Ende August erreichte ein 4chan-Post Legendenstatus, als ein anonymer User des berüchtigten Schock-Image-Boards anscheinend einen Teil seiner eigenen großen Zehe abgehackt hat (WARNUNG: Der Link führt zu einem unzensierten Bild des oberen Screenshots). Der Eintrag erreichte eine unglaubliche Popularität und brachte andere User einen Tag später dazu, sich in einem Thread über das seltene Phänomen namens „OP has delivered” zu dem Foto auszulassen.
Es ist vielleicht nicht sofort klar, warum dieser Akt der Selbstverstümmelung so großartige Wellen schlägt, denn man kann auch einfach nach „Abgeschnittene Zehe” googlen und bekommt dann das Gleiche zu sehen. Es hat jedoch schon seinen Grund, warum der OP (eine Abkürzung für „Original Poster”) als eine Art Einhorn anzusehen ist.
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Neben einem ersten Foto der Zehe, die mit einer kleinen Kruste versehen war, bot der OP im Ausgangspost einem anderen User die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, wie er in diesem Dilemma weiter verfahren sollte. Mir würden da spontan so Sachen wie Wundsalbe oder eine schöne Pediküre einfallen.
Als ein User schließlich vorschlug, die Zehe einfach abzuhacken, war die darauf folgende Amputation ein Sieg für die Seite und es wurde wohl ein Stück 4chan-Geschichte geschrieben.
Der Original-Post wurde inzwischen gelöscht und bei 4chan gibt es kein Archiv. Falls du mit der Seite nicht vertraut bist, dann stell dir das Ganze einfach wie eine große vorbeilaufende Rolle Fleischpapier vor, auf das die User so schnell wie möglich irgendwelche Dinge kritzeln, bevor es in eine Verbrennungsanlage geleitet wird. Die meisten Inhalte sind es sowieso nicht wert, gespeichert zu werden. Irgendjemand postet ein kommentiertes Bild und andere Nutzer können dem Thread dann selbst Kommentare oder Bilder hinzufügen. Wenn das Ganze keine große Aufmerksamkeit erregt, dann verschwindet es sang- und klanglos wieder. Wenn das Ganze jedoch witzig, auffällig oder aus irgendeinem anderen Grund interessant ist, dann entwickelt sich quasi immer eine längere Diskussion.
Wenn ein 4chan-Thread ungeahnte Höhen erreicht, dann ist das ein magischer Moment. Zurück bleiben dann vor allem Screenshots und Erinnerungen. Wenn man sich als Unbeteiligter durch 4chan klickt, dann erscheinen irgendwelche Gemetzel- und Penisfotos oder rassistische Kommentare im Kontext als nicht gerade sehr wertvoll. Ohne Kontext sind sie sogar noch wertloser.
Was unseren Thread so außergewöhnlich machte, war das sogenannte „Dubs Get”. Dabei handelt es sich um einen verlockenden Thread-Typ, denn ein anonymer User bekommt so auf Zufallsgrundlage die Möglichkeit, über den weiteren Verlauf des Threads zu entscheiden. Falls sich im Nummerncode deines anonymen Postings zweimal aufeinanderfolgende Zahlen befinden, dann liegt die Entscheidungsgewalt bei dir. Und je mehr Kommentare, desto größer das Interesse an einem Thread. Ein normaleres „Dubs Get” beginnt womöglich mit dem Foto einer Frau, die dem User, den der Zufall auswählt, ein Oben-Ohne-Bild verspricht.
Im Falle der Zehe fiel das Los auf den User, der die Amputation vorgeschlagen hatte. Der OP nahm das Ganze hin und konnte jetzt entweder sein Versprechen einlösen oder zugeben, dass er die wertvolle Zeit aller User verschwendet hat.
MOTHERBOARD: Der 4Chan-Gründer Chris „Moot” Pool geht mit 26 in den Ruhestand.
Im Allgemeinen ist jedoch bekannt, dass OPs unter solchen Umstände ihre Versprechen oftmals nicht halten. „Waiting for OP” ist inzwischen ein solch bekanntes Phänomen geworden, dass es sogar schon einen eigenen Knowyourmeme-Artikel erhalten hat. In verschiedenen Bildern wird eine Person, die auf die Darbietung des OPs wartet, als Skelett dargestellt. Die Message: Geduld lohnt sich hier nicht. Man sollte sich nicht durch unnötiges Warten langweilen und irgendwo anders Unterhaltung suchen.
Dieser Trend der Enttäuschung reicht jedoch weit über den „Dubs Get”-Tellerrand hinaus. Im Gegensatz zu den Gefilden von 4chans leicht naiverem Cousin Reddit vertraut man quasi nirgendwo mehr solchen Behauptungen. Aus diesem Grund sind Sätze wie „Pics or it didn’t happen” auch so groß geworden. Jeden Tag scrollen sich 4chan-Nutzer durch Dutzende unglaubliche Angebereien oder Herausforderungen und gehen davon aus, dass da sowieso nichts draus werden wird—oder zumindest nichts, das sich irgendwie dokumentieren lässt.
Und das ist jetzt ja auch nicht zwangsläufig etwas Schlechtes. Vor zwei Jahren tauchte zum Beispiel ein Post auf, in dem sich der OP als suizidgefährdeter American-Airlines-Pilot ausgab, der ein volles Passagierflugzeug absichtlich abstürzen lassen wollte. Zum Glück wurde dieses Versprechen nicht gehalten.
Manchmal läuft es allerdings auch anders.
Dafür gibt es wohl kein bekannteres Beispiel als einen 4chan-Post aus dem Jahr 2007, in dem ein User ein Foto aus den Katakomben von Paris postete und fragte, ob es wohl möglich wäre, einen gestohlenen Totenschädel zurück in die USA zu schmuggeln. Kurz danach lud der OP ein Bild des besagten Schädel in seiner Wohnung hoch.
Zwar gefiel der 4chan-Community der Totenschädel, aber ganz zufrieden war man trotzdem nicht. Ein User verlangte deswegen, einen Penis in der Augenhöhle zu sehen. Und an diesem Tag sollte der OP keine leeren Versprechungen machen (WARNUNG: Dieser Link ist so NSFW wie nur möglich). Ja, die Überreste eines Pariser Bürgers aus dem 18. Jahrhundert wurden wirklich für ein bisschen Internet-Fame entweiht.
In der Vergangenheit haben OPs jedoch auch schon viel erschreckendere Versprechen eingelöst. In einem berühmten Fall behauptete ein 4chan-User zu wissen, wo das vermisste Mädchen Emily Sander vergraben wurde. Wer auch immer den gesamten Nummerncode seines Postings richtig vorhersagen würde, bekommt dann die Koordinaten zugespielt. Der „Gewinner” bekam dann tatsächlich geografische Koordinaten zugeschickt, die dann angeblich auch zu dem Ort passten, an dem die Leiche des Mädchens schließlich gefunden wurde. Es ist jedoch unmöglich, die tatsächliche Chronologie dieses Vorfalls genau zu dokumentieren, denn es wurde auch viel herumgeblödelt. Das verhinderte jedoch nicht, dass dieser Fall die ganze 4chan-Kultur nachhaltig beeinflussen sollte.
Diese Kultur hatte jedoch auch schon vor der Fußverstümmelung dieses Wochenendes eine Vorliebe für das Zuschauen bei Selbstverletzungen vorzuweisen.
Die wohl legendärste vom Internetpublikum angewiesene „Operation” ereignete sich im Jahr 2013, als eine 4chan-Userin die Community über eine Zyste oder einen Tumor auf ihrer Brust entscheiden ließ. Und sie sollte ihr Versprechen wirklich halten (WARNUNG: Denk am besten gar nicht erst daran, auf diesen Link zu klicken!). Das Resultat ließ 4chan dann auf eine für die Seite extrem seltene Art und Weise reagieren: Die User sorgten sich um die Gesundheit der Posterin und drängten sie dazu, die Wunde schnell zu desinfizieren und einen Arzt aufzusuchen. Solche Fälle sind das logische Extrem eines Orts, wo alles zu seinem logischen Extrem getrieben wird. Oder wie es ein anderer User ausgedrückt hat: „Ich glaube, hier ist für mich Schluss.”
Es scheint jedoch so, als wolle das Image-Board auf die Probe gestellt werden. Der echte Geist von 4chan und dessen bösen Zwilling 8chan ist nicht nur das, was das New York Magazine als die düstersten Ansammlungen des männlichen Wesens bezeichnete. Irgendwo dadrin befindet sich auch ein Über-Ich. Und das wird sich letztendlich zeigen, wenn das Wesen seinen Spaß hatte und das Spiel vorbei ist.
Anmerkung: Schneidet euch keine Körperteile ab, nur weil ihr im Internet dazu aufgefordert werdet. Forschungen haben ergeben, dass das Ganze selbst beim aktiven Wunsch nach Selbstverstümmelung immer noch ein neurologisches Problem ist.