Gerd Bonk näherte sich seinem Versuch mit fast schon schmerzerfülltem Gesicht, fast so, als sei er ein bisschen traurig. Es war sein dritter und letzter Versuch im Stoßen bei den Olympischen Spielen von 1976. Es galt, 235 Kilo zu stemmen—17,5 Kilo weniger als bei den Europameisterschaften drei Monate zuvor, als er einen neuen Weltrekord aufstellte. Das Superschwergewicht aus Ostdeutschland zögerte einen Augenblick, schloss seine Augen, legte den Kopf in den Nacken und schaute gen Himmel. Vielleicht betete er auch.
Dann öffnete er seine Augen, beugte sich nach vorne und griff nach der Stange. In einer schnellen Bewegung, die man einem solchen Koloss eigentlich gar nicht zutrauen würde, hievte er die Stange auf die Schultern—der Part, den man im Fachjargon Umsetzen nennt. Jetzt galt es, das Gewicht über den Kopf zu heben, eine Bewegung, die man Ausstoßen nennt. Nachdem er mit ausgestreckten Armen unter dem schweren Gewicht ein bisschen wankte, es aber trotzdem stemmen konnte, ließ er die Stange fallen—und sich feiern. Er hob beide Hände. Und lächelte. Es war vielleicht kein Weltrekord, aber Bonk hatte soeben Olympisches Silber gewonnen.
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Bonk war einer von 22 Gewichthebern aus dem Ostblock, die bei den Spielen von 1976 eine Medaille holten. Athleten aus den NATO-Ländern gewannen in dieser Disziplin zum Vergleich nur zwei Medaillen. Den stärksten Mann der Welt im Kampf um Gold verlieren zu sehen, war ein echtes Drama. Doch Bonks Niederlage wurde mit der Zeit noch faszinierender. 13 Jahre später, nach dem Fall der Mauer, sollte sich nämlich herausstellen, dass er unfassbare Mengen an Steroiden eingenommen hatte—und trotzdem nicht gewonnen hatte.
„Er war nicht nur der Weltrekordhalter im Gewichtheben”, erzählt mir Herbert Fischer-Solms—ein pensionierter Radiojournalist, der den Großteil seiner Karriere über Doping berichtete und Bonk persönlich kannte—am Telefon. „Er war auch Weltmeister im Doping.”
In den 70er-Jahren startete die DDR ein geheimes Dopingprogramm mit dem Aktennamen „Staatsplanthema 14.25″. Das staatlich verordnete Programm überwachte die Verabreichung leistungssteigernder Mittel an rund 10.000 Athleten, von denen viele noch Kinder waren—der Jüngste war gerade mal neun Jahre alt. Und die von ihrem „Glück” nichts wussten. Lange bevor russische Dopinglabore Urinproben durch Wände verschwinden ließen, legte die DDR in Sachen Staatsdoping die Messlatte verdammt hoch. Staatsplanthema 14.25 ist bis heute der am weitesten reichende und soziopathischste Skandal der Sportgeschichte. Brigitte Berendonk—Expertin zum Thema Doping in der DDR—nannte das Programm das „Manhattan-Projekt der Sportwelt.”
Und wenn das Programm das Manhattan-Projekt war, war Gerd Bonk die Atombombe.
Bonk wurde 1951 im kleinen Dorf Limbach in Sachsen geboren. Es war eine Zeit des Wiederaufbaus, aber auch eine Zeit großer Unsicherheiten, nicht zuletzt in Ostdeutschland. Nur wenige Jahre zuvor waren die 18 Millionen DDR-Bürger noch Teil des Dritten Reichs. Jetzt lebten sie in einem kommunistischen Staat, der von einer einzigen Partie, der SED, regiert wurde und auf der Suche nach seinem Platz in der Welt war.
Um international eine Rolle zu spielen, wendete sich Ostdeutschland dem Sport zu. Das Land baute ein Netzwerk aus Sportakademien auf, die sogenannten Kinder- und Jugendsportschulen (KJS), wo die DDR ihre Athleten der Zukunft formte.
Bonk war eines dieser Kinder, die alles, was sie ausprobierten, auf Anhieb konnten. Als der Eiserne Vorhang dann 1961 fiel, war er Schüler an einer KJS in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). 1965 stellte er bei einem nationalen Wettkampf im Kugelstoßen einen neuen Jugendrekord auf. Im folgenden Jahr fiel bei den Gewichthebern ein Teilnehmer aus, Bonk sprang ein und zeigte sofort eine klasse Leistung. 1971 wurde er zum ersten Mal Meister im Gewichtheben.
Zu diesem Zeitpunkt war Bonk wahrscheinlich schon auf Steroiden, obwohl es unklar ist, wann er mit dem Doping angefangen hat. 2014 starb Bonk, und seine Witwe wollte sich zur Vergangenheit ihres Mannes gegenüber VICE Sports nicht äußern. 1961 patentierte Jenapharm—ein staatlich geführter Pharmakonzern—Oral Turinabol, ein androgenes anaboles Steroid. Es kam in Form einer blauen Pille auf den Markt. Anabole Steroide replizieren das männliche Hormon Testosteron. Sie regen das Muskelwachstum an und verkürzen die notwendigen Erholungsphasen zwischen Trainingseinheiten.
Schon bald begannen Athleten aus Kraftsportarten wie Gewichtheben, anabole Steroide zu sich zu nehmen—und das nicht nur in der DDR. Doch in Ostdeutschland trieb man den Einsatz leistungssteigernder Mittel besonders weit. Indem die DDR nämlich nationale Pilotprogramme ins Leben rief, um ab 1966 ihre männlichen und ab 1968 ihre weiblichen Athleten mit männlichen Hormonen zu behandeln. Eine dieser weiblichen Versuchspersonen, die Kugelstoßerin Margitta Gummel, gewann noch im selben Jahr olympisches Gold.
Die DDR gewann bei den Olympischen Spielen 1968 insgesamt 25 Medaillen. Vier Jahre später holten ostdeutsche Olympioniken schon 66 Medaillen, darunter auch einmal Bronze für den 22-jährigen Bonk. Die Sowjetunion gewann 99 Medaillen, die USA 94. Und Westdeutschland, wo dreieinhalb Mal so viele Einwohner wie in der DDR lebten, gerade mal 40.
Für Ostdeutschland war der Gewinn vieler Medaillen nicht nur ein sportlicher, sondern auch ein politischer Erfolg. In der verqueren Logik des Kalten Krieges war mehr olympisches Edelmetall auch Ausdruck der Überlegenheit des eigenen Systems. Die olympischen Medaillen hatten den Zweck, über die Missstände in der DDR hinwegzutäuschen. So konnte man der Außenwelt ein Land auftischen, das kein Polizeistaat mit klappriger Wirtschaft, sondern eine erfolgreiche Sportnation war. Ein Sieg über Westdeutschland und später über die USA bedeutete ein Sieg der DDR-Ideologie über den Westen. In diesem Propaganda-Krimi spielte Bonk eine Hauptrolle. Denn als zweimaliger Weltrekordhalter wurde er vom DDR-Regime als stärkster Mensch der Welt vermarktet.
Natürlich wollte das DDR-Regime die sportliche Leistung ihrer Athleten standardisieren, was unter dem Dach des Sportministeriums und staatlicher medizinischer Einrichtungen passierte. Als klar war, dass die Steroide die Leistung der Athleten nachweislich verbessern konnten, wollte man auch die Verabreichung und Dosierung standardisieren. Das Ganze sollte natürlich geheim bleiben—und wenn die DDR eins gut konnte, dann Sachen geheim halten, der lieben Stasi sei Dank.
Bis 1974 war Doping längst zum System geworden. Das Staatsplanthema 14.25 machte es zur Staatsangelegenheit. Das Programm wurde am 23. Oktober 1974 von einer Abteilung des Zentralkomitees durchgewunken. Obwohl top secret, wurde Staatsplanthema 14.25 zur Grundlage aller Sportprogramme der DDR. Dies bedeutete, dass Steroide jetzt vorgeschrieben waren und von einem zentralen Verteiler bereitgestellt wurden. Außerdem wurden Mediziner und Pharmazeuten des Landes damit beauftragt, an leistungssteigernden Mitteln zu forschen. An den Kinder- und Jugendsportschulen bekamen Tausende Kinder ohne deren Wissen—und das ihrer Eltern—Steroide.
Gleichzeitig war das Staatsplanthema 14.25 möglicherweise auch eine vorbeugende Maßnahme, um obligatorischen Drogentests aus dem Weg zu gehen—die ab den Spielen 1976 eingeführt wurden—, indem man genau kontrollierte, wann welcher Athlet wie viele Steroide einnahm. Der Ruf des Landes stand auf dem Spiel. Wären zu viele DDR-Athleten positiv getestet worden, hätte die Welt gewusst, dass die sportlichen Erfolge der DDR nichts als Schall und Rauch waren.
Auch wenn es ursprünglich geheimgehalten wurde, wissen wir mittlerweile eine ganze Menge über das Staatsplanthema 14.25. Die Stasi hat zwar eine Kultur der Angst und des Schweigens gefördert, gleichzeitig waren sie auch gewissenhafte Protokollanten. Mit der Zeit entstand eine Papierspur.
Der Durchbruch gelang dann 1990. Als die Mauer fiel und die DDR zusammenbrach, „wurde alles geschreddert”, erzählt mir Werner Franke. Wir sitzen in einem Konferenzraum der Uni Heidelberg, wo der 76-Jährige jahrzehntelang als Biologe und Krebsforscher gearbeitet hat. 1990 war Franke Präsident der European Cell Biology Organization, einer zwischenstaatlichen Organisation für europäische Wissenschaftler. Als Ost und West zusammenwuchsen, begannen Europas Wissenschaftler, die hinter dem Eisernen Vorhang entstandenen Forschungsergebnisse gründlich zu untersuchen. Aus diesem Grund reiste Franke in den Osten, genauer gesagt an die Militärmedizinische Akademie im brandenburgischen Bad Saarow. In der Akademie fand Franke einen Berg von Dokumenten, die allesamt Doping in Ostdeutschland behandelten, darunter ganze Doktorarbeiten zu der Fragestellung, wie Steroide die sportliche Leistung verbessern können.
„In der Armee”, sagt Franke schmunzelnd, „wird nichts ohne Befehl zerstört.”
Franke brachte die Dokumente nach Westdeutschland und sie wurden zur Grundlage eines Buchs, das seine Frau Brigitte Berendonk später zu diesem Thema geschrieben hat. Berendonk war eine ehemalige westdeutsche Diskuswerferin, die 1958 als Teenagerin zusammen mit ihren Eltern aus der DDR geflüchtet war. Berendonk war eine der ersten Personen, die ostdeutschen Athleten Doping vorwarf, und das schon 1969 in einem Zeit-Artikel. Ihr Buch, Doping: Von der Forschung zum Betrug, ist ein umfassender Bericht über den Dopingapparat in der DDR.
Einer der begeistertsten Dopingforscher der DDR war Hans-Henning Lathan, gleichzeitig Teamarzt bei den Gewichthebern. Sein Dopingprogramm ging deutlich weiter als das seiner Kollegen. Er gab seinen Athleten höhere Dosen Oral-Turinabol, als der Staat empfahl. Einer dieser Athleten war eben auch Gerd Bonk. Laut Lathans Aufzeichnungen nahm Bonk zwischen 1978 und 1979 12.775 Milligramm Steroide ein, davon 11.550 Milligramm Oral-Turinabol. Eine höhere Dosis an anabolen Steroiden ist vorher und nachher nie wieder dokumentiert worden.
„Westdeutsche Kälberzüchter haben eine ähnliche Dosis verwendet, um einen ganzen Stall zu mästen”, witzelte Der Spiegel 1991 in einem Artikel, der erste Forschungsergebnisse von Berendonk zitierte.
Bonk nahm mehr Steroide als alle anderen, wenn auch nicht mit großem Vorsprung. Berendonks Nachforschungen ergaben, dass der Gewichtheber Peter Käks zwischen 1978 und 1979 11.225 Milligramm Oral-Turinabol zu sich nahm. Ein weiterer prominenter Name auf ihrer Liste war Frank Mantek, der später, zwischen 1990 und 2012, das deutsche Gewichtheber-Team trainierte. Während der DDR-Zeit waren Mantek und Bonk Mitglieder desselben Gewichtheberklubs. Manteks höchste aufgezeichnete Dosis von Oral-Turinabol betrug 7.600 Milligramm, die er zwischen 1978 und 1979 erhielt. (Mantek war für keine Stellungnahme zu haben.)
Zum Vergleich: Der Ostdeutsche Uwe Hohn—der bis heute als Einziger den Speer weiter als 100 Meter schleudern konnte—nahm im Jahr seines großen Wurfs eine Gesamtdosis von nicht mehr als 1.135 Milligramm ein.
1976 machte das DDR-Regime, was es zuvor noch nie gemacht hatte: Es ließ eine ausgewählte Gruppe von westlichen Journalisten ins Land. Einer von ihnen war der Sports Illustrated-Reporter Jerry Kirshenbaum. Seine daraus entstandene Story („Assembly Line for Champions”) wurde kurz vor den Olympischen Spielen von Montreal veröffentlicht. Kirschenbaums Blick hinter den Eisernen Vorhang war selbstverständlich von DDR-Seite inszeniert und gesteuert, trotzdem bot ihm die Reise auch spannende Erkenntnise bezüglich der Besessenheit der DDR nach sportlichen Erfolgen.
Er notierte, dass „mehr als 300.000 Ostdeutsche, und damit fast 5 Prozent der Arbeiterschaft, nebenberuflich als Trainer oder Sportfunktionäre aktiv waren.” Als Kirschenbaum bei einem Schwimm-Qualifikationslauf für die Olympischen Spiele vorbeischaute, wurde er Zeuge von gleich drei neuen Weltrekorden, „darunter im 100-Meter-Brustschwimmen von Carola Nitschke, einer bis dahin unbekannten Berlinerin, die gerade erst 14 Jahre alt geworden war.”
Kirschenbaum spekulierte, dass die DDR in Montreal bis zu 35 Goldmedaillen gewinnen könnte, „genug, um die USA, wenn nicht sogar die Sowjetunion zu überholen.” Im folgenden Monat gewann die DDR 90 Medaillen, darunter 40 Mal Gold. Die USA hingegen musste sich mit gerade mal 34 Goldmedaillen begnügen, die Sowjetunion kam auf 49.
1976 vermuteten schon viele, dass die DDR ihren Athleten Steroide gab, vor allem den weiblichen. Die männlichen Hormone in Oral-Turinabol entfalteten vor allem bei Frauen eine besonders starke Wirkung. Kurzfristig schenkten sie ihnen größere Muskeln, sie führten aber auch dazu, dass ihre Stimmen tiefer wurden, sie breitere Schulter bekamen und an Körperbehaarung zulegten. Kirchenbaum und seine Kollegen stellten den DDR-Offiziellen auch einige Fragen über Steroide. Erwartungsgemäß behaupteten die ostdeutschen Herrschaften, dass man in der DDR nicht mit Steroiden „experimentieren” würde, weil diese „für die Athleten nicht gesund” seien.
Teamärzte sprachen in Bezug auf Oral-Turinabol von „Vitaminen”. Doch der gesunde Menschenverstand und die Erfahrung sagen uns, dass—auch wenn Jüngere nicht wussten, was Doping war—vielen der älteren Athleten klar war, dass sie irgendetwas bekamen, das ihre Leistung steigerte. Wie viel Bonk über seine „Therapie” wusste, ist eine Frage, auf die wir wohl niemals mehr eine Antwort bekommen werden.
Einige Athleten wussten genau, was sie bekamen. Und einige forderten auch aktiv Doping ein. In Berendonks Buch ist von einem Dr. Michael Oettel die Rede, einem ehemaligen Forschungsleiter bei Jenapharm. Berendonk schreibt, dass laut Oettel die Sprinterin Marita Koch—deren Weltrekord über 400 Meter aus dem Jahr 1985 bis heute Bestand hat—in einem Brief um „spezielle oder stärkere Steroiden” bat, und zwar solche, die eine Teamkameradin von ihr mit einem Verwandten bei Jenapharm ebenfalls erhalten haben soll.
Ob diese Athleten—selbst die, die wussten, dass sie betrügen—jemals ausreichend über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt wurden, ist noch eine ganz andere Sache.
Die Teamärzte versicherten den Athleten, dass von den Mitteln kein Gesundheitsrisiko ausgeht, und die Athleten vertrauten ihnen. Manche Athleten haben sogar Verträge unterschrieben, die es ihnen verboten, darüber zu sprechen. Und in der DDR, wo die Möglichkeit leistungssteigender Behandlung de facto zur Pflicht wurde, konnten Athleten ihre Karriere nicht fortsetzen, ohne auch brav ihre Steroide zu schlucken. Einerseits weil sie gegen ihre gedopten Teamkollegen keine Chance gehabt haben, andererseits weil sie aus dem Team geflogen wären, da sie den Anordnungen ihrer Trainer nicht Folge geleistet hätten. Aufgrund der allgemeinen Stasi-Bespitzelungskultur haben sich die Athleten auch nicht getraut, über das Programm zu sprechen. Diejenigen, die nicht mehr dopen wollten, hörten einfach ganz auf, hielten aber den Mund.
„Man muss wissen, dass Gerd Bonk ein einfacher Mann war”, erzählt mir Fischer-Solms. „Einfach nicht in einem negativen Sinne, sondern weil er aus einem kleinen Dorf kam. Plötzlich landete er in der großen, weiten Welt des Sports und fragte sich, was noch alles so möglich sein würde. Er wurde behandelt und meinte, dass er keine weiteren Fragen gestellt habe. Sein Arzt in Chemnitz erzählte ihm, er müsse das nehmen, ansonsten wäre es das gewesen mit dem Gewichtheben.”
1976 war Bonk 25 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte zwischen 1975 und 1976 bereits drei Weltrekorde aufgestellt. Seine wichtigsten Siege holte er 1976 und 1979 bei den Europameisterschaften. Als die Olympischen Spiele 1980 näherrückten, bereitete sich Bonk auf seinen großen Rivalen vor, den Russen Vasily Alekseyev. Alekseyev hatte bei den Spielen 1972 und 1976 jeweils vor Bonk Gold geholt. Bei den Spielen 1980 in Moskau sollte er aber einen furchtbaren Wettkampf zeigen. Die Tür wäre also offen gewesen für Bonk, um seinen Erzrivalen endlich zu besiegen—nur dass Bonk gar nicht in Russland war. Das Olympische Komitee der DDR hatte ihn nicht nominiert.
Nachdem ab den Spielen 1976 Steroidkontrollen obligatorisch wurden, wurde die DDR vorsichtig, was ihr Dopingsystem betraf, und stellte sicher, dass die Verabreichung verbotener Substanzen rechtzeitig vor Kontrollen aufhörte, die damals noch angekündigt wurden. Doch die Dopingeinnahme zum richtigen Zeitpunkt einzustellen, war aus wissenschaftlicher Sicht ein Spiel mit dem Feuer. So kam es auch, dass 1977 die ostdeutsche Kugelstoßerin Ilona Slupianek positiv auf Steroide getestet wurde. Die Sportverantwortlichen der DDR reagierten daraufhin mit der Gründung eines zentralen Labors für Dopingkontrollen. Dort wurden Athleten regelmäßig getestet und diejenigen von Wettkämpfen ausgeschlossen, die zu hohe Steroidwerte aufwiesen. Innerhalb eines Jahres—zwischen 1979 und 1980—wurde Bonks Dosis an Oral-Turinabol von 11.550 Milligramm auf 8.390 Milligramm gesenkt. Das war aber noch immer zu viel, weswegen ihn die DDR aus dem Olympiakader strich.
„Das richtig Kriminelle am Umgang mit Gerd Bonk war die Tatsache, dass seine Ärzte spätestens 1979 wussten, dass er unter schwerer Diabetes litt”, erzählt Franke. „Er war also krank. Doch das System dachte sich, wir füttern ihn einfach fleißig mit Steroiden, dann bringt er uns auch aus Moskau noch eine Medaille mit.”
Seine Ärzte klärten ihn über seine Erkrankung erst 1980 auf. Als er nicht nominiert wurde, trat er zurück.
„Danach wurde er absichtlich ‚vergessen’”, führt Franke fort. „Sie haben ihn in der DDR einfach totgeschwiegen, einen Mann, dem sie trotz Krankheit hohe Steroidendosen verabreichten, um ihn fit für Olympia zu machen.”
Schon bald begannen seine Nieren schlappzumachen—eine häufige Folge von Steroidenmissbrauch. 1984 saß der ehemalige Champion bereits im Rollstuhl.
Die Mauer ist vielleicht schnell gefallen, aber die tatsächlichen Ausmaße von Staatsplan 14.25 traten nur langsam zu Tage, Stück für Stück. Mit jeder gesichteten Stasiakte kamen mehr Informationen ans Licht—manchmal mit verheerenden Konsequenzen.
1997 erhielt Marie Katrin Kanitz, damals 27, einen Brief vom Landeskriminalamt Thüringen. Darin wurde sie darüber informiert, dass die Polizei auf Dokumente gestoßen sei, die aufzeigen, dass die Sportlerin 1986 Oral-Turinabol erhalten hatte. Kanitz war keine Gewichtheberin. Sie war keine Sprinterin. 1986 war Kanitz eine 16-jährige Eiskunstläuferin gewesen.
„Ich war schockiert”, berichtet sie mir im Konferenzraum der Berliner Robert Havemann Gesellschaft—einem Bildungsverein, der sich für den Erhalt der Erinnerung an die politische Opposition in der DDR einsetzt. „Meine erste Reaktion war: ‚Nein, ich glaube das nicht. Ich glaube das einfach nicht.’”
Die Polizei lud Kanitz zur Befragung ein. Man zeigte ihr das Foto einer Schachtel und einen Streifen blauer Tabletten, die sich noch in ihrer Originalverpackung befanden. Hatte sie diese schon mal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie hatte Tabletten genommen, daran bestand kein Zweifel, aber nie direkt aus der Schachtel. „Als Eiskunstläufer bekamen wir schon in sehr jungen Jahren Vitamintabletten”, sagt sie mir. Ihre Stimme beginnt dabei zu zittern. „Gelb, blau, weiß, rot—jede Farbe.”
Wochenlang fand Kanitz keine Ruhe. Das Ende ihrer Karriere lag zwar schon neun Jahre zurück, aber sie konnte nicht aufhören, über ihren Erfolg nachzudenken. War der auch verdient gewesen? Oder hatte sie das nur geschafft, weil sie gedopt war? Dann fing sie natürlich an, sich um ihre Gesundheit zu sorgen. Sie hatte als Erwachsene gegen Krankheiten ankämpfen müssen. Waren diese ein Spätfolge des Dopings gewesen?
Gegenüber VICE Sports führte Kanitz ihre Gesundheitsprobleme nicht weiter aus, allerdings steht fest, dass die Langzeitfolgen von Oral-Turinabol, genau wie die akuten Nebenwirkungen, bei Frauen besonders stark ausgeprägt sind. Im Juli 2016 führte der Doping-Opfer- Hilfe e.V., ein Interessenverband für Dopinggeschädigte, eine Umfrage unter 140 Mitgliederinnen durch. 9 Prozent der Befragten waren an Brustkrebs erkrankt, 55 Prozent hatten unter gynäkologischen Krankheiten gelitten und 14 Prozent hatten Fehlgeburten gehabt.
Dann kam wieder ein Anruf von der Polizei. Sie sagten Kanitz, dass es zu einer Gerichtsverhandlung kommen würde. Würde sie gegen ihre ehemalige Trainerin Anzeige erstatten wollen? Kanitz sagte Ja.
Die Verhandlung, die als der Berliner Dopingprozess in die Geschichte einging, dauerte zwei Jahre. Für eine ganze Reihe ehemals stolzer DDR-Bürger war sie ein unangenehmer Augenblick der Abrechnung—einer, der bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreichte.
„In Nazideutschland haben wir getan, was uns gesagt wurde”, wird die ehemalige Sportärztin Dorit Rösler in der Verhandlung von der New York Times zitiert. „Die Dopingmaschinerie der DDR war da nicht anders. Wir haben nur die medizinischen Vorgaben ausgeführt und dabei nie das System hinterfragt, das nur unser Bestes wollte. Wir haben nur unseren Job gemacht. Hatten wir denn nichts gelernt?”
Am Ende des Dopingprozesses gab es nur zwei Verurteilte: den zuständigen Leiter des Sportmedizinischen Dienstes, Manfred Höppner ,und Sportminister Manfred Ewald. Beide erhielten Bewährungsstrafen. Kanitz’ Trainierin wurde zusammen mit einem Großteil der DDR-Sportfunktionäre freigesprochen. Sie selbst hätte nicht gewusst, was sie den Kindern für Pillen verabreicht. 1999 zahlte Dr. Lathan eine Geldbuße von 20.000 Mark, um eine Einstellung seines Verfahrens zu erwirken. Heute ist er Allgemeinmediziner mit einer Praxis im Leipziger Süden.
Gerd Bonk gehörte nicht zu den Klägern des Berliner Drogenprozesses. Allerdings war er eins der ersten Mitgliedern des Doping-Opfer- Hilfe e.V.. Kanitz fing 2013 an, für den Verein zu arbeiten und behandelte Bonks Akte. Die beiden verbrachten Stunden zusammen am Telefon und überlegten, wie man Geldmittel für Bonk auftreiben könnte. Sein körperlicher Zustand war natürlich auch Thema.
Sobald Bonk an den Rollstuhl gefesselt war, konnte er kaum noch einer geregelten Arbeit nachgehen. Über Jahre lebte er mit offenen Stellen am Fuß—eine Begleiterscheinung seiner schweren Diabetes. Sein Rücken war ruiniert. Da er nicht arbeiten konnte, stürzte Bonk sich in Hobbys. Er wurde zu einem begeisterten Plattensammler mit besonderer Vorliebe für die Beatles. Geld war jedoch immer ein Problem.
Ab 1999 erhielt Bonk vom Staat Invalidenrente. 2002 bekam er dann zusammen mit 149 anderen Dopingopfern, die bis dahin in dem Verein registriert waren, eine Entschädigungszahlung von 10.500 Euro von der Bundesregierung. 2006 tätigten der Deutsche Olympische Sportbund und Jenapharm—das es immer noch gibt und heute Jahreseinnahmen von über 100 Millionen Euro verbucht—eine einmalige Zahlung von 9.250 Euro an 167 ausgewählte Dopingopfer aus. Vor einigen Monaten gab der Verein bekannt, dass die mittlerweile 1.000 registrierten Mitglieder von der Bundesregierung eine weitere Entschädigungszahlung von je 10.500 Euro erhalten würden.
Bei Bonk wird dieses Geld nicht mehr ankommen. Am 29. September 2014 war er seiner schweren Diabetes erlegen und ins Koma gefallen. Er starb am 20. Oktober 2014 im Alter von 63 Jahren. Der Verein übernahm seine Bestattungskosten mit einer Spende von 2.000 Euro. Niemand vom Deutschen Leichtathletikverband nahm an der Trauerfeier teil.
„Die beiden Medaillen von Gerd Bonk lassen sie gelten”, sagte Fischer-Solms mit Verweis auf das Deutsche Olympische Komitee. „Aber niemand interessiert sich für Gerd Bonk.”
Er war zweimal der stärkste Mann der Welt, ein Nationalheld und ein Symbol für die falsche Stärke seines Landes. Gerd Bonk starb allerdings—in seinen eigenen Worten—: „Verheizt von der DDR, vergessen vom vereinten Deutschland.”