“Eines Morgens bekomme ich eine SMS von dem Fahrlehrer. Er bittet mich, die Fahrstunde früher stattfinden zu lassen als geplant. Als ich bei ihm einsteige, sage ich dem Fahrlehrer, dass er ja von Glück reden könne, dass ich es rechtzeitig geschafft habe, unseren Termin wahrzunehmen, ich saß bis eben in meiner Badewanne. Er sagt: “Da hättest du ja mal ein Selfie schicken können.”
[…]
Ich: “Das ist aber arschkalt heute.”
Er: “Komm mal hoch.”
Ich: “Was denn?”
Er: “Ich wollte mal unter deinen Arsch fassen, ob er schon kalt ist.”
[…]
Ich: “Ich habe etwas Angst vor der Prüfung morgen.”
Er: “Ich schlafe heute bei dir, dann geht es dir morgen besser.”
Diese Dialoge und Szenen protokolliert die damals 19-jährige Marie. Drei Wochen nach ihrer Führerscheinprüfung zieht sie ein Blatt Papier aus ihrem Drucker und schreibt die Erlebnisse mit ihrem Fahrlehrer, wie sie sie erinnert, auf, jeden Kommentar, jede ihr unangenehme Berührung. Rund drei Monate lang war sie bei ihm im Unterricht: “Ich hatte schon morgens Angst, auch wenn ich meistens erst abends Fahrstunden hatte”, steht dort. “Er öffnete die Tür und mir kam ein Schwall aus warmer Luft und Herrenparfüm entgegen. Ich wusste: Es geht wieder los, meistens sofort mit Bemerkungen, oder er fasst mir einfach gleich ins Gesicht.”
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Als sie ihrer Großtante davon erzählt, rät die ihr: “Schreib das auf.” Am Anfang, sagt Marie, habe sie noch nicht gewusst, was sie mit ihrem Protokoll machen würde. “Ich fühlte mich eklig, aber ich konnte nicht benennen, was das war.” Einige Wochen später spricht ihre Lehrerin sie an: “Sie wirken so traurig”, sagt sie. Eine weitere Lehrerin fragt: “Ist alles OK?” Marie sagt: “Ich habe an meinem Verstand gezweifelt, ich dachte, ich bin hypersensibel.”
Sie will rausfinden, was mit ihr los ist, und fängt an zu googeln. Irgendwann stößt sie auf einen Text der Feministin Anne Wizorek, die 2013 den Hashtag #aufschrei ins Leben gerufen hat, unter dem Frauen von ihren Erfahrungen mit Sexismus und sexuellen Übergriffen im Alltag berichteten. “Dann habe ich erst kapiert, was passiert ist”, sagt Marie.
“Ich habe geweint wie noch nie zuvor”
Bei #aufschrei oder #metoo redeten wir über Hollywood, Büros, den Bundestag. Über die Fahrschule reden wir bisher nicht. Dabei ist es ein Ort, den fast jede junge Frau über Monate besucht, wenn sie erwachsen wird. Marie heißt eigentlich anders, aber sie möchte ihr Privatleben schützen. Alle Akten, die ihren Fall dokumentieren, liegen VICE vor. In den drei Jahren, die seit ihren Fahrstunden vergangen sind, haben sich Anwälte mit ihrem Fall beschäftigt, die Staatsanwaltschaft Braunschweig, der Fahrlehrerverband Niedersachsen, die Frauen- und Mädchenberatung für sexuelle Gewalt und die jetzige Sozialministerin Niedersachsens Carola Reimann (SPD). Maries Fahrlehrer unterrichtet noch immer.
Im Juli 2016 fordert der Fahrlehrer über seinen Anwalt, Marie solle eine Unterlassungserklärung unterschreiben. Mit ihrer Unterschrift soll sie sich dazu verpflichten, nicht mehr zu behaupten, er habe sich übergriffig verhalten. Marie geht mit dem Schreiben zur Frauen- und Mädchenberatung in Braunschweig. Als die Sozialpädagogin ihr dort die Tür öffnet, sagt Marie, habe sie geweint wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie habe vor Tränen nicht mehr richtig sprechen können. Die Sozialpädagogin sagt: “Sie war ein einziges Häufchen Elend.”
In Foren erzählen Dutzende junge Frauen von “unabsichtlichen Berührungen”, sie fragen: “Ist das normal?”
Es ist nie einfach, sich gegen unangenehmes, sexualisiertes Verhalten zu wehren, egal wie alt man ist. Aber es wird einfacher. Marie war 18, als sie mit ihren Fahrstunden begann. Heute ist sie im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Erzieherin. Sie hört gerne Seeed, hat drei Katzen, zwei Kaninchen und geht öfters mit dem Yorkshire Terrier einer älteren Nachbarin spazieren. Die Unterlassungserklärung unterzeichnet hat sie nie.
Rund 1,6 Millionen Menschen machten im vergangenen Jahr in Deutschland ihren Führerschein. Dieser Artikel kann keine Antwort darauf geben, wie viele Frauen während ihren Fahrstunden belästigt wurden. Darüber gibt es keine Statistiken. Aber es gibt zahlreiche Aussagen und mehrere Gerichtsprozesse, die zeigen, dass es so viele sind, dass wir uns damit beschäftigen sollten, was in diesen Autos passiert. Es erscheint geradezu absurd, dass wir es nicht längst getan haben. Denn die Fahrschule versammelt alles, was als klassischer Nährboden für Sexismus gilt: ein erhebliches Machtgefälle zwischen Lehrer und Schülerin, verstärkt durch Alter und Wissensvorsprung; eine Abhängigkeit – es geht für Teenager um sehr viel Geld – und räumliche Intimität.
Auch bei VICE: Der Vergewaltigungs-Prediger
In Foren erzählen Dutzende junge Frauen von vermeintlich “unabsichtlichen Berührungen”, von Kosenamen wie “Hase”, “Mäuschen”, “Baby”, “Schnecke” oder “Schatz”; sie fragen: “Ist das normal?”, “Macht mein Fahrlehrer mich an?” oder “Ist das schon sexuelle Belästigung?”. Sie schildern: Berührungen am Oberschenkel, seine Hand auf der Hand der Fahrschülerin beim Schalten, der Arm über der Lehne beim Ausparken, der dann bis zur Schulter der Schülerin wandert; anzügliche Bemerkungen wie “du riechst Bombe” oder “beweg deinen kleinen Po” bis hin zu indirekten oder direkten Fragen nach Sex. Nur sehr wenige Userinnen schreiben, sie fänden die Sprüche und Berührungen gut. Die meisten schreiben, es sei ihnen unangenehm, einige sagen sogar, sie hätten Angst vor den Fahrstunden. Marie sagt: “Ich habe nie Nein gesagt. Ich dachte, ich muss das hinnehmen, weil alle das hinnehmen.”
Warum nur wenige Fälle vor Gericht landen
Erst im vergangenen Juli stand ein Fahrlehrer im niedersächsischen Wolfenbüttel vor Gericht, weil er zwei Fahrschülerinnen beleidigt und belästigt haben soll. Eines der Mädchen sagte aus: “Er hat mich umarmt, wenn wir uns gesehen haben, und anfangs fand ich das auch OK.” Aber irgendwann habe er angefangen, seine Hand über ihren Rücken bis zum Po hinunterzubewegen, schließlich habe er den auch berührt. Während der Stunden habe er seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt, sie gefragt, wie sie zu Analsex stehe und ob sie auf der Reeperbahn ihre Brüste zeige. Vor Gericht befragte der Verteidiger des Fahrlehrers die 18-Jährige so lange, bis sie in Tränen ausbrach.
“Ich musste mehrfach mit ihr rausgehen”, sagt Roswitha Gemke. Die Sozialpädagogin bei der Frauen- und Mädchenberatung Braunschweig hat die beiden jungen Frauen während des Prozesses begleitet. Sie war es auch, die Marie die Tür öffnete, als sie aufgelöst, mit der Unterlassungserklärung in der Hand, zur Beratungsstelle kam. Über die Mädchen in Wolfenbüttel sagt Gemke: “Sie wollten es schaffen auszusagen, aber es war heftig.” Während der Verhandlung behaupteten der Fahrlehrer und sein Verteidiger immer wieder, die Frauen hätten die “lockere Atmosphäre” falsch interpretiert: Die Berührungen seien bei Korrekturgriffen ins Lenkrad passiert, die Schülerinnen hätten von sich aus angefangen, über Sex zu reden, seien in tief ausgeschnittenen Oberteilen und kurzen Röcken zu den Stunden erschienen. Nach dem zweiten Prozesstag wurde das Verfahren eingestellt. Die beiden Frauen einigten sich mit dem Fahrlehrer außergerichtlich, er zahlte ihnen je 500 Euro und weitere 300 Euro an einen Tierschutzverein. Der Fahrlehrer ist damit nicht vorbestraft. Seine Fahrschule hat ihn zwar entlassen. An jeder anderen dürfte er weiterhin unterrichten.
Roswitha Gemke sagt, die beiden hätten auf ein Urteil verzichtet, um den Prozess so schnell wie möglich hinter sich zu bringen: “Aber trotzdem war es ein heilsamer Schritt, weil ihr Unrecht anerkannt wurde. Das hätte ich Marie auch gewünscht.”
“Was ist, wenn der Typ sich rächt?”
Maries Kampf beginnt mit einem Anruf im März 2015 beim Chef des Fahrlehrerverbands Niedersachsen, Dieter Quentin. Sie meldet sich bei ihm mit unterdrückter Nummer, weil sie damals noch Angst hat, ihr Fahrlehrer könnte davon erfahren. Aber Marie sagt, sie habe sich von Quentin ernst genommen gefühlt. Gegenüber VICE sagt Quentin heute, dass er den Fahrlehrer nie zur Rede gestellt habe, weil dieser kein Verbandsmitglied sei. “Und es ist ein unangenehmer Kollege, mit dem man sich ungern unterhält.”
So oder so könne er wenig unternehmen: “Wir dürfen niemanden vorverurteilen, solange es kein Gerichtsurteil gibt.”
Um als Fahrlehrer zu arbeiten, muss man älter als 22 Jahre alt sein und “geistig und körperlich geeignet”. Fahrlehrer müssen eine abgeschlossene Berufsausbildung haben und ein makelloses Führungszeugnis. “Wir können aber keinen Wesenstest machen”, sagt Quentin. Er habe Marie geraten, sich einen Rechtsbeistand zu nehmen.
Zunächst ruft Marie aber bei der Antidiskriminierungsstelle an. Dort warnt man sie davor, den Fahrlehrer anzuzeigen. Denn erstens gebe es keine Beweise, im Zweifelsfall stehe Aussage gegen Aussage. Zweitens sei die Gefahr zu groß, dass der Fahrlehrer sie wegen Verleumdung anzeigt.
Auch Maries Freunde und ihre Familie sind besorgt. “Was ist, wenn der Typ sich rächt?”, fragt ihre Oma.
“Ich wollte das erst nicht wahrhaben”, sagt Marie. “Dass ich jetzt aufpassen muss, obwohl mir doch was passiert ist. Da ist doch ein Fehler im System.”
In einem Urteil heißt es: “Der Fahrlehrer habe seine Hände absichtlich seitlich an ihren Brüsten bewegt”
Tatsächlich gibt es nur wenige Fälle, in denen Fahrlehrer verurteilt wurden oder ihre Fahrlehrererlaubnis wegen eines Übergriffes verloren haben. 2012 klagte ein 63-jähriger Fahrlehrer in Stuttgart gegen den Entzug seiner Fahrlehrererlaubnis. Er hatte seine damals 17 Jahre alte Schülerin gegen neun Uhr abends zu einem abgelegenen Sportplatz gefahren, unter dem Vorwand, mit ihr Einparken üben zu wollen, heißt es im Urteil des Verwaltungsgerichts. “Der Parkplatz sei dunkel und menschenleer gewesen”, wird die junge Frau in der Urteilsbegründung zitiert. “Er habe sie aufgefordert, den Motor auszuschalten […], da er sie massieren wolle. Da sie keine Möglichkeit gesehen habe, sich ihm zu entziehen, habe sie getan, wie von ihm gefordert. […] Der Kläger sei mit seinen Händen an ihrem teilweise entblößten Rücken entlang gefahren und habe seine Hände absichtlich seitlich an ihren Brüsten bewegt, wobei er diese teilweise umfasst habe.”
Das Amtsgericht sprach zunächst von einem “minder schweren” Fall. Und das, obwohl “sich seine Übergriffe über einen längeren Zeitraum hinzogen und sich im Laufe dieser Zeit immer weiter steigerten”. Seine Fahrlehrererlaubnis verlor der 63-Jährige trotzdem erst, nachdem bekannt wurde, dass er eine weitere Schülerin belästigt hatte.
Ein Fahrlehrer aus Heilbronn hatte Sex mit einer 15-Jährigen und urinierte ihr danach in den Mund
Einem anderen Fahrlehrer entzog das Neustädter Verwaltungsgericht 2008 die Fahrlehrererlaubnis erst, als 13 Anzeigen und förmliche Beschwerden wegen sexueller Belästigung gegen ihn vorlagen. Über fünf Jahre lang hatte er etwa die “vermeintlich erforderliche Korrektur des Sicherheitsgurtes […] dazu benutzt, den Brustbereich von Schülerinnen mit Händen oder Armen scheinbar zufällig zu berühren”, steht in dem Urteil, das VICE vorliegt.
Der drastischste bekannte Fall ist der eines damals 52-jährigen Fahrlehrers aus Heilbronn: Er hatte mit seiner 15-jährigen Schülerin geschlafen, ihr danach in den Mund uriniert und anschließend 100 Euro in die Hand gedrückt, wie der Stern 2008 rekonstruierte. Vor Gericht räumte er damals ein, diese Art von Sex sei “zu hart” gewesen, sie habe “irgendwann nicht mehr gewollt” – ein Teilgeständnis. Das Landgericht Heilbronn verurteilte den Fahrlehrer wegen sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen zu eineinhalb Jahren auf Bewährung und einem Schmerzensgeld.
Der Münchner Rechtsanwalt Alexander Stevens vertritt Menschen, die wegen sexueller Nötigung oder Missbrauch vor Gericht stehen. Dass bisher so wenige Fahrlehrer verurteilt wurden, habe zwei Gründe, meint er: Zum einen stünden Fahrlehrer und Fahrschüler rechtlich gesehen nicht in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis: “Das schützt den Fahrlehrer vor dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener.” Zum anderen sei sexuelle Belästigung bis zur Verschärfung des Sexualstrafrechs im November 2016 eben nicht strafbar gewesen.
Zu einer anderen Fahrschülerin soll er gesagt haben: “Nimmst du eigentlich viel, wenn du auf den Strich gehst?”
Obwohl auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Marie abrät, Anzeige zu erstatten, will sie im Februar 2016 noch nicht aufgeben. Wenn der Fehler im System liege, müsse man eben das System ändern, denkt sie. Sie besucht die Bürgersprechstunde der Braunschweiger SPD-Bundestagsabgeordneten Carola Reimann, die heute Sozialministerin in Niedersachsen ist. Reimann bestärkt sie, sich weiter zu wehren, und rät ihr, Frauen zu suchen, die ebenfalls Übergriffe desselben Fahrlehrers erlitten haben.
Marie trifft sich mit einem Mädchen, das auf der Facebook-Seite der Fahrschule bei den Bewertungen gepostet hatte: Das Fahren sei für sie eine Tortur gewesen. Sie sei angemeckert, erniedrigt und auch beleidigt worden.
Auch mit ihrer Freundin Lisa (Name ebenfalls geändert) spricht Marie über den Fahrlehrer, Lisa war bei ihm ebenfalls im Unterricht. Gegenüber VICE sagt Lisa heute: “Wenn ich zu schnell gefahren bin, hat er mir aufs Bein gehauen oder mich am Ohr gezogen.” Einmal habe er zu ihr gesagt: “Nimmst du eigentlich viel, wenn du auf den Strich gehst? Du bist bestimmt billig.” Lisa sagt, sie habe danach niemandem davon erzählt. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass diese Sprüche übergriffig und unangemessen waren.
“Woher soll sie das auch wissen?”, sagt Roswitha Gemke von der Frauen- und Mädchenberatung. “In dem Alter ist die weibliche Identität oft noch nicht so weit gefestigt, dass junge Frauen das bewusst reflektieren.” Hinzu komme die Abhängigkeit: Die Mädchen möchten den Führerschein möglichst schnell bekommen und nicht die Kosten in die Höhe treiben. Und sie seien meist alleine mit dem Fahrlehrer. “Das sind erschwerte Bedingungen, um sich solchem Sexismus selbstbewusst entgegenzustellen.” Gemke sagt, Fahrlehrern, die sich so verhalten, gehe es darum, Macht auszuüben: “Sie erhöhen sich, indem sie andere erniedrigen.”
“Bei sexueller Belästigung ist die Dunkelziffer hoch”
Der Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände zufolge gibt es “keine auch nur annähernd zutreffenden Zahlen” über Belästigung an Fahrschulen, einzelne Landesverbände berichten von “ein bis zwei bekannten Fällen im Jahr”. Bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat sich seit deren Bestehen neben Marie nur eine weitere Frau wegen sexueller Belästigung durch einen Fahrlehrer gemeldet, und das anonym, so eine Sprecherin. Allerdings sage das nichts über das tatsächliche Ausmaß solcher Vorfälle aus: “Bei sexueller Belästigung ist die Dunkelziffer hoch.”
Der Gleichbehandlungsanwaltschaft in Österreich sind mehrere Fälle bekannt. “Wir gehen aber auch von einem Underreporting aus”, sagt Ines Grabner-Drews, die in der Behörde arbeitet. Bei Vorträgen an Schulen höre sie immer wieder von dem Problem. Dass die Mädchen sich auch wegen sexueller Belästigung, die unterhalb der Schwelle des Strafbaren liegt, an die Gleichbehandlungsanwaltschaft – die Antidiskriminierungsstelle des österreichischen Kanzleramts – wenden können, wüssten viele gar nicht. Einmal habe sich ein Fahrlehrer anonym dort gemeldet. Er wollte wissen, wie er damit umgehen soll, dass sein Kollege permanent Schülerinnen belästige.
An einem Nachmittag im Mai 2016 klingelt das Festnetztelefon bei Maries Familie. Marie hebt ab, ihr Fahrlehrer ist dran. Danach protokolliert Marie das Gespräch:
“Marie, kannst du mir mal verraten, was ich dir getan habe, dass du so eklige Nachrichten über mich verbreitest?”
Ich beziehe kurz Stellung […] und erkläre ihm, dass ich sein Verhalten hochgradig unprofessionell fand.
Er: “[…] Das habe ich im Leben nicht gesagt und das gehört auch nicht in die Öffentlichkeit! […] Sonst kann ich den Leuten ja mal erzählen, was ich über dich weiß.”
Ich frage: “Was willst du den Leuten denn erzählen?”
Er antwortet: “Na, das sage ich dir doch nicht. […] Wenn du damit nicht aufhörst, steht bald mal ein blau-weißes Auto vor deiner Tür.” (Sein Auto ist blau-weiß.)
Ca. zwei Stunden später rief er erneut an und teilte mir in einem sehr aggressiven Ton mit: “Jetzt nochmal, dass da ein krankes Hirn hintersteckt, ist mir schon klar. Wenn ich noch einen Windzug höre, leite ich das alles an meinen Anwalt weiter.”
Sie setzt sich nach dem Anruf auf ihr Bett und ruft ihre Freundin an, erinnert sich Marie. Kurz darauf muss sie sich übergeben.
Maries Fahrlehrer sagt: “Das ist unglaublich. Das ist völlig haltlos.”
Der Fahrlehrer bestätigt gegenüber VICE, dass er Marie damals angerufen hat. Den Inhalt des Gesprächs, wie Marie ihn wiedergibt, bestreitet er: “Den Wortlaut kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe ihr nicht gedroht, das ist hirnrissig.” Er sagt das ganz ruhig. Er betont im Gespräch immer wieder, dass sie ihn ja hätte anzeigen können, hätte er ihr tatsächlich etwas Schlimmes angetan. Er glaube, der Grund für Maries Behauptungen sei ein anderer: Sie sei eine Tierschützerin, die ihn denunzieren wolle, weil er während der Fahrstunde eine Jacke mit Pelzbesatz getragen habe. Mit Maries aufgezeichneten Erinnerungen an die Fahrstunden konfrontiert, sagt er: “Das ist unglaublich. Das ist völlig haltlos. Hallo? Schon mal an den Altersabstand gedacht?”
VICE würde an dieser Stelle gerne Screenshots von der Facebook-Seite der Fahrschule einfügen, die Maries ehemaligem Fahrlehrer gehört. Screenshots, auf denen der Fahrlehrer mit sexuellen Anspielungen für Rabatte wirbt oder sich über den Fahrstil von Frauen lustig macht. Doch dann wäre er identifizierbar – presserechtlich wäre das problematisch. Womöglich könnte er dann die Veröffentlichung dieses Texts unterbinden und sogar Schadensersatz fordern. Und wie oft bei sexueller Belästigung oder sexistischem Verhalten steht Aussage gegen Aussage. Nur die Beteiligten wissen, was wirklich war.
Die Stadt Braunschweig droht Marie, ihr den Führerschein wegzunehmen
Anfang Juli 2016, rund eineinhalb Monate nach dem Telefonat, macht Marie gerade mit ihrer Familie Urlaub auf Fehmarn, als ihre Oma anruft, die in der Zeit den Briefkasten der Familie leert: Zwei Briefe seien angekommen. Der erste ist ein offizielles Schreiben der Straßenverkehrsabteilung Braunschweig. Frau T., “Fachbereich Bürgerservice und Öffentliche Sicherheit” schreibt:
“In meiner Funktion als Fahrlehrer- und Fahrschulaufsicht ist mir bekannt geworden, dass Sie […] Herrn [Name gelöscht] massiv in Misskredit bringen bzw. der sexuellen Belästigung beschuldigen. […] Ich habe aufgrund dieser schwerwiegenden falschen Behauptungen Herrn [Name gelöscht] geraten, Strafanzeige wegen Verleumdung und Rufmord gegen Sie zu stellen […]. Sollte es zu einer Verurteilung Ihrerseits kommen, werde ich prüfen, ob ich eignungsüberprüfende Maßnahmen gemäß § 11 Abs. 2 S. 1 Fahrerlaubnisverordnung gegen Sie einleiten muss.”
Kurz gesagt: Die Stadt Braunschweig droht Marie, ihr den Führerschein wegzunehmen, wenn sie sich weiter öffentlich wehrt. “Es fühlte sich an, als würde mir die Stadt in den Rücken fallen”, sagt Marie.
Der zweite Brief kommt von den Anwälten des Fahrlehrers: eine Unterlassungserklärung. Marie nimmt sich daraufhin selbst eine Anwältin, Gabriele Krüger, Fachanwältin für Familienrecht und Opfervertretung. Krüger rät ihr, die Unterlassungserklärung nicht zu unterzeichnen. Den Fahrlehrer anzuzeigen, hätte aber nichts gebracht, sagt die Anwältin heute: “Was er getan hat, fühlt sich für jemanden, der behütet aufgewachsen ist, nach sexueller Belästigung an. Der Typ ist ein Macho, er ist ein [mit dem Wort will sie nicht zitiert werden], aber strafrechtlich reicht das nicht.”
Am 14. September 2016 bekommt Marie Post von der Polizei: Ihr Fahrlehrer hat sie wegen Verleumdung angezeigt. Er behauptet, Marie würde herumerzählen, er habe ihr an die Brust gefasst.
Maries Anwältin antwortet der Staatsanwaltschaft, dass er ihre Brust angefasst hat, habe Marie nie gesagt. Auf vier Seiten schildert sie Maries tatsächliche Erinnerungen: Sprüche über gemeinsame Nächte, ihren “kleinen Arsch”, das ständige “Mäuschen” und “Häschen”. Die Anwältin schreibt: Falls “im Wege der ‘Stillen Post’ Gerüchte entstanden sind, so ist das nicht auf das Verschulden der Beschuldigten zurückzuführen”. Nur vier Tage nachdem sie dieses Schreiben abschickt, stellt die Staatsanwaltschaft Braunschweig das Ermittlungsverfahren gegen Marie ein.
Am schlimmsten, sagt Marie, sei es gewesen, wenn Leute ihre Erlebnisse verharmlosten
Und die Stadt? Warum drohte eine Verwaltungsmitarbeiterin Marie, ihr den Führerschein wegzunehmen? Ein Sprecher der Stadt Braunschweig antwortet auf Anfrage von VICE, er bedauere das Schreiben, es sei “unangemessen” gewesen und “in einer emotional sehr belastenden Situation zusätzlich erschwerend”. Die zuständige Mitarbeiterin habe ihr Vorgehen damals nicht abgestimmt und sei “streng ermahnt” worden. Heute arbeitet sie nicht mehr bei der Stadt.
Sprüche, an die sich Marie erinnert, wie “Wenn du nicht bestehst, versohl ich dir deinen blanken Arsch”, sind nach wie vor nicht strafbar. Allerdings: Für Frauen, die eindeutigere körperliche Belästigung erfahren haben, hat sich die Rechtslage verbessert. Im November 2016 trat das verschärfte Sexualstrafrecht in Kraft. Sexuelle Belästigung, ungewolltes Berühren von Po und Brüsten oder plötzliches Küssen ist nun strafbar: “Ich nenne das den Grapsch-Paragraph”, sagt die SPD-Politikerin Carola Reimann. “Das Strafmaß, eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, ist scharf”, aber es gehe eben auch darum, eine Botschaft zu senden, Frauen dazu zu ermutigen, sich zu wehren: “Die Anzeigebereitschaft wird steigen”, sagt Reimann.
Am schlimmsten, sagt Marie, sei es gewesen, wenn Leute ihre Erlebnisse verharmlosten. Wenn sie sagten: “Er hat dich doch nicht vergewaltigt.” Ihre Geschichte will sie auch deshalb öffentlich machen, um anderen Frauen Mut zu machen. Damit sie merken: Es ist nicht meine Schuld, es sagt nichts über mich aus, sondern nur etwas über den Täter.
“Das zu verstehen, hat mir geholfen, mit der Sache umzugehen”, sagt Marie. Von Zeit zu Zeit kämen die Erinnerungen aber noch hoch. Jedes Mal, wenn eines der Autos aus ihrer Fahrschule an ihr vorbeifährt.
Was du tun kannst, wenn dir dein Fahrlehrer zu nahe kommt, erfährst du hier. Willst du VICE deine eigene Geschichte erzählen, erreichst du uns unter Fahrschule@vice.com.