Gluten: Es macht depressiv, müde und die Gedärme verknoten sich dadurch. Stimmt’s? Und wahrscheinlich hat es dir auch noch 20 Euro aus der Geldtasche gestohlen, als du gerade nicht hingeschaut hast.
Für manche von uns ist es schwer vorstellbar, dass ein kleines Protein hinter all diesen Problemen stecken soll— besonders wenn man daran denkt, dass Weizen, eines der wichtigsten glutenhaltigen Lebensmittel, die menschliche Bevölkerung seit 10.000 Jahren ernährt.
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Aber was wäre, wenn das Problem nicht Gluten per se ist, sondern der Weizen, den wir heute essen? Weizen wurde manipuliert und so verändert, dass er kaum mehr Getreide ähnelt, ganz zu schweigen von dem Getreide, das unsere Vorfahren jahrhundertelang erfolgreich verdaut haben.
Heute behauptet ein Drittel der Bevölkerung, an einer Glutenunverträglichkeit zu leiden, obwohl beispielsweise in Deutschland bei gerade einmal 0,19 Prozent der Bevölkerung Zöliakie diagnostiziert wurde. Forscher der amerikanischen Mayo Clinic sagen, die Zahl der Patienten, die von gastrointestinalen Symptomen berichten, habe sich in den letzten 60 Jahren vervierfacht. Was ist also passiert?
Zuerst ein bisschen Geschichte: Im antiken Griechenland war weißes Mehl unglaublich beliebt. Je weißer das Mehl, desto höher der sozioökonomische Status des Essenden. Die makellose Farbe wurde oft durch Zugabe von Knochen oder Kreide erreicht. Wir spulen vor in die 1950er-Jahre: Ein nobelpreisgekrönter Wissenschaftler kreuzt modernen Weizen—eine Zwergensorte mit großer Ähre. Und irgendwann beschloss jemand, dass die Art, wie man Brot jahrhundertelang backte, nicht schnell genug ist. Anstatt das Brot über mehrere Tage fermentieren und aufgehen zu lassen, verwenden die meisten Bäcker heute Backtriebmittel, wodurch sich die Fermentationszeit auf wenige Stunden verkürzt und weniger Zeit bleibt, in der sich die Proteine und die Stärke vor dem Backen aufspalten können.
Bei der Spence Farm in Fairbury im amerikanischen Bundesstaat Illinois ist das jedoch nicht der Fall. Dort wächst eine vielfältige Auswahl an biologisch angebauten Nutzpflanzen—von Paprika bis Roggen—, so idyllisch, dass man fast „America the Beautiful” anstimmen möchte.
Der Weizen, den wir uns an einem wolkenverhangenen Julitag anschauen, funkelt nicht in Gold, sondern ist grün, hat einen Bart wie der Barista in deinem Stammcafé und trägt den Namen Einkorn. Dieses uralte Korn ist eine von zwölf modernen und alten Sorten, die Bill Davison an der University of Illinois Extension untersucht. Davison ist ehemaliger Bauer und heute Wissenschaftler, der Grand Prairie Grain Guild gründete, nachdem er The Third Plate von Dan Barber gelesen hatte, in dem es um die Frage geht, weshalb Getreide beim Farm-to-table-Dialog links liegen gelassen wird. Mit der Hilfe von Bauern wie Marty Travis von der Spence Farm erforschte er den Marktwert, den Geschmack und das Backpotential von sogenannten „identity-preserved grains”. Wenn man auf die umliegenden scheinbar endlosen Felder von Mais und Sojabohnen blickt, deren Ernte in Getreidespeichern der Regierung landet, sieht man, weshalb ihre Mission keine populäre ist.
„Eines unserer Ziele ist, einige dieser alten Sorten mit ihren unglaublichen Eigenschaften—sei es der Geschmack oder die Konsistenz—wiederzuentdecken, weil so vielen modernen Kreuzungen etwas fehlt”, sagt Travis. „Und dann haben wir noch die Hoffnung, dass wir durch den Anbau von Einkorn und Emmer Leute mit einer Glutenunverträglichkeit wieder an Brot heranführen können.”
Man muss anmerken, dass keine Weizensorte für Zöliakiekranke als komplett sicher gilt, aber das ist auch nicht die Zielgruppe ihres Unterfangens. Es geht viel mehr darum, Leuten mit einer Unverträglichkeit ohne eindeutige Ursache oder denen, die einfach den Glutenfrei-Trend mitmachen, Getreide wieder näher zu bringen.
Es dauerte zwei Jahre, um genügend der seltenen Samen zu sammeln, um das Feld, auf dem ich mich mit Davison, Travis, Travis’ Sohn Will und Greg Wade—Glutengroupie und Chefbäcker bei Publican Quality Bread in Chicago—befinde, zu sähen. Und zwei weitere Jahre, bis eine verwendbare Menge angebaut wurde.
Travis sieht besorgt aus. Mit seinen Stiefeln steckt er im Schlamm fest, als er nach dem Kopf einer weißen Sonora greift, die den regnerischsten Sommer in seinen zehn Jahren als Bauer überlebt hat. Aber es ist nichts in der Ähre drin, wie ein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum, das nur mit Geschenkpapier gefüllt ist. Dem Einkorn geht es besser und Travis ist zuversichtlich, dass genug wächst, um es zu ernten, mahlen und zu Wade in die Bäckerei zu schicken, der die Sorte auf den Geschmack, die Konsistenz, die Wasseraufnahme und andere Eigenschaften überprüft.
Einkorn wird später in der Saison gepflanzt, um die Fremdbestäubung zu vermeiden. Sein Wachstumszyklus dauert etwa einen Monat länger als der des anderen Getreides von Travis. Einkorn wächst mehr wie wildes Gras und so nimmt es die Nährstoffe anders auf und macht es resistent gegen Vomitoxin—ein Mykotoxin, das von Weizen und Gerste produziert wird und weniger als ein Teil pro Million ausmachen muss, damit es nach den Vorschriften der amerikanischen Lebensmittelbehörde für den menschlichen Konsum sicher ist.
Neben seinem grünen Erscheinungsbild besitzt diese alte Weizensorte ein Drittel der Chromosomen von modernem Weizen—14 im Vergleich zu 42. Lisa Kissing Kucek, eine Masterstudentin an der School of Integrative Plant Science der Cornell University und Autorin eines Paper mit dem Titel A Grounded Guide to Gluten schließt daraus, dass diese vergleichsweise einfachere Erbgutstruktur das Einkorn leichter verdaulich macht. Genauer gesagt fehlt dem Einkorn das D-Genom, das die chemischen Prozesse in Gang bringt, die mit den gastrointestinalen Beschwerden in Verbindung stehen. Diese Weizensorte sowie ähnliche ältere Sorten „weisen eine geringere durchschnittliche [Immun-]Reaktivität als normaler Weizen auf”, schreibt sie. Unternehmen wie Jovial, das sich auf Einkornmehl spezialisiert, stützen sich auf diese Eigenschaften in der Vermarktung ihrer Produkte für Kunden mit einer Glutenunverträglichkeit.
Es ist schwierig, allgemein gültige Schlussfolgerungen über eine Weizensorte zu ziehen. Das liegt an der genetischen Wandelbarkeit nicht nur zwischen verschiedenen Weizensorten, sondern auch innerhalb einer einzigen. Travis baut beispielsweise seit acht Jahren Glenn—ein harter roter Sommerweizen—an, für den er das ursprünglichen Saatgut von einem benachbarten Bauern bekam. Wenn man heute Travis Glenn-Weizen und den seines Nachbars vergleicht, wird man Unterschiede in der Farbe, im Geschmack und der Beschaffenheit feststellen. Travis hat den Eindruck, Weizen sei „recht anpassungsfähig” an die Wuchsbedingungen, die Zusammensetzung der Erde und den Fruchtwechsel.
Auf der Spence Farm muss es lange genug aufhören zu regnen, sodass der Erdboden trocknet und der Mähdrescher ernten kann. Dann schickt Travis seinen Weizen zu einem Reiniger in der Nähe, der mit Hilfe der Schwerkraft und einigen Sieben jegliche übrig gebliebene Hüllen entfernt und kranke Körner aussortiert. Dann kommen die Weizenkörner zurück zur Spence Farm, wo sie in einer kleinen Steinmühle gemahlen werden und in einem roten Schuppen zwischen den Feldern und dem Bauernhaus gelagert werden. Am darauffolgenden Tag wird Köchen und Bäckern wie Wade Vollkornmehl zugestellt, das völlig frei von Zusatz- oder Konservierungsstoffen ist.
In der Mühle, die sich in einem mit Staub bedeckten Raum so groß wie ein Schrank befindet, präsentiert Wade zwei Behälter, die nebeneinander stehen und in denen sich jeweils eine Mischung aus Wasser und Mehl befindet. Einer davon enthält kommerzielles Mehl, der andere Mehl von der Spence Farm. Die frische Mehlmischung blubbert vor enzymatischer Aktivität, während sich die andere so viel bewegt wie ein totgefahrenes Tier.
Dieser Trick wird durch eine Erfindung ermöglicht, die in der Ära der verarbeiteten Lebensmittel im 19. Jahrhundert eingeführt wurde: eine mit Walzstühlen ausgestattete Mühle. Zwei Walzstühle rotieren mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und trennen die Weizenkleie und -keime—mit den Enzymen, Ballaststoffen und Nährstoffen—vom Nährgewebe, wobei weißes Mehl entsteht. Mitte bis Ende 20. Jahrhundert bemerkten Ärzte und Ernährungsexperten erstmals einen Anstieg in Herzerkrankungen, Diabetes und Verdauungsproblemen, die in Zusammenhang mit dem Massenkonsum von weißem Mehl standen. Die Lösung dafür war, das Mehl mit Vitaminen, Riboflavin, Folsäure, Niazin, Eisen sowie Gerstenmalz anzureichern, um seine Backfähigkeit wiederherzustellen. Kucek und andere sagen, dass sich raffiniertes Mehl mit den Zusatzstoffen nie auf die gleiche Art und Weise wie traditionell gemahlenes Vollkorn verhalten wird und dass die Wahrscheinlichkeit, dass es Allergien, das Reizdarmsyndrom und Verdauungsstörungen auslöst, höher ist.
Auch wenn man die ältesten Getreidesorten verwendet werden und sie so mahlt, dass sie intakt bleiben, enthalten sie dennoch Gluten. Und genau da kommt Wade ins Spiel. Sein rechter Arm ist von einem einzigen großen Tattoo bedeckt, das den Lebenszyklus eines Brots darstellt.
Seit Wade Travis vor sieben Jahren, als er noch Brot im Holzofen für Stephanie Izard bei Girl & the Goat backte, traf, versucht er, auch andere von Vollkorn aus der Region zu überzeugen. Die Anhängerschaft ist zwar klein, aber sie ist im letzten Jahr dank Leuten wie Dan Barber und Chad Robinson, deren Tartine Book No. 3 sich um das Backen mit Vollkorn und alten Getreidesorten dreht, gewachsen.
„Wenn man eine richtig schön reife alte Tomatensorte hat, ist das etwas so Einzigartiges, Besonderes und Tolles”, sagt Wade. „Aber Mehl ist etwas so Alltägliches und es ist in so vielen Dingen drin. Es ist den meisten einfach egal, schätze ich.”
Wenn Wade mit den verschiedenen Getreidesorten der Spence Farm arbeitet, testet er nicht nur die Backfähigkeit, sondern achtet auch auf die enzymatische Aktivität und die Protein-Eigenschaften. Er ist auf Langzeitfermentierung spezialisiert, ein Prozess, bei dem Stärke und Protein besser aufgespaltet wird. Das sorgt für eine leichtere Verdauung sowie für die Produktion von Phytase, einem Phytinsäureinhibitor, der es dem Körper ermöglicht, mehr Nährstoffe aufzunehmen. Im Grunde erledigt sein Brot schon die Arbeit, bevor es in den Magen gelangt.
„Wir hoffen, dass wir alle diese fehlgeleiteten Glutenhasser auf die richtige Fährte bringen können”, sagt Wade. „Wir wollen diesen Leuten zeigen, dass man vor Essen keine Angst haben muss, wenn es richtig angebaut und zubereitet wird und hoffen, dass sie sich von kommerziellem Weizen und Getreide entfernen.”
Mit der Zeit—innerhalb der nächsten vier Monate—wird sich zeigen, ob Wade und seine Partner mit ihrem Weizen-Kreuzzug Erfolg haben werden, aber für alle, die aus Angst vor Gluten Brot von ihrem Speiseplan gestrichen haben, ist es definitiv ein Schritt in die richtige Richtung.