Shay zieht erst ihr Shirt und dann ihren BH aus, legt sich ins Gras und genießt die Sonne. Ganz in der Nähe sonnt sich ein älterer Mann. “Der hatte auch nur eine Unterhose an, so wie ich”, sagt sie. Alles ziemlich normal an einem heißen Sommertag in Berlin, an einer abgelegenen Stelle auf dem Tempelhofer Feld. Dann kommt der Sicherheitsdienst. “Zieh dir mal was an”, habe eine Mitarbeiterin der Parkaufsicht zu ihr gesagt, erzählt Shay, die extra eine Stelle ausgewählt hatte, an der keine Familien in der Nähe waren.
“Ich habe den Grund nicht verstanden, vor allem weil fünf Meter neben mir ein Typ lag, der auch oben ohne war”, sagt Shay. Als sie die Parkaufseherin fragt, warum der Mann sich nicht anziehen müsse, bekommt sie eine Antwort, die zeigt, wie ungleich unserer Gesellschaft Männer- und Frauenkörper behandelt: “Du hast Brüste und er nicht.”
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Shay fand das ziemlich merkwürdig, aber zog sich trotzdem an. “Als sie weg waren, habe ich mich natürlich wieder ausgezogen. Aber ich habe mich dumm gefühlt, weil ich das Gesetz nicht kannte.”
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Shays Geschichte ist nichts Außergewöhnliches, etwas, das jeder Frau passieren könnte. Aber genau das ist der Punkt: Dass Leute von Sicherheitsdiensten, Ordnungsämtern oder Polizei das Gleiche zu einem Mann sagen würden, ist unwahrscheinlich – wenn er nicht gerade am Zaun einer Kita rüttelt.
Dass das extrem ungerecht ist, darauf kann man sich schnell einigen. Nur: War die Parkwärterin trotzdem im Recht? Dürfen Frauen in Deutschland nicht oben ohne rumlaufen, Männer aber schon? Und wie zur Hölle kann es dann sein, dass im Grundgesetz steht, “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”?
Das Krasse ist: Obwohl kein Gesetz in Deutschland Frauen untersagt, sich in der Öffentlichkeit das Top auszuziehen, gibt es Leute, die ihnen das trotzdem verbieten können. Wie das sein kann? Wir haben uns die entsprechenden Gesetze und Verordnungen mal genau angeschaut. Und jetzt wird es richtig absurd.
Wer entscheidet, was sich im Park gehört und was nicht?
Das Tempelhofer Feld, der Park auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, gehört der Stadt, also im Prinzip der Allgemeinheit. Das Sagen hat allerdings ein privater Sicherheitsdienst. Der arbeitet im Auftrag der “Grün Berlin GmbH”, die das Tempelhofer Feld wiederum im Auftrag der Stadt verwaltet. Der Sicherheitsdienst, das sind die Leute in den marineblauen Poloshirts, die auch gegen 22:30 Uhr mit ihren Autos über die Rollfelder fahren und die letzten Besucher und Besucherinnen verscheuchen. Sie setzen für die “Grün Berlin GmbH” das Hausrecht der Stadt durch.
“Wenn der Hausrechtsinhaber etwas nicht möchte, hat er das Recht, es zu untersagen”, sagt der Berliner Strafverteidiger Carsten R. Hoenig. Hat die Stadt Berlin also etwas gegen nackte Brüste, kann sie Frauen zunächst einmal verbieten, sich auszuziehen. Das ist so ähnlich wie bei Facebook, wo weibliche Brustwarzen ein Löschungsgrund für einen Beitrag sind, männliche hingegen nicht.
In der Benutzungsordnung des Tempelhofer Felds [pdf] steht allerdings gar nichts von einem Oben-Ohne-Verbot. Wir kommen zur Absurdität Nr. 1: Muss es auch nicht.
“Die Hausordnung bestimmt nur Allgemeines; im besonderen Einzelfall wird individuell entschieden”, sagt Rechtsanwalt Hoenig. Anders gesagt: Nur weil jemand etwas in seiner Hausordnung nicht ausdrücklich verbietet, ist es nicht automatisch erlaubt. Darf die Frau vom Sicherheitsdienst also ihrem Gefühl folgen und Regeln durchsetzen, die nirgendwo formuliert sind?
Michael Krebs vom Parkmanagement des Tempelhofer Felds räumt gegenüber VICE per Mail mögliche Fehler der Mitarbeiterin ein.
“Sollte sich das Ereignis so abgespielt haben, dann hat die Mitarbeiterin unserer Parkaufsicht falsch reagiert und gehandelt”, schreibt Krebs. “Der Aufenthalt mit nacktem Oberkörper auf dem Tempelhofer Feld ist nicht verboten, sondern wird von uns toleriert, sofern keine ‘Erregung öffentlichen Ärgernisses’ vorliegt und nicht gegen Gesetze verstoßen wird.”
Erkenntnis 1: Nach den Regeln des Tempelhofer Felds hat Shay nichts falsch gemacht (was sie sicher freuen wird).
Erkenntnis 2: Laut Parkmanagement gelten für “Oben ohne” bei Frauen allerdings gesetzliche Grenzen. Aber stimmt das auch?
Oben ohne? Welche Gesetze verbieten es Frauen, in der Öffentlichkeit ihre Brüste zu zeigen?
“Ich komme aus Jerusalem, wo Nacktheit ein großes Thema ist”, sagt Shay. “Als ich als junges Mädchen mit einem kurzen Rock auf einer Parkbank saß, setzte sich ein alter Mann neben mich und holte sich einen runter. Als ich nach Deutschland kam, dachte ich, hier machen sich die Leute endlich mal nicht so viele Gedanken über die Körper von anderen.” Bekanntschaft mit dem Ordnungsamt hatte Shay damals offensichtlich noch nicht gemacht.
Ordnungsämter sind Einheiten der Kommunalverwaltungen. Wofür sie genau zuständig sind, ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt. Grob gesagt kümmern sie sich um alles, was nicht wichtig genug für die Polizei ist. Strafzettel, Ruhestörung oder auch Cafétische, die einen Zentimeter über die erlaubte Markierung hinausragen. Waffen tragen oder ihr Recht mit Zwangsmitteln durchsetzen dürfen sie im Gegensatz zur Polizei aber nicht.
Außerhalb von Privatgrundstücken im öffentlichen Raum gibt es in Deutschland zwei Paragraphen, mit denen dir halbwissende Leute vom Ordnungsamt drohen könnten, wenn du dich obenrum frei machst. Der erste ist der Paragraph 183a im Strafgesetzbuch, “Erregung öffentlichen Ärgernisses”. Er besteht aus einem Satz und wenn man ihn liest, kann man kaum fassen, dass er auf nackte Oberkörper zutreffen soll: “Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.”
Man müsste schon ein 14-Jähriger mit Samenstau sein, um im Zeigen von Brustwarzen eine sexuelle Handlung zu sehen. Rechtsanwalt Hoenig drückt es anders aus, meint aber auch, dass Paragraph 183a nicht greift: “Das bloße Nacktsein stellt keine sexuelle Handlung dar.”
Bleibt noch Paragraph 118 Ordnungswidrigkeitengesetz, “Belästigung der Allgemeinheit”. Er besagt, dass jeder “ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen”. Schwammiger hätte man auch die AGBs einer illegalen Pokerrunde bei den Hells Angels nicht formulieren können. Und so liegt es im Ermessen jedes Gerichts, diesen Gummiparagraphen in die Richtung des eigenen Weltbilds zu dehnen. Und das ist ein Problem.
Man braucht sich nur mal vorzustellen, Shay hätte sich nicht auf dem Tempelhofer Feld ihren BH ausgezogen, sondern in einem Park ohne GmbH mit Hausrecht, in dem Ordnungsamt und Polizei zuständig sind. Dürfte ein Polizist hier eine Frau auffordern, sich zu bedecken?
Lieber oberkörperfrei auf eine Demo als vor einem Kindergarten
“Ja und nein”, sagt Carsten Hoenig. “Strafbar ist die bloße Nacktheit auf gar keinen Fall und ordnungswidrig im Prinzip auch nicht.” Wenn ein Polizeibeamter allerdings jemanden auffordern würde, sich etwas anzuziehen, müsste man ihm trotzdem erst einmal gehorchen. Denn obwohl es ziemlich nach DDR klingt, muss man in Deutschland einer polizeilichen Anordnung Folge leisten – auch wenn man subjektiv das Gefühl hat, dass der Beamte nicht im Recht ist. Im Rechtsjargon heißt das, dass der Beamte sein Ermessen auf Basis des allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes ausübt. Oder noch schöner, in den Worten von Rechtsanwalt Hoenig: “Dann ist das eine behördliche Weisung oder auch ein Verwaltungsakt.”
Der Aufforderung eines Polizisten darf man sich nur widersetzen, wenn die Weisung völlig willkürlich ist. Nur: Bis etwas aus rechtlicher Sicht willkürlich ist, so Hoenig, müssen sehr hohe Anforderungen erfüllt sein.
Konkret heißt das: Man sollte sich tatsächlich anziehen, so sinnlos es einem auch erscheint. Im Nachhinein kann man vor Gericht gegen den Verwaltungsakt klagen, um herauszufinden, ob die Weisung rechtmäßig war. Dann müsste der Beamte erklären, warum die Brustwarzen aus seiner Sicht die öffentliche Ordnung gefährdet haben – etwa weil sich in der Nähe eine Kirche oder Moschee befand. Trotzdem rät Hoenig in diesem Fall eher davon ab, zu klagen.
Solche Verfahren seien nicht nur teuer, sie bezögen sich auch immer nur auf den konkreten Einzelfall. Wenn eine Frau bei einer Demonstration mit freiem Oberkörper rumläuft, sei das etwas anderes, als wenn jemand das Gleiche vor einem Kindergarten macht, sagt Hoenig: “Ein freier Oberkörper führt nicht zu einer Strafe oder einem Bußgeld. Trotzdem müssen Sie den Weisungen des Polizisten Folge leisten, weil das andernfalls wiederum ein Bußgeld wegen der Nichtbefolgung einer Weisung nach sich ziehen könnte.” Wenn jedoch statt Polizeibeamten jemand vom Ordnungsamt kommt und meckert, sähe die Sache anders aus: “Ein ziviler Beamter vom Ordnungsamt kann so eine Weisung in der Regel nicht durchsetzen.” Das könnte erst die Polizei – und dann geht alles von vorne los.
Es ist also grundsätzlich nicht verboten, als Frau oben ohne herumzulaufen. Im Einzelfall kann man aber trotzdem Ärger mit der Polizei bekommen, wenn man aus deren Sicht die Rechte anderer oder die öffentliche Ordnung bedroht.
Shay versteht das trotzdem nicht und sagt, es gehe ihr ja nicht darum, in der Öffentlichkeit Sex zu haben: “Ich will mich einfach frei fühlen, genauso wie ein Mann, aber ich kann das nicht.” Warum eigentlich nicht? Setzt das Grundgesetz wirklich andere Maßstäbe an Männer- als an Frauenkörper?
Unterschiede zwischen Mann und Frau: Das sagt das Grundgesetz
Man braucht nur ein paar Seiten im Grundgesetz zu lesen, und schon könnte man als Laie auf die Idee kommen, den nächsten FKK-Urlaub darauf zu verwetten, dass zwischen Männern und Frauen überhaupt nie ein Unterschied gemacht werden dürfe. “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”, steht da nämlich gleich ganz vorne, im Artikel 3, Absatz 1. Und weiter: “Männer und Frauen sind gleichberechtigt.” Das einzige Problem: Man würde die Wette verlieren.
Obwohl die Autorinnen und Autoren der Verfassung mit dem zweiten Absatz nämlich extra unterstreichen wollten, dass Männer und Frauen gleich sind, lässt das Bundesverfassungsgericht aufgrund biologischer Unterschiede Ausnahmen zu. Demnach dürfte man Geschlechter dann ungleich behandeln, wenn sich “Probleme”, die nur bei Frauen oder Männern auftreten können, nicht anders lösen lassen – was natürlich eine daunenweiche Formulierung ist. Ein Beispiel ist der Kündigungsschutz, der zwar für Schwangere, jedoch nicht für den Vater eines Ungeborenen gilt. Was erstmal logisch klingt. Dass die Brüste von Frauen “Probleme” darstellen allerdings, und man sie deswegen anders behandeln müsste als Männerbrüste, das tut von der Logik her schon beim Aufschreiben weh. Trotzdem ist es sogar schon passiert, dass sich Frauen fürs Nackt-Sonnenbaden im eigenen Garten rechtfertigen mussten. Verfassungsrechtlerinnen könnten sich in solchen Fällen auf das sogenannte Willkürverbot stützen.
Die folgende Erweiterung zum Gleichheitsgrundsatz sollte man mindestens zweimal lesen, nicht nur, weil sie einem sprachlich die Hirnwindungen neu verknotet: “Wesentlich Gleiches darf nicht willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches nicht willkürlich gleich behandelt werden.” Sind Männer und Frauen also wesentlich gleich oder wesentlich ungleich? “Zumindest was den Oberkörper angeht, sind sie augenscheinlich nicht gleich. Rechtlich gesehen könnte man da aber auch einen anderen Standpunkt einnehmen”, fasst Rechtsanwalt Hoenig das Dilemma zusammen.
Die Sache ist auf den ersten Blick verfassungsrechtlich hochkomplex. Hängt in Wahrheit aber an einem einzigen Argument –, das eigentlich nur vertreten kann, wer noch immer glaubt, Männer müssten Frauen erklären, was gut für sie ist: dass man Frauen nämlich ihre Nacktheit verbieten muss, weil ihnen sonst ein Nachteil entstehen würde. Überhaupt wäre es völlig wahnsinnig zu behaupten, man würde ein Geschlecht durch einseitige Verbote weniger diskriminieren. Dennoch bleibt das Recht jeder einzelnen Frau eine Sache der Auslegung. Und es unterliegt der Frage, inwiefern die Freizügigkeit die Rechte anderer berührt.
Was kann man also tun, wenn sich jemand an der Freizügigkeit eines anderen stört?
Die pragmatische Lösung wäre, sich anzuziehen, und wenn die Parkwächterinnen, Ordnungsamt-Leute oder die Polizei abziehen, sich wieder auszuziehen. Die anstrengende, aber potentiell befriedigendere Lösung ist, vor Gericht zu klagen. Doch leider kann man sich dabei nicht auf ein konkretes Gesetz stützen, was auch Shay wundert, denn schließlich sind wir in Deutschland: “Neulich war ich mit einer Freundin in der Sauna”, erzählt sie. “Weil sie ihre Periode hatte, wollte sie ihre Unterhose anlassen. Aber das durfte sie nicht. Sie musste nackt sein, weil es so in den Hausregeln steht. Das fand ich dann auch wieder zu krass, aber es hat mir gezeigt, dass es in Deutschland eigentlich für alles ein Gesetz gibt.”
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