Als Elsa ihren Valen das erste Mal traf, war er nicht wirklich gut auf sie zu sprechen. “Er war so unfassbar misstrauisch und ich fand ihn zu Beginn total zum Kotzen”, erzählt die 31-jährige Künstlerin. “Doch dann lernte ich ihn mehr und mehr kennen, und er ist einfach total nett, charmant und fürsorglich.” Valen Shadowbreath ist ein rothaariger Mischling aus Dämon und Mensch. Jahrtausendelang hat er in einem Krieg gekämpft und wurde in die Dämonenwelt entführt. Vor allem ist er aber eins: nicht real.
Es ist 13 Jahre her, dass sich Elsa in den Krieger aus dem Spiel Neverwinter Nights: Hordes of the Underdark verliebte. Doch auch heute noch kommt sie ins Schwärmen, wenn sie von ihm erzählt: “Ich hab das Spiel als Teenager das erste Mal gespielt und mit Mitte 20 dann noch mal – und ich war jedes Mal total verknallt. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das noch mal weggeht.” Immer wieder musste sie nervös und freudig kichern, wenn sie mit Valen im Spiel interagierte. “Auch heute denke ich manchmal noch an ihn.”
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Elsa ist nicht die einzige Person, die Gefühle für einen fiktiven Charakter hegt. Auch die Studentin Sarah kennt es, Gefühle für eine Figur aus einem Spiel zu entwickeln. Sie wuchs mit Videospielen auf, verliebte sich aber erst vor acht Jahren in einen Spielcharakter. “Meine erste Videospiel-Liebe war Alistair aus Dragon Age: Origins“, sagt die 29-Jährige. Der junge “Graue Wächter” ist einer der ersten Begleiter, die man zur Seite gestellt bekommt, um die “Dunkle Brut” zu bekämpfen. Das Rollenspiel zeichnet ihn als sarkastisch, gutaussehend, aber unsicher genug, um nicht übermenschlich zu wirken – Qualitäten also, die auch im echten Leben auf viele Frauen anziehend wirken.
“Als ich ihn irgendwann mitten in einer Quest durch einen Fehlklick angesprochen habe, schenkte er mir eine Rose und sagte etwas Kitschiges.” Sarah wurde warm im Gesicht und sie errötete vor ihrem Bildschirm. “Da war’s um mich geschehen.”
Eine ähnliche, allerdings noch intensivere Erfahrung machte sie Jahre später beim dritten Teil der Fantasy-Rollenspiel-Reihe, Dragon Age: Inquisition. Dieses Mal mit dem blonden Cullen, der trotz optischer Schwiegersohn-Qualitäten eine schwierige Vergangenheit hat. “Obwohl ich ihn eigentlich nicht als Partner im Spiel wollte, verliebte ich mich trotzdem in ihn und seinen sanften, leicht nerdigen, emotionalen Charakter”, erzählt sie. “Als er mich nach der für mich anstrengendsten und längsten Quest zum Tanz bat, habe ich vor Freude geweint.”
Dass sich erwachsene Frauen in fiktive Charaktere verlieben, ist tatsächlich nicht so ungewöhnlich, wie es im ersten Moment klingen mag. Dr. Elisa Mekler von der Universität Basel ist Forschungsleiterin des Schwerpunkts “Mensch-Maschine Interaktion” an der Fakultät für Psychologie und selber begeisterte Spielerin. Als sie die Erfahrungsberichte von Elsa und Sarah hört, ist sie nicht überrascht. Auch wenn es noch wenige empirische Forschungsarbeiten zum Thema gebe, kenne die Wissenschaft durchaus ähnliche Emotionen von anderen Medien.
“Man kennt es auch aus Büchern, Filmen und Serien, dass manche eine Schwärmerei entwickeln. In der Medienpsychologie spricht man dann von ‘parasozialer Interaktion’”, erklärt die Wissenschaftlerin. Das Besondere bei Spielen sei dabei, dass man hier eine direkte Interaktion erleben könne, etwas, das unser Spielerlebnis durchaus verstärke. “Gerade bei Romance-Games, Dating-Simulatoren oder Fantasy-Rollenspielen reagieren die Figuren – wenn auch vorprogrammiert und vorgeschrieben – auf das Handeln des Avatars.” Dies schaffe gefühlte Nähe. In vielen Spielen gibt es nicht nur Freundschaften im Spiel, sondern auch Beziehungen, One Night Stands und Trennungen. Eine Nähe zu den Spielfiguren, die sich auch in echten Gefühlen beim Spielenden niederschlagen kann.
Und das kann durchaus etwas Positives sein. “Bei Cullen steckte ich seit drei bis vier Jahren in einer unglücklichen Beziehung und ich konnte mit meinem damaligen Partner über nichts offen reden, was nicht zu seinen persönlichen Interessen gehörte”, erzählt Sarah. Die Beziehung zu Cullen gab ihr “damals Berechtigung, Stärke, Loyalität und Glücklichkeit, die ich in meiner echten Beziehung vermisste”. Tatsächlich geht der Kommandant sehr aufmerksam, ehrlich und fürsorglich mit der Spielerin um, weswegen er unter Fans als eine Art “Wohlfühl-Option” gilt.
“Wenn er ein echter Mensch wäre, würde ich auch mit ihm schlafen.”
Während man mit ihm Schach spielt, erzählt er von seiner Familie und seiner Kindheit. Der erste Kuss ist leidenschaftlich und in der letzten Erweiterung des Spiels kann man ihn sogar heiraten. Trotzdem: Gleichsetzen würde Sarah die Gefühle zu den fiktiven Figuren mit ihren realen Partnern nicht. “Es ist definitiv anders.”
Kerstin* ist Rollenspielfan und kennt es ebenfalls, für fiktive Charaktere zu schwärmen. Von Verliebtheit möchte sie allerdings nicht sprechen, weil es sich wirklich “ganz anders” anfühle. “Die größte Faszination hatte ich mit Vaas aus Far Cry 3. Mich hat diese Wut, dieses Verstörte, Abgefuckte irgendwie sehr berührt”, erzählt sie. Vaas ist einer der Bösewichte im Spiel, ein drogensüchtiger Pirat, der ein beinahe obsessives Verhältnis zur Hauptfigur aufbaut. “Es gibt diese eine Cutscene, wo er einen wirren Monolog über das schwierige Verhältnis zu seiner Familie hält. Als stark traumatisiertes Scheidungskind habe ich da richtig Gänsehaut bekommen.”
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Auch Joel, der ältere Protagonist des apokalyptischen Survival-Spiels The Last of Us, habe sie angesprochen. Man spielt nicht mit Joel, sondern als Joel, und lernt ihn so ziemlich gut kennen. Wirkt er am Anfang noch verschlossen und ständig schlecht gelaunt, offenbart sich mit fortschreitendem Spielverlauf ein ziemlich komplexer Kern. “Bei Joel ist es wahrscheinlich diese Mischung aus fürsorglich und verlässlich sein, aber auch seiner Bereitschaft, gewalttätig zu werden, um seine Liebsten zu retten”, glaubt Kerstin. “Und der Bart. Wenn er ein echter Mensch wäre, würde ich auch mit ihm schlafen.”
Dass die Person vor dem Bildschirm überhaupt so eine große emotionale Projektionsfläche hat, liegt an Menschen wie David Gaider. Der Creative Director bei Beamdog arbeitete früher für Videospielentwickler wie BioWare und schreibt seit fast zwei Jahrzehnten Storys und Charaktere in Spielen. Einer davon ist Alistair aus Dragon Age:Origins.
“Die Romances in der Dragon Age Reihe hatten von Anfang an sehr viele Fans. Für manche sind die Charaktere und Romances sogar der Hauptgrund, warum sie die Spiele spielen”, sagt Gaider. Von Fans wird er nach eigener Aussage immer wieder auf die Figuren angesprochen und bekommt Fanart und Fanfictions zugeschickt.
Er erklärt, dass es bei Charakteren, mit denen der oder die Spielende eine Beziehung eingehen kann, häufig verschiedene Muster und Archetypen gebe – schließlich sollen sich die verschiedenen Romanzen nicht zu ähnlich anfühlen.
Bei Sarahs Alistair habe er beispielsweise versucht, einen Charakter zu schreiben, der ein “Woobie” sei, also jemand, mit dem wir Mitleid empfinden. “Er ist etwas trottelig und nicht sehr selbstsicher. Bei allen, die das liebenswert finden, löst das einen Beschützerinstinkt aus”, sagt Gaider. Man findet den Charakter also liebenswert, möchte deshalb nicht, dass ihm etwas Schlechtes passiert, und fühlt mit.
Damit sich das organisch und “echt” anfühlt, steht vor einer virtuellen Beziehung aber erst einmal die sich aufbauende Freundschaft. Wäre es der einzige Zweck der Figur, als Romance-Option für die Spielerin oder den Spieler herzuhalten, könne sie nicht für sich allein stehen. “Ich mache es häufig so, dass ich die Charaktere an den Spielerinnen und Spielern interessiert sein lasse”, erklärt er den Schreibprozess. Seine Figuren stellen also auch Fragen und reden nicht nur über sich selbst. Das sorge für die Illusion, dass der fiktive Gegenüber Gefühle für einen hege. “Die Charaktere äußern dann, dass sie Zeit mit dir verbringen wollen und warten nicht nur darauf, dass du sagst, dass du mit ihnen zusammen sein willst.”
Wenn Entwickler dafür sorgen, dass die spielende Person viel Zeit mit der Figur verbringt und sie so besser kennenlernt, können sie der Verliebtheit sogar ein Stück weit nachhelfen. “Das ist ganz wichtig, um eine Grundbasis zu schaffen”, bestätigt Mekler. Auch Entscheidungen, die man für die Charaktere treffe, seien nicht zu unterschätzen. Könne man maßgeblich an der persönlichen Entwicklung der Figur im Spiel mitwirken, schaffe man eine emotionale Nähe zum Spielcharakter.
Intimität macht verletzlich. Wer schon einmal (unglücklich) verliebt war, weiß, dass eine Schwärmerei auch in Trauer, Verlust oder Wut umschlagen kann. Eine Entwicklung, die auch dann passieren kann, wenn die Person, in die man Gefühle gesteckt hat, nicht echt ist.
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“Eine meiner besten Freundinnen hat Dragon Age: Origins als Elfe gespielt. Das bedeutet, dass Alistair, wenn man ihn zum König macht, mit einem Schluss macht”, erinnert sich Gaider. “Sie hat mich um 4 Uhr morgens angerufen, weil sie so wütend war.” Solche Gefühlsausbrüche sind für ihn das schönste Kompliment, das er bekommen kann. “Wenn du sagst ‘Ich heule weil Alistair mit mir Schluss gemacht hat’, höre ich nur: ‘Du hast diesen großartigen Charakter geschrieben und ich liebe ihn so sehr, dass ich jetzt sehr emotional werde.’”
So negativ solche Gefühle auch klingen mögen, sie bereichern doch das Spielerlebnis: In einer 2016 erschienenen Studie untersuchte Mekler inwiefern negative Emotionen wie Trauer und Wut in Videospielen das Spielerlebnis prägen. Das Ergebnis: Spielerinnen und Spieler schätzen die Spiele gerade auch dann, wenn sie bei ihnen die gesamte Palette der Gefühle auslösen. Mekler kennt Probanden, “die seit zehn Jahren in einer festen Beziehung sind und trotzdem begonnen haben zu weinen, als die andere Figur Schluss gemacht hat”.
Bedenklich würden diese Emotionen erst dann, wenn die Liebe zur fiktiven Person auch das reale Leben bestimmt. Wenn das ganze Leben nur noch nach der Figur ausgerichtet würde zum Beispiel, oder das eigene Wohlbefinden darunter leide. “Es würde dann kritisch werden, wenn man so sehr eine Videospielfigur idealisiert, dass keine echte Beziehung dagegen ankommen kann”, erklärt Mekler.
“Leute, die moralisch fragwürdig und irgendwie psychotisch wirken, haben auf mich auch im echten Leben eine sehr starke Anziehungskraft.”
“Mir wurde von Leuten schon gesagt, dass sie alle Männer mit Alistair vergleichen und deswegen niemanden daten können”, ergänzt Gaider. “Ich finde das traurig. Eigentlich ist er doch ein Kind im Körper eines Erwachsenen.”
Dass Frauen sich in Charaktere verlieben, mit denen sie im wahren Leben eher ungern zusammen wären und die Mängel des fiktiven Charakters idealisieren, ist jedoch die Ausnahme. Zwar gibt es – wie generell beim Thema – bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen dazu. Mekler erzählt, dass laut aktuellen Erkenntnissen aber gerade die Spielenden, die sich in Videospielfiguren verlieben, “eigentlich oft sehr wohl zwischen Spiel und Realität unterscheiden” könnten.
Dass sich unsere virtuellen Beziehungen und unsere realen Vorlieben gegenseitig beeinflussen, ist trotzdem nicht ausgeschlossen. Laut der Expertin sei es durchaus möglich, “dass schon in Teenagerjahren, vielleicht mit Videospielfiguren als erste Schwärmereien, unsere Präferenzen in realen Partnern mitgeprägt werden”. Umgekehrt spiegelten sich unsere Präferenzen in echten Partnern bis zu einem gewissen Grad in den Figuren wider.
“Oft haben wir Muster oder Vorstellungen, die unser Traumpartner mit sich bringen sollte. Das können äußerliche Merkmale, was uns sympathisch ist, oder auch uns wichtige Werte sein”, erklärt die Psychologin. Und die Vorlieben für bestimmte Persönlichkeiten bilden sogenannte mentale Modelle, die unsere Anziehung zu bestimmten Personen prägen. “Wenn wir unsere favorisierten Muster bei einer Figur in einem Spiel antreffen, dann wird das mentale Modell wieder aktiviert. Das kann dann dazu führen, dass sich Sympathie oder sogar Verliebtheit einstellt.” Anders gesagt: Es ist vollkommen normal, Gefühle für fiktive Figuren zu entwickeln.
Kerstin kann das bestätigen: “Leute, die moralisch fragwürdig und irgendwie psychotisch wirken, haben auf mich auch im echten Leben eine sehr starke Anziehungskraft.”
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Trotzdem gibt es für Partnerinnen und Partner keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Bei den meisten Frauen dürfte die virtuelle Verliebtheit keine negativen Folgen für ihre Beziehung haben. “Meine Schwärmerei war immer eher etwas Separates auf der Seite”, sagt Sarah. “Wie ein richtig guter Film oder wie Musik, die ich gerne höre.” In vielen Beziehungen würde zudem über die Schwärmerei gesprochen, “oft mit einem Augenzwinkern”, erklärt Wissenschaftlerin Mekler. Letztlich seien diese gelebten Gefühle für fiktive Figuren eben auch eine Art Hobby, das man beispielsweise dadurch teilen kann, indem man sich zusammen Fanart anguckt.
Auch Sarah hat sich dazu entschlossen, ihre Videospiele-Lieben mit ihrem Freund zu teilen, der bisher glücklichsten Beziehung ihres Lebens. “Ich habe ihm von der Romanze erzählt und auch Teile davon gezeigt”, berichtet sie. “Er hat jetzt angefangen, Dragon Age zu spielen, um mitreden zu können.”
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