„Wir sind hier nicht bei einem Kochduell. Wir kochen für die Seele!”, erklärt Emmanuelle Turquet lächelnd. Es ist kurz nach 20 Uhr, wir sitzen in Emmanuelles Wohnzimmer und diese Ausgeglichenheit versprühende Frau in ihren Dreißigern erklärt uns ihre Herangehensweise.
Sie leitet den Workshop Papilles Créatives [kreative Geschmacksknospen]. Die Teilnehmerinnen: Muriel*, circa Mitte 50 sowie Hélène, um die 40 Jahre alt, und ihre Mutter Clarisse. Sie sind nicht hergekommen, um Cocktails zu trinken, sondern um eine neue Therapieform auszuprobieren: Kochtherapie. Dabei wird Kochen völlig neu definiert, denn es geht nicht mehr hauptsächlich um die Kochleistung und das Endergebnis, sondern vielmehr um Kreativität und Selbstverwirklichung.
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Ein paar Tage zuvor hat Emannuelle uns erzählt, wie ihr vor drei Jahren, als sie ihren Job bei GDF Suez in Frankreich gekündigt hatte, die Idee zu dieser Art der Therapie kam: „Ich habe mich von der Kunsttherapie inspirieren lassen. Dabei drückt man die eigenen Emotionen durch Töpfern oder Malen aus und lernt sich selbst kennen. Man konzentriert sich gedanklich auf eine sehr entspannende Tätigkeit. Vor allem aber ist man nicht gezwungen, ein konkretes Ergebnis vorzulegen. Kreativität in Reinform sozusagen. Das Gleiche wollte ich mit dem Kochen probieren. Normalerweise gibt es dabei immer sehr strenge Regeln, egal ob bei einem Rezept oder sogar in den ganzen Fernsehsendungen. Kochtherapie wird bereits in Krankenhäusern oder Altenheimen angewendet. Ich wollte das aber auch für Privatpersonen oder Firmen anbieten.”
Bevor sie anfängt, mit ihren „Patienten” zu kochen, stellt sie nur zwei Regeln auf: „Erstens: Seid nett zueinander und urteilt nicht über die anderen. Und zweitens: Alles, was hier passiert, ist absolut vertraulich.”
Nachdem sie ihre Entscheidung gefasst hatte, hat sich Emannuelle in Kunsttherapie, ganzheitlicher Persönlichkeitsentwicklung und natürlich im Kochen weitergebildet. Diese drei Bereiche fügen sich in ihren Workshops perfekt zusammen. Sie dauern drei Stunden und kosten 90 Euro. Die Teilnehmer machen Entspannungsübungen, Sinnes- und Wahrnehmungsspiele und kochen zwei Gerichte, die sie dann probieren und gemeinsam darüber diskutieren.
Beim ersten Spiel geht es darum, sich selbst vorzustellen: Die Teilnehmer wählen ein Polaroid aus, das ihre derzeitige Stimmung widerspiegelt und beschreiben, welche Beziehung sie zum Kochen haben. Heute können die Teilnehmerinnen zwischen Bildern mit verschiedenen Himmeln wählen, heiter bis wolkig sozusagen.
Emmanuelle fängt an, danach ist Muriel an der Reihe. Sie nimmt einen wolkenverhangenen Himmel: „Weil ich derzeit sehr gestresst bin, schlafe ich nicht gut. Durch die Anschläge in Paris ist das noch schlimmer geworden.” Der Himmel, den Hélène wählt, ist fast wolkenlos. Sie bedauert nur, dass sie „sich nicht wirklich Zeit nimmt, Essen zu kochen”. Clarisse entscheidet sich für einen blauen Himmel mit vielen kleinen Wolken: „Sieht aus wie zu Hause in der Normandie”, sagt sie und fügt hinzu, dass sie viel zu oft „in Eile kocht”.
Alle suchen sie irgendwie nach einer Perspektive im stressigen Alltagstrott zwischen U-Bahn und Büro. Diese paar Stunden der Ruhe kommen da genau richtig. Im Laufe des Abends werden alle lockerer und entspannter.
Nach ungefähr 20 Minuten präsentieren die Teilnehmerinnen ihre Gerichte am Esstisch. Emmanuelle macht Fotos und bittet jede der Frauen, ihr Gericht zu beschreiben und wie es zum Thema des Abends passt.
Als nächstes folgt passenderweise eine Entspannungsübung. Im Hintergrund hört man Naturgeräusche. Emmanuelle bittet die Teilnehmerinnen, sich mit geschlossenen Augen in die Mitte des Raumes zu stellen. Mit ruhiger, entspannender Stimme beginnt sie so etwas wie eine Meditation:„Stellt euch vor, ihr seid ein Baum. Spürt ihr, wie eure Wurzeln fest im Boden verankert sind? Spürt ihr den Saft, der langsam von euren Wurzeln in eure Äste fließt?”
Nach ein paar Minuten sind alle eins mit ihrem Körper. Was folgt, ist eine „bewusste Verkostung”, bei der alle fünf Sinne aktiviert werden und kein Sinnesorgan mehr beansprucht wird als die anderen. Auf einem kleinen Tisch steht ein Korb mit vier Apfelsorten. Jede der Teilnehmerinnen soll sich einen Apfel auswählen, ihn berühren, daran riechen, ihn in der Hand wiegen oder daran klopfen, um seine Konsistenz zu spüren. Die Äpfel machen die Runde. Hélène liebt diese Übung. „Ich habe vorher nie darauf geachtet, wie sich verschiedene Äpfel anfühlen.”
Bevor alle in die Küche gehen, erklärt Emmanuelle kurz den Ablauf: Jeder bekommt eine Zutat und ein kleines Thema. Danach können die Teilnehmer ihrer Kreativität ungefähr 20 bis 30 Minuten lang freien Lauf lassen. Thema heute: „Der starrköpfige Pilz”. Muriel hasst Pilze, probiert es aber dennoch und ist froh, dass der Kühlschrank noch zahlreiche andere Zutaten bietet, die sie auf der Theke verteilt.
Neben Senf mit verschiedenen Aromen und Honig gibt es Obst, Gemüse und Kräuter in allen Variationen. Außerdem eine große Auswahl an verschiedenen Ölen — genug, um jedem guten Restaurant Konkurrenz zu machen. Jede Teilnehmerin bekommt eine Schürze, ein Brett und ein Messer. Dann bedient sich jeder an den Lebensmitteln, öffnet Gläser, riecht daran und stellt sich seine Zutaten zusammen.
Emmanuelle beobachtet alles aus der Entfernung und macht sich Notizen. Nach ungefähr 20 Minuten präsentieren die Teilnehmerinnen ihre Gerichte am Esstisch. Emmanuelle macht Fotos und bitte jede der Frauen, ihr Gericht zu beschreiben und wie es zum Thema des Abends passt.
Alle haben die Pilzköpfe verwendet und so den Titel der Übung spielerisch umgesetzt. Hélène hat sich für Amuse-Bouches entschieden: Pilzscheiben mit Roquefort, Äpfeln und ein wenig Mimolette. „Man merkt, dass ich Apéros mag, oder?”, fragt sie lachend.
Ihre Mutter Clarisse hingegen hat die Pilzköpfe ausgehöhlt und mit Oliven und Tomaten gefüllt. Darauf hat sie ein Blatt Koriander oder den Pilzstiel gelegt: „Ich habe mich ein bisschen von Partybroten inspirieren lassen.” Beim Anblick der anderen Kreationen meint sie selbst, sie „hätte ein bisschen mehr machen können. Das ist ja schon sehr simpel”.
Muriels Idee ist wohl am ausgefallensten: Sie hat den Pilzkopf ausgehöhlt und mit „einer Mischung gefüllt, die ihr spontan in den Sinn kam: Cabécou-Ziegenkäse, Schinken und Knoblauch.” Garniert hat sie die Pilze dann mit einer halben Kirschtomate und Lauch.
Jedes der Gerichte repräsentiert die kulinarischen Gewohnheiten der Teilnehmerinnen. Heute fällt die Auswertung eher kurz aus — das ist aber nicht immer so. Bei Emmanuelles Workshops erkennen die Teilnehmer oft Grundlegendes. Einmal hat eine Teilnehmerin „eine Beziehung damit verglichen, wie schwierig es ist, aus verschiedenen Pflaumen eine Halbkugel zu bauen.”
Nachdem jeder sein Gericht vorgestellt hat, schlägt Emmanuelle vor, alles zu probieren. Dabei werden Anmerkungen ausgetauscht und die Teilnehmerinnen versuchen, die einzelnen Zutaten genau herauszuschmecken.
Bei der zweiten Küchensession geht es wieder um Pilze, diesmal aber mit einem neuen Thema: „Deine aktuelle Stimmung”. Hélène macht sich sofort an einen Salat, Clarisse und Muriel fällt das Thema etwas schwerer. Am Ende entscheidet sich Muriel für kleine herzhafte Kuchen. Clarisse hat bei dieser Kochrunde am meisten Probleme. Dass sie jetzt in sich selbst hineinschauen muss, bringt sie aus ihrem psychischen Gleichgewicht. Dann schmeißt sie schließlich den Herd an und karamellisiert Äpfel in Butter.
,Ich bin nicht aus meiner persönlichen Wohlfühlzone herausgetreten, meine kleinen Küchlein sprühen nicht gerade vor Kreativität. Aber ich hatte eine tolle Zeit mit Menschen, die ich überhaupt nicht kenne und ich konnte einfach mal loslassen.’
Zurück am Tisch hat Emmanuelle ein kleines Schild mit verschiedenen Fragen vorbereitet, das bei der finalen Auswertung dieses Workschops helfen soll: „Was habt ihr heute gefühlt? Was hat euch dieser Workshop gebracht?” Sie gibt den Teilnehmerinnen kleine Notizbücher, damit sie sich ihre Gedanken kurz aufschreiben können.
Am Ende hat jede der Teilnehmerinnen das Thema mehr oder weniger persönlich interpretiert, aber Hélène ist die einzige, die sich strikt an die Stimmungsthematik gehalten hat: Weil sie sich müde fühlte, hat sie einen Salat gemacht, denn wenn ein Franzose einen Salat ordentlich vermengt, ermüdet er ihn wortwörtlich.
Emmanuelle bemerkt diesen Zusammenhang gar nicht. „Das ist alles sehr symbolisch. Die Ergebnisse sind ganz anders als die ursprüngliche Aufgabe, mit der ihr euch bewusst machen konntet, dass ihr improvisieren könnt”, sagt sie danach.
Hélène ist total begeistert und fühlt sich „entspannt”. „Dadurch kann ich viel mehr Selbstbewusstsein haben. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass es möglich ist, aus all den Lebensmitteln im Kühlschrank etwas Schönes zu zaubern, ganz ohne Rezept und vor allem ohne dafür Stunden in der Küche zu verbringen.” Clarisse ist, auch wenn sie die entspannte Stimmung in Emmanuelles Küche wirklich mochte, enttäuscht von ihren Kreationen: „Ich glaube, ich muss mehr Zeit in der Küche verbringen.”
Auch Muriel bedauert, dass sie nicht mehr gemacht hat: „Ich bin nicht aus meiner persönlichen Wohlfühlzone herausgetreten, meine kleinen Küchlein sprühen nicht gerade vor Kreativität. Aber ich hatte eine tolle Zeit mit Menschen, die ich überhaupt nicht kenne und ich konnte einfach mal loslassen.” Emmanuelle hört allen aufmerksam zu, macht sich Notizen ohne dabei die Teilnehmerinnen zu unterbrechen. Manchmal hilft sie jedoch den Frauen, ihre Gedanken auszuformulieren.
Mittlerweile ist es kurz nach 23 Uhr. Alle Teilnehmerinnen haben sich vollkommen Fremden gegenüber öffnen können und ihren Körper, ihre Sinne und ihre Kreativität neu entdeckt sowie ihren derzeitigen emotionalen Zustand besser verstehen gelernt. Zeit, in die reale Welt zurückzukehren. Hélène hätte nichts dagegen, wenn das noch ein bisschen dauert:„Am liebsten würde ich sofort schlafen gehen”, sagt sie mit vollem Magen und erleichterter Seele.
*Name wurde geändert.