Eine Frau steht auf einer Bühne und protestiert
Foto: Gina Bolle
Politik

Massenproteste in Indien: Diese Frauen demonstrieren gegen Vergewaltigungen

"Wir führen hier kein Leben. Das ist Überleben", sagt Studentin Rittika Ghosh, 21.

Frauen in ganz Indien rebellieren. In der Hauptstadt Neu-Delhi gingen zuletzt Tausende auf die Straßen. Die Angst vor sexueller Gewalt, die ihnen in Indien überall jeden Tag begegnen kann, ist extrem groß. Polizei und Justiz scheinen den Schutz von Frauen und Mädchen nicht gewährleisten zu können. Wie zuletzt der Fall einer 27-jährigen Tierärztin, die in der Nähe der Stadt Hyderabad von vier Männern vergewaltigt und danach angezündet wurde, gezeigt hat. Die Beschuldigten wurden ohne Gerichtsverfahren von der Polizei erschossen.

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Jeden Tag werden laut dem indischem Innenministerium 92 Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Denn in den meisten Fällen ist der Täter ein Familienmitglied, Nachbar oder Bekannter und es kommt gar nicht erst zu einer Anzeige. Feministinnen rufen deshalb auf Facebook zu Umzügen auf, verschicken PDFs von Postern mit Sprüchen wie "Dear Predators, your time is up" – "Liebe Täter, eure Zeit ist abgelaufen" oder "Hey India, stop raping us" – "Hey Indien, hör auf, uns zu vergewaltigen".

Auch heute treffen sie sich zum Protest. Staub und Smog hängen über Indiens drittgrößter Stadt Kalkutta. Die Stimme einer Frau dröhnt aus zwei Lautsprechern am Rand einer breiten Straße in der belebten Gegend Shyambazar im Norden der Megametropole. "Was wollen wir?", schreit sie mit hoher, angespannter Stimme und übertönt damit kurz die hupenden Rikschas, Taxis und Busse. Vor ihr sind Plastikstühle aufgereiht. Hinter ihr hängt ein weißes Plakat, auf dem rote Handabdrücke prangen und die englischen Worte "Feminists in Resistance". "Wir wollen Freiheit!", schreien vor allem die jungen Frauen im Publikum, manche tragen klassische Saris, andere Jeans und Shirt. Ein paar Männer sind stehengeblieben. "Und wenn wir die nicht bekommen?", fragt die Aktivistin. "Dann werden wir trotzdem weiterkämpfen!"

Wir haben in Kalkutta mit Frauen und Anhängern der Proteste über ihre Ängste gesprochen.

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Rikitta Ghosh, 21: "Mein Leben steht täglich auf dem Spiel."

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Foto: Francesco Giordano

"In unserem Land gibt es keine Gerechtigkeit. Ich fahre jeden Tag zwei Stunden mit dem Bus zu meiner Uni. Und jede Sekunde davon habe ich Angst: Was ist, wenn ich dieses Mädchen aus Hyderabad bin? Was ist, wenn ich vergewaltigt werde? Mein Leben steht täglich auf dem Spiel. In unserer Gesellschaft dreht sich alles um das Geschlecht. Und wer hat einen Vorteil davon? Männer. Wir stecken so tief in diesem Patriarchat fest, wir können uns nicht einmal frei auf der Straße bewegen.

Die Position von Frauen in unserer Gesellschaft wird immer schlechter. Wir brauchen Respekt. Ein Grundbedürfnis, das notwendig ist, um zu überleben. Ja, wir führen hier kein Leben. Das ist Überleben. Jeder Schritt, den wir machen, ist ein Kampf. Meine Eltern sind konservativ. Ich komme hierher, um zu demonstrieren, meine Eltern wissen nicht davon. Wenn sie es wüssten, würden sie mich nicht rauslassen. Sie hätten zu viel Angst, dass mir etwas passiert.

Jede Frau in Indien ist bereits als Kind belästigt worden. Selbst heute als ich mit dem Bus hier herkam, wurde ich belästigt: Ein Mann stand hinter mir. Er hat sich an mir gerieben. Ich weiß nicht warum, scheinbar hat es sein männliches Ego befriedigt. Wie kommt er darauf zu denken, es sei OK, mich anzufassen? Ich war in den letzten Wochen auf fünf Demos. Und es ist nur der Anfang. Aber es ist höchste Zeit für uns Frauen, sich auf die Füße zu stellen, um für Menschenrechte zu kämpfen."

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Soham Basu, 21: "Sex ist ein Tabu. Das muss sich ändern."

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Foto: Francesco Giordano

"Zuletzt haben wir eine Vergewaltigung erlebt, bei der die Menschen, die als Vergewaltiger bezeichnet wurden, ohne Gerichtsurteil von der Polizei getötet wurden. Warum bringt man einen Menschen um, und dann auch noch ohne ein Gerichtsverfahren? Alle gehörten angeblich einer Minderheit an. Einer der Männer war Muslim. Und Muslime werden in diesem Land gerade mithilfe des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes, der Citizenship Amendment Bill, gezielt ausgerottet.

Was die Regierung eigentlich tun muss? Herausfinden, warum Menschen vergewaltigen! Das Problem ist: In unseren Schulen, in unserem Unileben existiert keine Sexualerziehung. Sex ist ein Tabu. Das muss sich ändern. Warum mich das als Mann beschäftigt? Ich bin schwul. Ich passe nicht in die maskuline Schublade. Gerade Menschen, die queer sind, Transfrauen, Dalit, also laut Kastensystem sogenannte 'Unberührbare', die am unteren Ende der Pyramide stehen, müssen in die Frauenrechtsbewegung einbezogen sein. Weil es hier um Menschen geht, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden.

Ich zähle gar nicht mehr, auf wie vielen solcher Proteste ich dieses Jahr schon war. Weil ich glaube, dass das der einzige Weg ist, um Massen zu mobilisieren. Und um zu zeigen, worauf wir gerade zusteuern."

Amrita Howlader, 33: "Männer leiden am stärksten unter dem Patriarchat."

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Foto: Francesco Giordano

"Ob ich schon mal belästigt wurde? Ich will nicht sagen, es ist 'normal' in Indien, aber für viele ist es das. 'Ich vergewaltige dich', ist ein Spruch, der seine Bedeutung verliert. Den Jungs einfach so auf der Straße sagen, wenn ein Mädchen keinen Bock auf sie hat, das ist gefährlich.

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Ich will aber nicht nur die Männer beschuldigen. Es liegt an der Art, wie sie erzogen werden. Das Erste, was passieren muss: Mädchen und Jungen müssen gleich aufwachsen. Es muss für jeden möglich sein, selbstbestimmt zu sein. Der zu sein, der sie sein wollen. Nur weil ein Junge sich beispielsweise wie ein Mädchen benimmt, darf er nicht unterdrückt werden.

Über Sex wird in Indien nie gesprochen, Männer leiden darunter. Manchmal habe ich das Gefühl, Männer leiden sogar am stärksten unter dem Patriarchat. Weil sie so viel unterdrücken müssen. Wenn sie jemanden gut finden, oder einfach Sex wollen, können sie das der Frau hier niemals so sagen. Sie müssen ihr zuerst sagen: Ich liebe dich. Und dann am besten heiraten. Sex ist sonst Tabu. Dieser Umgang ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist also die Gesellschaft insgesamt, die Art wie wir erzogen werden. Wenn immer gesagt wird: 'Unterdrücke deine Sexualität', dann, denke ich, passieren diese Dinge weiterhin.

Diese Art von Vergewaltigungen passieren seit Jahren. Und Vergewaltigung ist keine Frage von Bildung, es gibt viele der sogenannten 'Gentlemen' und einflussreiche Leute, die Vergewaltiger sind."

Pavel Chakraborty, 41: "Keine Autorität will dafür die Verantwortung tragen."

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Foto: Gina Bolle

"In den letzten fünf bis zehn Jahren haben die Fälle von Vergewaltigungen, Morden und Hinrichtungen in Indien zugenommen. Keine Autorität will dafür die Verantwortung tragen. Niemand nimmt sich dieser Probleme an. Deswegen sind wir heute zusammengekommen, um dagegen zu protestieren. Es muss sich etwas in unserer Gesellschaft ändern.

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Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen unterdrückt und von Männern dominiert werden. Die indische Kultur unterstützt diese Verhaltensweise. Genau wie die indische Politik. Frauen sollen Hausfrauchen sein, sie sollen sich nicht weiterbilden, sie sollen nicht ihre eigene Karriere machen. Der Platz für Frauen soll das Zuhause sein, da wäre es auch sicher.

Das wird jungen Menschen vorgelebt. Sie wachsen mit solchen Rollenbildern auf. Und mit den Bildern, Videos und Nachrichten von Vergewaltigungen, von Gewalt. Aus diesen Kindern werden Erwachsene, die wieder die gleichen Verhaltensweisen zeigen. Wir wollen diesen Kreis durchbrechen.

Ich habe selbst eine Tochter. Sie ist fünf Jahre alt. Ich erziehe sie als Menschen, nicht als Frau. Auch nicht als Mann oder sonst nach einem bestimmten Gender. Sondern einfach als Mensch. Sie soll jede Chance in ihrem Leben kriegen, die auch Männer bekommen. Sie soll die gleiche Aufmerksamkeit, die gleichen Möglichkeiten, den gleichen Respekt bekommen. Von allen von uns."

Madhurim Ghosh, 30: "Nur in den großen Städten sind sich die Frauen ihrer Rechte bewusst."

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Foto: Gina Bolle

"Ich glaube nicht, dass sich die Situation in ganz Indien in den letzten Jahren verändert hat. Nur in den großen Städten sind sich die Frauen ihrer Rechte bewusst. In eher dörflichen Gegenden sieht das leider anders aus. Dort wissen die Frauen nichts von ihren Rechten. Ich selbst nehme an Protesten wie diesem teil, seitdem ich 20 bin.

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Das mache ich, weil ich mir wünsche, dass Frauen anerkannt werden, als gleichwertige Menschen. Ihre Rechte sollen respektiert werden. Das wünsche ich mir für jedes Mitglied dieser Gesellschaft. Ich bin also hier, um mich für Menschenrechte einzusetzen. Ende November wurde eine Frau in Hyderabad von vier Männer vergewaltigt und ermordet. Vor ein paar Tagen wurden alle vier Verdächtigen bei einer Gegenüberstellung von der Polizei erschossen. Ohne Gerichtsverhandlung. Solche Gegenüberstellungen gibt es nur, wenn die Verdächtigen von einer Minderheit kommen. Das ist Diskriminierung.

Zwar ist so etwas schon vorher passiert. Ebenso Massenvergewaltigungen und Diskriminierung gegenüber Frauen und Minderheiten. Aber die indischen Medien sind stärker geworden, berichten nun offener über solche Dinge. Gerade berichten sie besonders viel von solchen Taten. Auch die Vernetzung zwischen den feministischen Gruppen ist viel stärker geworden. Jetzt haben wir uns verbündet und versuchen gemeinsam etwas zu verändern. Vor zehn Jahren haben nur einzelne Gruppen ihre Stimmen erhoben, heute versuchen wir es gemeinsam. Alle Gruppen vereint."

Sutanoya Chakraborty, 31: "Dabei steckt ein Arzt zwei Finger in die Vagina, um zu schauen, ob die Frau noch Jungfrau ist."

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Foto: Gina Bolle

"Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es bei der Polizei in Indien abläuft. Jedes Mal, wenn ich eine Anzeige aufgeben wollte, wurde ich erstmal schikaniert. Wenn ich eine Straftat melden will, dann müssen sie das eigentlich aufnehmen und sich darum kümmern. Die Beamten wissen das, aber sie halten sich immer nicht daran. Ich musste schon von einem Polizeirevier zu einem anderen Polizeirevier gehen, weil sie die Anzeige verweigert haben.

Wenn Frauen zur Polizei gehen, um eine Vergewaltigung zu melden, dann werden sie erst mal gefragt: Mit wem warst du da? Warum warst du dort? Was hast du getragen? Und weitere solche Fragen, bevor sie fragen, was eigentlich passiert ist. Dann muss die Frau zu einem Arzt gehen, dort wird ein 'Zwei-Finger-Test' gemacht. Dabei steckt ein Arzt zwei Finger in die Vagina, um zu schauen, ob die Frau noch Jungfrau ist. Was soll das? Das ist doch irre! Eigentlich wurde der 'Zwei-Finger-Test' verboten, aber es passiert immer noch. Sie machen das tatsächlich immer noch!

Jetzt haben die Medien begonnen, mehr über Vergewaltigungen zu berichten. Das haben sie wohl gemacht, weil es immer mehr Menschen gab, die auf die Straße gegangen sind, um zu protestieren. Außerdem haben immer mehr Menschen auf Social Media angefangen, über Vergewaltigungen zu schreiben. Die #MeToo-Bewegung hat auch Indien erreicht. Zwar wird immer noch nicht über alle Straftaten berichtet, aber manche Vergehen sind in den Medien immerhin sichtbarer geworden. Es muss sich einiges in Indien ändern. Vor allem muss es mehr Sicherheit geben – nicht nur für Frauen, sondern für alle Geschlechter. Es muss möglich sein, dass wir selbst entscheiden, wann wir ausgehen, egal ob alleine, nachts und mit welcher Kleidung. Selbst nackt. Überleg mal, Indien ist ein verdammt heißes Land."

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