An Bahnhöfen verbringt niemand freiwillig mehr Zeit als unbedingt nötig. Da ist es konsequent, dass viele so hässlich sind. Aber es ist auch tragisch. Denn oft prägen Bahnhöfe den ersten Eindruck, den Reisende von einer Stadt gewinnen. Wenn man danach geht, scheinen viele deutsche Städte ihren Besucherinnen und Besuchern entgegen zu rufen: “Herzlich willkommen, bei uns bist du richtig, wenn du auf Tristesse, Belanglosigkeit und Uringeruch stehst.”
Es wird Zeit, dass jemand auf diesen Missstand hinweist. Denn dass euch Ästhetik am Herzen liegt, habt ihr schon in den Kommentaren zu unseren beiden Rankings der hässlichsten Unis Deutschlands gezeigt. Auch hier erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit und freuen uns auf weitere Hinweise zu erwähnenswerten Bausünden.
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5: Frankfurt (Main) Hauptbahnhof
Lasst euch nicht täuschen von der Pracht der Bahnsteighallen aus Glas und Stahl. Wer zu lange staunend stehen bleibt, wird vom nächsten Schwall Fahrgäste umgerempelt. Wo die Bahnsteige zur Bahnhofspromenade münden, entsteht ein unfreiwilliger Moshpit. Die Regeln zum Durchqueren des Bahnhofs lauten: Stechschritt, Tunnelblick und bloß keine freundlichen Gesten. Das hat einen Grund.
In Frankfurt sind Armut und Reichtum besonders sichtbar. Das ist ehrlich, und das ist hart. In einer idealen Welt würde das zu gegenseitigem Respekt führen. Im Hauptbahnhof Frankfurt führt das dazu, dass alle zutiefst voneinander abgefuckt sind.
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Im Bahnhof verbringen auch Menschen ihren Tag, denen es sehr dreckig geht. Eigentlich brauchen sie Geld, aber was sie bekommen, ist Verachtung. Viele reagieren mit Traurigkeit. Sie sitzen in den Katakomben der B-Ebene, einem fensterlosen, von Mäusen und Ratten bewohnten Ort mit niedrigen Decken, in dem es nach Urin und faulen Eiern riecht. Andere reagieren mit Wut. In der B-Ebene gibt es eine Drogerie, die den Tag wohl nicht ohne Security überstehen würde.
Auf der Rückkehr von einer Silvesterfeier am Neujahrsmorgen sah ich einmal auf einem Frankfurter Bahnsteig, wie ein Mann abwechselnd aus einem Tetrapack Weißwein trank und den Wein direkt wieder auskotzte. Prost Neujahr. Noch verzweifelter fühlt man sich nur als BahnComfort-Kunde in der DB-Lounge. Dort kann man auf roten Kunstledersesseln in konservativen Tageszeitungen blättern, Gratis-Kaffee schlürfen und – von oben bis unten angekotzt von den eigenen Privilegien – durchs Panoramafenster herabschauen. Auf Hunderte entnervte Menschen in der Bahnsteighalle, die zwischen den von Tauben vollgeschissenen Dächern der Imbissbuden drängeln.
4: Berlin Hauptbahnhof
Vielleicht haben die Planer einfach etwas missverstanden und glaubten, Bahnhöfe müssten besonders zugig sein. In dieser Hinsicht haben sie ganze Arbeit geleistet: Am Berliner Hauptbahnhof zieht es wirklich ÜBERALL. In der obersten Ebene wirbeln einem die S-Bahnen kalte Ostluft um die Ohren, von der Spree fegt russischer Wind rüber. Im Wirrwarr aus Treppen und Aufzügen tropft es regelmäßig von der Decke. Ganz unten hat man das Gefühl, man sei in ein Schweizer Tunnelbauprojekt geraten. Das gemütlichste an diesem Bahnhof ist der Starbucks. Das will doch was heißen.
So sieht der Lageplan auch nicht aus wie ein ordentlicher Lageplan, sondern eher wie der Querschnitt eines sehr komplizierten Gelenks. Berlin-Bashing nervt. Aber diesen Bahnhof – den kann man nur verachten. Abreißen. Neu bauen.
3: Stuttgart Hauptbahnhof
Den Stuttgarter Bahnhof kann man alleine schon deswegen hassen, weil er die Wutbürger in die Welt gebracht hat. Aber wir analysieren hier nur nach ästhetischen Gesichtspunkten. Da holt das Hauptgebäude – der “Bonatzbau” – auch keinen Beautypreis.
Bevor jetzt Architekturnerds “Wegbereiter der neuen Sachlichkeit, toll, toll, toll!” und Lokalpatrioten “Wahrzeichen Stuttgarts, MERCEDESSTERN!” in die Kommentare hacken, bitte einmal kurz durchatmen. Nüchtern betrachtet erinnert das Hauptgebäude eher an NS-Ordensburgen als einen Bahnhof: geradlinig, grau, germanisch. Gemacht für 1.000 Jahre Verzögerung im Betriebsablauf.
Als der Vorgängerbahnhof im Renaissance-Stil zu klein wurde, schrieben die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen 1910 einen Architekturwettbewerb für einen Neubau aus. Heraus kam ein in Stein gemauerter Stechschritt, den weder die Fliegerbomben der Royal Air Force noch Stuttgart21 ganz klein kriegen konnten. Es würde einen nicht wundern, wenn hier der Zugang zur Hohlerde läge, in der inzestuöse Nazi-Nachfahren ihre Reichsflugscheiben polieren. Stattdessen liegt hier nur eine gigantische Baustelle für den neuen Bahnhof, der – verborgen unter Glasdächern – zumindest die ästhetische Lage über der Erde nicht gravierend verschlimmern kann.
2: München Hauptbahnhof
Dies ist ein Nachruf. Wo 60 Jahre lang das Empfangsgebäude des Münchner Hauptbahnhofs das Auge beleidigte, klafft seit 2019 eine herrliche, die entsetzliche Vergangenheit vergessen machende Lücke. Die abgerissene Eingangshalle macht Platz für einen Neubau. Erinnern wir uns also ein allerletztes Mal an dieses architektonische Schlafmittel in der, laut Münchnern ohne Reiseerfahrung, “schönsten Stadt der Welt”.
Bei der Einfahrt in den Bahnhof begrüßt Reisende noch immer ein als Flakturm getarntes Weichenstellwerk. Ab hier hört der Spaß auf, scheint es zu signalisieren. Die inzwischen verschwundene Straßenfassade des Hauptgebäudes dagegen nahm in seiner geradlinigen Einfallslosigkeit 1960 den mehr als zehn Jahre später errichteten Palast der Republik in der DDR vorweg.
Wer hier ausstieg, betrat eine für München einmaligen Anarchie-Zone. Der riesige Vorplatz zwischen Gleisen und Ausgängen machte es während der Rushhour fast unmöglich, nicht gegen orientierungslose Touristen zu laufen. Hoffentlich wird der Neubau das ändern. Dessen Entwurf sieht einen weißverkleideten Bau vor, der im nordwestlichen Teil in einen Turm mündet. Das sieht dann so aus, als habe ein russischer Oligarch auf Einkaufstour seine Superyacht im Stadtzentrum geparkt – also sehr münchnerisch.
1. Bonn Hauptbahnhof
Die Einwohner einer Stadt geben ihren Wahrzeichen oft die Namen, die sie verdienen. Und so heißen die pisseglitschigen Rampen, auf denen man jahrzehntelang von der Fußgängerzone in die 70er-Jahre-Unterwelt des Hauptbahnhofs der ehemaligen Hauptstadt schlittern musste, völlig zu Recht “Bonner Loch”.
Unten wurden Reisende von kaltem Licht aus Neonröhren, klaustrophobisch niedrigen Sichtbeton-Decken und einem Bodenbelag aus Gummi empfangen, der wahrscheinlich schon zu Helmut Kohls Zeiten klebrig ausgeliefert wurde. Bestialischer Gestank waberte durch die Tunnel, kein Tageslicht. Zwischen dem namenlosen Asia-Imbiss (geschlossen) und der Trinkhalle (immer offen) hallten Schreie von Menschen, die sich wegen einer zerbrochenen Flasche Doppelkorn prügeln.
Wer heute den Hauptbahnhof betreten will, ohne das Bonner Loch zu durchqueren, muss an der Straße ein gutes halbes Jahr auf eine Grünphase und drei Trams im Schneckentempo warten. Aber bis auf einen Brezelstand gibt es eh nichts im Hauptgebäude. Selbst bei minus fünf Grad lässt man sich also lieber am Gleis einschneien, als sich tatsächlich im Bahnhof aufzuhalten.
Mittlerweile – man muss genau hingucken – hat eine Großbaustelle das Bonner Loch abgelöst. Dort entsteht jetzt ein “Lifestyle House”, heißt es, irgendwas mit einem MotelOne und einem Starbucks unter dem Projektnamen “Urban Soul”. Unten schließen die Ratten schon Wetten ab, was sich Bonn diesmal ausdenkt, um seinen Bahnhof in eine Hölle zu verwandeln.