Montagmorgen, 7:30 Uhr, vor dem ersten Kaffee: Ich scrolle müde durch meine Twitter-Timeline, zwischen einem Delfin-GIF und einer unglaubwürdigen Anekdote über einen besonders schlagfertigen Vierjährigen entdecke ich einen Tweet der Sängerin Neko Case. Sie schreibt: “Wäre es nicht cool, wenn wir unsere Vergewaltigungs-Geschichten nicht teilen müssten, um unsere Rechte und uns selbst zu legitimieren?”
Ich nicke. Der Tweet fasst etwas in Worte, das schon länger in mir arbeitet. Er erklärt, wieso ich mich trotz meiner Gewalt-Erfahrungen nicht zu #metoo und #whyIdidntreport äußere – obwohl ich Feministin bin.
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Es ist nicht so, dass struktureller Sexismus am vergangenen Wochenende entdeckt wurde: 2013 gab es #aufschrei; 2017 fingen Betroffene an, ihre Erfahrungen mit Belästigungen und sexualisierter Gewalt unter #metoo zu teilen; nun schreiben sie ihre Geschichten unter #whyIdidntreport auf. Ich bewundere die Frauen und nicht-binäre Personen, die sich der Öffentlichkeit so öffnen. Aber es ärgert mich, dass die Verantwortung auch nach Jahren der Aufklärung noch immer bei den Betroffenen liegt.
Ich will meine schmerzhaftesten Erlebnisse nicht vor Jochen aus Schwabingen auf meinem Twitter-Account zerlegen müssen, nur damit der erkennt: Sexismus ist real. Körperliche oder sexualisierte Gewalt sind für Betroffene nicht nur traumatisch, während sie passieren. Vielen fällt es auch lange danach schwer, darüber zu sprechen. Aus Scham- oder Schuldgefühlen, oder einfach, weil es sie triggert, die Angst, die Schmerzen und die Scham beim Erzählen noch einmal zu durchleben.
Dabei sollten wir den Scheiß eigentlich nicht ständig wiederholen müssen, damit Täter ihr Verhalten reflektieren. Und wenn wir es doch tun, können wir dafür mindestens Dankbarkeit und die Bereitschaft zur Selbstkritik verlangen. Stattdessen stürzen sich empathielose Hundesöhne auf die Nutzerinnen, überschwemmen deren intime Erfahrungen mit weinerlichen #notallmen-Kommentaren und wiederholen mantrahaft, dass sie ja nun wahrscheinlich “nie wieder flirten dürften”.
Kampagnen-Hashtags sind Empowerment für Betroffene
Betroffenen kann es viel Kraft geben, ihr Erlebtes unter aktivistischen Hashtags zu teilen – oder zumindest die Geschichten anderer zu lesen: Sie sehen, dass sie nicht alleine sind und finden unter ihnen eine Community, mit der sie sich öffentlich oder privat über Gewalterlebnisse oder sexuelle Belästigung austauschen können. Hashtag-Kampagnen sind in erster Linie empowernd für Betroffene. Aber sie haben auch die Macht, sexistische Arschlöcher wie Harvey Weinstein aus den lederbezogenen Drehstühlen ihrer Penthouse-Büros zu heben.
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Frauen aus allen möglichen Berufsgruppen haben unter #metoo gezeigt, wie Männer ihre Positionen ausnutzen, um Grenzen zu überschreiten. Marginalisierte Personen haben mit #metwo und #mequeer darauf hingewiesen, wie sie aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Sexualität, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion zum Teil sogar Mehrfach-Diskriminierung erleben. Und Betroffene haben bei #whyIdidntreport erklärt, dass sie sich mit diesen Erfahrungen in der Gesellschaft und selbst bei der Polizei nicht immer ernst genommen fühlen.
Sicherlich reflektieren manche Nutzer und Nutzerinnen ihr Verhalten, seit sie die Geschichten unter den Hashtags gelesen haben, mehr als zuvor. Doch Gewalt an Frauen ist eine Realität, die uns auch ohne Hashtags und explizite Erfahrungsberichte geglaubt werden sollte.
Beweise gibt es schließlich genug: Bei einer Prävalenzstudie des Familienministeriums [PDF] aus dem Jahr 2004 sagten 40 Prozent der befragten Frauen, sie hätten seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche oder sexualisierte Gewalt erfahren. Mehr als die Hälfte (58 Prozent) wurden schon einmal sexuell belästigt. Jede vierte Frau hat laut Familienministerium körperliche oder sexualisierte Gewalt in einer Partnerschaft erfahren.
Ihr braucht dennoch Details? Im Jahr 2016 wurden in Deutschland über 81.000 Frauen von ihren Partnern vorsätzlich verletzt, davon fast 12.000 schwer. 357 Frauen wurden innerhalb einer Beziehung ermordet oder getötet. Das alles sind nur die Fälle, die in einem Jahr bei der deutschen Polizei angezeigt wurden.
Ich will mich niemandem emotional ausliefern
Auch ich habe in meinem Leben Dinge erlebt, die ich unter #metoo hätte erzählen können. Auch ich könnte unter #whyIdidntreport erklären, warum ich damit nicht zur Polizei gegangen bin. Und auch ich hätte unter den Tweets wahrscheinlich unqualifizierte und empathielose Kommentare lesen müssen, die mich für all das selbst verantwortlich gemacht oder mir die Erfahrungen abgesprochen hätten. Doch ich habe weder die Energie, mich dafür dumm von der Seite anlabern zu lassen. Noch bin ich dazu bereit, mich der Welt emotional so auszuliefern.
Als ich vergangenen Oktober die ersten #metoo-Tweets gelesen habe, habe ich überlegt, ob ich mich dazu äußere. Ich war nicht dazu bereit, diesen Teil meiner Privatsphäre aufzugeben.
Es ist nicht so, dass ich tief traumatisiert wäre. Aber ich habe auch noch nicht alles verarbeitet: Der Gedanke, dass meine Kolleginnen und Kollegen, meine Familie oder Leute auf der Straße mich sehen und an Dinge denken, die ich hinter einem Hashtag bei Twitter aufgeschrieben habe, bereitet mir Bauchschmerzen. Und ich will auch nicht bemitleidet werden.
Meine Leiden sind nicht der Opfer-Porno fremder Menschen. Ich erwarte, dass man mir und anderen Betroffenen auch ohne die Details glaubt, dass körperliche sexualisierte Gewalt ein Problem sind. Und falls ihr an dieser Stelle enttäuscht aus dem Artikel aussteigt, weil ihr voyeuristisch veranlagt seid und euch auf eine Vergewaltigungs-Geschichte gefreut habt, seid ihr Teil dieses Problems.
Unter dem Tweet von Neko Case schrieb eine Frau: “Betroffene haben nicht die Pflicht, ihre Erlebnisse zu teilen. Aber sie haben auch nicht die Pflicht, das Geheimnis eines Täters zu wahren.” Eine andere Nutzerin antwortete, dieser Tweet habe sie dazu gebracht, einen Mann anzuzeigen.
Für mich mögen Hashtags aktuell nicht der richtige Weg sein, meine feministischen Forderungen mit der Welt zu teilen. Für andere sind sie sogar der Anstoß, einen Täter juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Und diese Sprache verstehen sogar die, die noch nie von #metoo gehört haben.
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