Die WM der Verstoßenen in Abchasien verdient mehr Aufmerksamkeit
Alle Fotos: Sebastian Relitz

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Die WM der Verstoßenen in Abchasien verdient mehr Aufmerksamkeit

Abseits des EM-Zirkus spielten Minderheiten wie Nordzypern, Kurdistan oder Somaliland am Schwarzen Meer um den WM-Titel und Anerkennung. VICE Sports besuchte ein Turnier voller Sehnsucht und Emotionen.

Ausgleich der Heimmannschaft in der 87. Spielminute. Ein Elfmeterdrama, in dem der Außenseiter schon mit zwei Toren Vorsprung führte und schließlich der frenetisch umjubelte Siegtreffer des Favoriten. Die Stimmung kennt kein Halten mehr, zu Hunderten stürmen die Fans das Spielfeld, gestandene Männer haben Tränen in den Augen. Was sich wie das wahr gewordene Klischee eines südamerikanischen Derbys anhört, ereignete sich letzten Samstag in einem Land, welches nur den wenigsten geläufig sein wird—Abchasien. Weitgehend abgeschnitten von der Außenwelt, zwischen Schwarzem Meer und großem Kaukasus, liegt der Schauplatz von grätschenden wie jubelnden Minderheiten. Und einer Fußballweltmeisterschaft.

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Dieses Turnier unterscheidet sich in vielen Punkten von der heute beginnenden EM in Frankreich. Kein einziges der 12 Teams, die vom 28. Mai bis 5. Juni in Abchasien antraten, wird in absehbarer Zukunft im Rahmen der UEFA oder FIFA aktiv sein können. Und so erklingen beim World Football Cup der Confederation of Independent Football Associations (CONIFA) Hymnen und werden Flaggen gehisst, die normalerweise auf internationalen Sportevents nicht zu hören und sehen sind. Das Starterfeld setzt sich aus vier nicht oder nur teilweise anerkannten Staaten (Abchasien, Türkische Republik Nordzypern, Kurdistan, Somaliland) und acht ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Minderheiten zusammen.

Das gastgebende Abchasien ist seit einem blutigen Sezessionskrieg Anfang der 90er Jahre faktisch von Georgien unabhängig. Dennoch stuft die überwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft es als Bestandteil Georgiens ein und weist eine Anerkennung zurück. Die weitgehende internationale Isolation der noch immer vom Krieg gezeichneten Region ist die Folge. Einzig Russland, Venezuela, Nicaragua und das kleine Inselatoll Nauru erkennen Abchasien als unabhängigen Staat an.

Insbesondere das Verhältnis zum übergroßen nördlichen Nachbarn ist schwierig. Russland übernimmt die Grenzsicherung zu Georgien, bezuschusst den abchasischen Haushalt zu rund 50 Prozent und ist der zentrale Wirtschaftspartner. Trotzdem sehen viele Abchasen die wachsende Abhängigkeit kritisch und fürchten um ihre politische und kulturelle Eigenständigkeit. Jedoch bieten sich ihnen aufgrund der internationalen Isolation–abgesehen von den Beziehungen zur abchasischen Diaspora in der Türkei–kaum Alternativen.

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Inguri-Grenzübergang zwischen Georgien und Abchasien

Der World Football Cup und Abchasien, das war nicht von Anfang an eine uneingeschränkte Liebesgeschichte. Auf beiden Seiten gab es Vorbehalte. Innerhalb der CONIFA zweifelte man, ob unter den politischen Rahmenbedingungen eine WM in Abchasien durchzuführen und zu verantworten sei. Dies führte zu einem offenen ausgetragenen Streit und schließlich zum Rücktritt eines Vize-Präsidenten. Jedoch habe man von Anfang an die volle Unterstützung der abchasischen Regierung gehabt und die Begeisterung der Leute im Land gespürt, betont der deutsche Generalsekretärs der CONIFA, Sascha Düerkop. Dies hat letztlich auch mit den Ausschlag zugunsten Abchasiens gegeben. Auf abchasischer Seite wurden zum einem die Kosten für das Event kritisiert, die in der angespannten wirtschaftlichen Lage doch besser anders investiert werden sollten. Zum anderen stelle man sich bei dem Turnier auf eine Stufe mit Gruppen ohne Eigenstaatlichkeit und schwäche damit das eigene Anerkennungsstreben.

Von diesen Zweifeln ist zu Beginn des Turniers nicht mehr viel zu spüren. Interessiert, wenn auch etwas verhalten, strömen die Zuschauer zur Eröffnung. Spätestens mit dem Einlauf der Mannschaften weicht diese Zurückhaltung frenetischem Jubel und sorgt für den ersten Gänsehautmoment des Turniers. Sichtlich bewegt von der Stimmung geben die Spieler die Ihnen entgegengebrachten Emotionen zurück, wie die Kicker der norditalinischen Region Pandania, deren Liegestützenchoreografie von der Haupttribüne bewundert wird. Die darauffolgende opulente Eröffnungszeremonie der Gastgeber überrascht nicht nur die internationalen Beobachter und braucht sich vor den UEFA- und FIFA-Shows keineswegs zu verstecken.

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Eröffnungsfeier der WM in Abchasien

Das sportliche Niveau der Teilnehmer unterscheidet sich teilweise beträchtlich, wie beim mühelosen 12:0 Vorrundensieg von Westarmenien gegen die Chagos Inseln deutlich zu erkennen ist. Während für die schwächeren Teams der olympische Gedanke klar im Vordergrund steht, bieten die Favoriten aus Pandia, Kurdistan, Nordzypern, Abchasien und die überraschend starke Truppe von Panjab schnellen und technisch versierten Fußball. Die Mannschaften setzen sich aus reinen Amateuren, Halbprofis und Vollprofis zusammen. In den Reihen Kurdistans finden sich sogar Spieler, die regelmäßig in der Asiatischen Champions League spielen. Schnell wird klar: die CONIFA WM ist kein Turnier für Thekentruppen. So unterschiedlich das Niveau der Spieler, so verschieden auch die zwei Spielstätten. Während das 2015 erbaute Dynamo Stadium in der abchasischen Hauptstadt Suchumi als kleine moderne Arena alle FIFA-Auflagen erfüllen soll, versprüht das Daur Akhvlediani Stadium in Gagra, etwa 80 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, einen eher morbiden Charme.

Auch wenn der Sport klar im Zentrum des Turniers steht, spielen politische Ambitionen und das Streben nach Anerkennung für viele Spieler und Fans eine große Rolle. Besonders bei den gastgebenden Abchasen überwiegt die Freude darüber, der Welt ein anderes, positiveres Gesicht ihres Landes zu präsentieren. Die WM und das enorme Interesse internationaler Medien sei eine Möglichkeit, Isolation zu überwinden und ein differenzierteres Bild Abchasiens zu zeichnen. So sieht es auch Astamur Logua, der zusammen mit ein paar Freunden an der Strandpromenade von Suchumi in Eigeninitiative eine Fan Zone aufgebaut hat: „Die WM ist eine große Chance für Abchasien, der Welt zu zeigen, dass wir existieren – und es ist gut für die Menschen".

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Seine Fan Zone hat mit Public Viewing am Brandenburger Tor nicht viel gemeinsam. Auf dem Dach einer zerfallenen Seebrücke stehen hier gut 60 Stühle und ein paar Sitzgarnituren vor einer Leinwand und warten auf Gäste. Aus einem kleinen Kiosk heraus werden Kuchen, Softdrinks, Wein und Cognac gereicht. Zum Derby und wichtigsten Spiel der Vorrunde zwischen Abchasien und der Mannschaft von West Armenien strömen die Zuschauer erst spät, aber zahlreich auf das Pier. Astamur ist stolz auf die WM und seinen Beitrag. Er erhebt sein Glas, holt zum Toast aus und dankt Gott, dass sich unsere Wege hier kreuzen.

Die Fanzone des CONIFA World Football Cups in Abchasischen

Herzlich und direkt ist die Beziehung zwischen Fans und Spielern. Alle Spieler werden auch bei weniger guten Leistungen gefeiert wie internationale Stars und von Schulkindern umlagert. Besonders beliebt sind Autogramme—auf T-Shirts, Unterarme und Handyschalen—von den exotischeren Teams wie den United Koreans of Japan und Somaliland. Balljungen nutzen gar eine Spielunterbrechung zum spontanen Elfmeterduell und Erinnerungsfotos mit dem Torwart Somalilands, der sich über den starken Zuspruch der jungen Fans sichtlich freut: „Torwächter scheinen hier besonders beliebt zu sein, während bei uns immer alle nur in den Sturm und Tore schießen wollen", erzählt er mit einem breiten Grinsen. Obwohl er wie große Teile der Mannschaft in England wohnt, ist seine Verbindung in die Heimat ungebrochen: „Wir sind stolz unseren Sieg für Somaliland geholt zu haben", erklärt er nach dem 3:2 Sieg über die Chagos Inseln. „Umso mehr Siege und Punkte wir holen, umso bekannter wird Somaliland und umso mehr Menschen erfahren von unserem Schicksal. Am Ende des Tages geht es um die Anerkennung unseres Landes."

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Obwohl viele der angetretenen Mannschaften aus Konfliktregionen stammen, ist die Stimmung zwischen den Teams sehr herzlich. Das ist auch einer der schönsten Turniereindrücke von Sascha Düerkop: „Hier spielen, feiern und tanzen Kurden, Türken und Armenier gemeinsam und politische Konflikte geraten in den Hintergrund. Das ist der Spirit von CONIFA. Wir wollen Brücken bauen und Konfliktgrenzen überwinden."

Fünf Spiele in acht Tagen sind es für das abchasische Team bis in das Finale. Mit jedem Spiel wird die Begeisterung größer, die Stimmung ausgelassener und der Andrang auf das Dynamo Stadion höher. Obwohl alle Spiele der Heimmannschaft schon lange ausverkauft sind, finden immer mehr Leute den Weg ins Stadium. Abchasien ist ein kleines Land, man kennt sich und findet Wege um an weitere Karten und Akkreditierungen zu kommen oder einfach so Eintritt zu erlangen. Zum Finale strömen mindestens 7.000 Menschen in das offiziell für 4.300 Zuschauer ausgelegte Stadium. Auf Treppen, Gängen, Mauern und im Innenraum drängen sich die Fans. Die große Zahl anwesender Polizisten versucht nur zögerlich die Lage zu ordnen. Heute sind sie eher Fans als Ordnungshüter. Überall werden abchasische Fahnen geschwenkt, sind bemalte Gesichter zu sehen und eine Trommlergruppe gibt es auch. Hier erinnert wieder vieles an die Bilder, die wir von vergangenen Welt- und Europameisterschaften kennen und ab heute in Frankreich beobachten können. Nur wird man an diesem Sonntagabend in Suchumi das Gefühl nicht los, dass alles noch ein bisschen emotionaler und extremer ist.

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Die abchasische Mannschaft und dieses Turnier scheinen die tiefe Sehnsucht nach Anerkennung zumindest für eine Woche zu befriedigen zu können. Nach einem an Dramatik nicht zu überbietenden Spielverlauf findet das Finale gegen Panjab mit dem letzten verwandelten Elfmeter des abchasischen Spielmachers zum 6:5 ein denkwürdiges Ende. Unter ohrenbetäubenden Jubel stürmen die begeisterten Fans den Platz, Medaillen werden an alle Mannschaften überreicht, unter Konfettiregen und Feuerwerk der Siegerpokal in den Himmel gereckt und der folgende Tag kurzerhand zum Feiertag erklärt. Ein besonderes Turnier geht zu Ende am Schwarzen Meer. Ein Turnier, das zeigt, wie ursprünglich und direkt Fußball sein kann und ein Turnier, das deutlich macht, wie Sport Isolation und Konfliktgrenzen zumindest zeitweise überwinden kann.

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Alle Fotos: Sebastian Relitz