker klingelt und das Experiment beginnt. Ich bin aufgeregt, machtlos und greife zum Handy, um mir den ersten Rat von Gutefrage.net zu holen. Aber Face-ID erkennt mein aufgequollenes Gesicht nicht, weil ich mir an normalen Tagen noch 30 Minuten zum Schlummern nehme. Das darf ich heute nicht, denn die Leute aus dem Internet wollen mir den Morgen versauen. Ich hatte gefragt:

FreeLenz: “Mit welcher Morgenroutine starte ich gut in den Tag?”

Zocker0796: “Duschen. Kaffee. Schuften.”

anonym109911: “Für jeden ist die Definition von “perfekt” anders. Für mich wäre eine perfekte Morgenroutine (DABEI IMMER MUSIK HÖREN!): Früh aufstehen und dabei ausgeschlafen zu sein, Duschen, Leckeres, gesundes Essen machen, Zähneputzen, Frische Luft bisschen genießen, Meinen Tag starten mit meinen Aufgaben”

“Duschen. Kaffee. Schuften” wäre mir selbst eingefallen, deswegen wähle ich den anderen Vorschlag. Ich gehe ins Wohnzimmer und starte die erstbeste Playlist, “This is Dire Straits”. Während ich Kaffee mache, frage ich online, wie ein gesundes Frühstück geht. Tee und Porridge mit Nüssen und Früchten sind die Empfehlung. Meinen Kaffee wegzukippen würde mir die Laune aber so sehr versauen, dass ich ihn trotzdem trinke. Sorry HikoKuraiko!

Als ich die Haferflocken mit den trockenen Datteln verrühre, muss ich an den dekadenten Bergkäse denken, den ich mir eigentlich fürs Frühstück gekauft hatte. Ich esse an der frischen Luft. Mein Porridge hat die gleiche graue Farbe wie die Wolken am Himmel, aber es schmeckt besser als ich dachte.

Junger Mann isst Porridge auf der Terrasse
Lecker

Ich will nicht nur essen wie das Internet, ich will auch so aussehen. Ich habe nachgefragt: “Mit welcher Kleidung bin ich als Mann im Trend?” Kleider machen Leute, sagt man ja.

NinaV7 sagt, ich solle selbst entscheiden, was in ist und mir nichts von anderen sagen lassen. Auf meiner Mission bringt mich das aber nicht weiter. Zum Glück gibt es eine zweite Antwort. Kevin860 hat konkrete Vorstellungen vom Look, der mich zum Geschöpf von Gutefrage.net machen wird: “Das ist mein style und viele finden es cool.” Dazu gibt es ein Bild, das wie ein alter Screenshot von Tumblr aussieht.

Ich telefoniere also den Einzelhandel meiner Kleinstadt ab, weil ich aussehen soll wie der Praktikant von Nickelback. Auf dem Weg zu meinem Click and Collect Termin regnet es und ich bin froh, dass ich die neue Kunstlederjacke noch nicht trage. Plötzlich sehe ich, dass ich ausgezeichnet werde: Gutefrage.net macht mich zum “Recherchef”, weil ich zehn Fragen gestellt habe. Das Badge schmückt jetzt mein Profil.

Die Verkäuferin gibt mir die Tüte mit Kunstlederjacke, engem Shirt und Skinny Jeans. Offenbar freut sie sich, dass überhaupt ein Kunde da ist. Viel sei nicht los, aber sie mache das beste aus der Situation, sagt sie. Seit Monaten ist zu, nur im März war ihr Laden ein paar Tage offen. Immerhin hilft Gutefrage.net also der lokalen Wirtschaft. Der Verkäufer der schwarzen Boots freut sich auch.

Junger Mann trägt Einkaufstüten die Treppe hoch
Schon fast schick

Es ist 13 Uhr und der Blick in den Spiegel offenbart, wie geschmacklos das Internet ist. Ich erinnere mich an ein pinkes Poloshirt, das ich als Kind bei H&M bestellen durfte. Ich habe lange gewartet und ständig den coolen Jungen im Katalog angeschaut. Aber mit meiner blassen Haut sah das Shirt leider richtig übel aus. Nun, manchmal sind Ratschläge eben schmerzhaft. Ich will mir Bestätigung aus der Community holen.

Ich will Kevin860, der mir die Boots empfohlen hatte, fragen, wie er mein Outfit findet. Beim Scrollen durch sein Profil stelle ich fest, dass er einen Fetisch für Stiefel hat. Alle seine 77 Antworten handeln von Stiefeln oder Sex oder beidem. Er antwortet mir nicht auf meine Nachricht und das Foto, also frage ich die Community wie sie meinen neuen rockigen Style findet.

FreeLenz: “Wie findet ihr meinen neuen rockigen Style?”

Californiablu: “Sieht sehr gut aus, schwarze skinny Jeans passt sehr gut zu den anderen Sachen. Und für nen Journalisten genau passend.”

JDDDJ: “Muss dir gefallen. Wenn du damit zufrieden bist ist doch alles gut. Mein Stil wäre es nicht, da es mir zu dunkel ist.”

Niklas348: “Noch mehr schwarz ging nicht?”

Junger Mann ganz in schwarz sitzt auf braunem Sofa
Die Community ist diplomatisch, als sie mein Outfit sieht

Die Community ist diplomatisch wie bei einem ersten Date. Schmuck würde noch dazu passen, das Outfit sei “ziemlich rockig”, die Stiefel seien “wuchtig”. Aber am Ende sei es cool, wenn ich mich “wohlfühle”.

Ich fühle mich schmierig. Ich sehe aus wie ein Typ, der seine Bekannten für 50 Euro an ein Schneeballsystem verkauft. Aber irgendwie ist mein Aussehen gerade auch zweitrangig.

Im Grunde denke ich seit Wochen sowieso nur an eins: Das Verhältnis zu meiner Mitbewohnerin. Wir verstehen uns außergewöhnlich gut und finden uns außergewöhnlich gut. Wir teilen Interessen und neuerdings unser Bett. Wir haben Spaß an denselben Dingen – und wir haben dieselbe WG. Verzwickte Situation könnte man sagen. Deshalb frage ich die Love-Gurus von Gutefrage.net. “Soll ich eine Beziehung mit meiner Mitbewohnerin eingehen?”

Um 13:30 Uhr lese ich die Antworten und werde darauf hingewiesen, wie absurd die Frage sei. “Wenn ihr das nicht wisst, wie sollen wir…..?!”, fragt Mauritan.

FreeLenz: “Soll ich eine Beziehung mit meiner Mitbewohnerin eingehen?”

Christian1201: “Sei lieb zu Ihr, alles andere ergibt sich mit der Zeit. Da helfen auch keine sonstigen Ratschläge.”

Wolfrein: “Wenn es nur auf fleischlicher Basis beruht wird es nicht von allzulanger Dauer sein. Besser keine voreiligen Entscheidungen treffen, erst mal abwarten. Kommt Zeit, kommt Rat.”

Stultus97: “sei doch froh das sich die gelegenheit ergibt. mach was draus sonst schnappt sie dir ein anderer weg.”

Das Thema ist zu intim für Ratschläge von Fremden, denke ich. Aber meine Mitbewohnerin findet es lustig, dass ich das Internet um Rat frage. Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen und überlege, wie es Leuten geht, die nur online jemanden zum Reden finden. Abgesehen von meinem Skrupel bin ich erleichtert, denn niemand hat Einwände.

Ein pragmatischer Rat ist dabei. Ich soll meine Gedanken zum Thema “Beziehung oder nicht” in einer Mindmap ordnen. Also schreibe ich auf, was mir in den Kopf kommt: Vieles davon ist kitschig (“sie begeistert mich für neue und alte Interessen.” Wir haben sogar beide wieder angefangen Graffiti zu malen.) und einiges plump (“sie ist clever”). 30 Minuten sitze ich am Schreibtisch und mir fallen nur positive Argumente ein. Und dass es stressig wäre, wenn es kriseln würde. Ich fühle mich wie Don Tillman, der im sehr kitschigen Roman Das Rosie-Projekt mit einem wissenschaftlichen Fragebogen eine Frau sucht. Schräg aber gut.

Alle Zeichen stehen auf Go “mach was draus” hatte Stultus97 empfohlen. Ich überlege, was so richtig offiziell ist: Familienprogramm. Also fahren meine Mitbewohnerin und ich zu meiner Oma. Es fühlt sich feierlich an – irgendwie nach Weihnachten.

Meine Oma findet uns süß und öffnet die Tür mit einer Flasche Sekt in der Hand. Ich erzähle ihr von den Tipps aus dem Online-Forum. Sie versteht nichts, ist aber begeistert von meinem schicken neuen Aussehen und von meiner Mitbewohnerin. Der Besuch ist unwirklich, weil er von Gutefrage.net gelenkt wurde. Aber auch so schön, dass meine Mitbewohnerin und ich uns abends zu einem richtigen Date verabreden und Oma sich später per WhatsApp bedankt.

Auf dem Rückweg gegen 17 Uhr treffe ich eine rote Katze, die ich gerne streicheln würde. Sie haut ab und ich weiß nicht wieso. Also frage ich die Community, was ich tun kann, damit Tiere mich mögen. Ich schaue mich nach anderen Tieren um und treffe einen kleinen Mischling aus Chihuahua und Pekinese, wie mir das Herrchen erklärt. Online habe ich gelernt, dass ich fragen soll, bevor ich einen Hund anfasse. Ich darf. Aber der Hund will nicht, obwohl ich mich klein mache und ihm nicht in die Augen schaue, wie es mir empfohlen wurde. Der Hundebesitzer rät mir fürs nächste Mal zu einem Stück Wurst. Gut möglich, dass Ratschläge im echten Leben einfach wertvoller sind.

Junger Mann streichelt eine rote Katze
Katzen stinken, ich will sie trotzdem streicheln

Ich komme verwirrt zu Hause an und habe Lust auf Betäubung.

FreeLenz: “Ab welcher Uhrzeit kann ich Bier trinken?”

Handybiyet: “Wenn du Mittags drinnen willst und nichts mehr vor hast, kannst du deiner Fantasie freien Lauf lassen. Morgens würde ich jedoch nicht drinnen. LG und dir noch ne geile Zeit!”

hgrtdfzrftsr5zt: “junge du kannst trinken wieviel du willst”

AntwortLegend21:. “Man weiß ja: ‘Radler ist kein Alkohol’ und ‘Kein Bier vor vier aber Zwei vor Drei’”

Die Trinkfreunde auf Gutefrage.net sind sich so einig wie bei keiner anderen Frage. Vom Bier zum Frühstück wird mir abgeraten, ansonsten solle ich der Fantasie freien Lauf lassen. Das mache ich und trinke ein kaltes Pils aus meinem Kühlschrank auf Ex.

Ich trinke noch mehr Bier, wie von AntwortLegend21 empfohlen und die Seite zieht mich immer mehr in ihren Bann. Wessen Ratschläge befolge ich da eigentlich? Ich schreibe Christian1201, Community-Experte für Liebe, Freundschaft und Beziehungen. Er ist 63, Berliner Barkeeper in Kurzarbeit und seit zwölf Jahren bei Gutefrage.net. Aktuell ist er acht Stunden täglich hier “sinnvoller als Herumsitzen ist es allemal”. In den meisten seiner knapp 3.000 Antworten gibt er Liebes- und Beziehungstipps, die als “hilfreich” eingestuft wurden. Deshalb gilt er hier als Experte. Er ist einer von 15 Millionen Menschen, die Gutefrage.net nach Angaben der deutschen Betreiber jeden Monat besuchen. 250.000 Fragen stellen sie im Monat.

Drei Bier und zwei Stunden später passiert es. Ich beantworte eine Frage. Leni774 muss die Musik einer Werbung für die Schule analysieren. Ich empfehle ihr, sie solle auf die Tonart achten. Es ist 20:30 Uhr, ganz instinktiv, weil ich voll angetrunkenem Überschwung glaube, einen sinnvollen Gedanken zu haben. Eigentlich habe ich nicht genug Ahnung, trotzdem bekomme ich eine neue Auszeichnung, ich bin jetzt “Dankwart” und verstehe, wieso man sich Zeit nimmt, um hier nichtssagende Antworten beizutragen. Die Community ist genügsam – das Gegenteil von Instagram und Twitter.

Das Date mit meiner Mitbewohnerin steht noch an. Die meisten Antworten auf meine Fragen, wie ein gutes Date geht und was man nachts trotz Ausgangssperre machen kann sind aber nichtssagend.

Lesterb42: “was du bis 22.00 Uhr nicht geschafft hast, hat auch noch Zeit bis morgen.”

Udo107: “Momentan ist außer spazieren gehen, ja eh nicht viel drin. Aber wenn es zwischen beiden passt, ist Burgeressen bei McDonalds genau so gut, wie n 5-Sterne-Reataurant.”

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man ein Date nicht betrunken starten sollte. Also frage ich nach:

FreeLenz: “Wie kann ich wieder nüchtern werden?”

ayleeneilh: “Powerade soll so einen Stoff enthalten der gut helfen soll.”

Justinianus: “Kalt duschen, Essen (Pizza, Ölsardinen)”

Ich laufe zum Supermarkt, um mir Powerade zu besorgen. Die blaue Limonade, die in meiner Schulzeit nur die Kinder dabei hatten, die andere verprügelt haben, soll nüchtern machen. Das Zeug ist im Angebot, drei zum Preis von zwei. Ich würde gerne nachfragen wie viele Flaschen ich brauche, aber es gibt keinen Handyempfang. Plötzlich muss ich an meinen Opa denken, der immer meinte, das Internet würde uns unselbstständig machen. Als ich wieder auf dem Parkplatz stehe, fällt mir auf, dass ich mich auch nach fünf Bier noch für meinen neuen Style schäme – ich bin einfach zu eitel. Ich trinke mein Powerade und habe das Gefühl, dass es mich nüchterner macht. Endlich mal ein guter Tipp. Nur der Geschmack irritiert mich: Irgendwo zwischen Bum Bum-Eis und Shishatabak, so unnatürlich wie persönliche Ratschläge von fremden Menschen.

Junger Mann kauft Bier und Powerade im Supermarkt
Bier gegen die Nüchternheit, Powerade gegen die Trunkenheit

Mittlerweile ist es kurz nach 21 Uhr und damit höchste Zeit für mein Date. Udo107 hatte noch nie ein Date, meint aber, wenn es zwischen beiden passt, sei die Aktivität und das Drumherum relativ egal. Meine Mitbewohnerin und ich können “ungezwungen miteinander reden und auch zusammen lachen”.

Frau zieht einen Mann hinter sich her
Ich geh mit dir wohin du willst, auch nach Hause

Wir unterhalten uns bei einem Spaziergang und trinken Bier. Wir schießen süße Fotos bis die Ausgangssperre uns zwingt reinzugehen. Gut, dass wir ein Haushalt sind. Wir sprechen über die Schulzeit, stoßen lachend mit Rotwein an und schlafen gemütlich auf dem Sofa ein. Der Abend ist romantisch, die Community hatte recht und trotzdem fühlt es sich absurd an, dass ich vorher online um Rat gefragt habe.

Was mir Fremde auf Gutefrage.net raten, ist häufig schräg und manchmal hilfreich. Wie ich selbst Entscheidungen treffe, hab ich heute nicht gelernt. Wenigstens bin ich jetzt “VIP” – 1.000 Leute haben meine Fragen gelesen.

Am nächsten Morgen drücke ich dreimal auf Snooze.

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