Dieser Artikel ist zuerst auf Broadly erschienen.
Die Nachbarstädte Colorado City in Arizona und Hildale in Utah—eine Grenzsiedlung, die früher als Short Creek bekannt war und in der die Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints (FLDS) zu Hause ist—sind Orte, an denen unfassbare Schönheit und unaussprechlicher Schmerz Seite an Seite existieren.
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1913 von mormonischen Fundamentalisten gegründet, die sich von der traditionellen Kirche der Heiligen der Letzten Tage abgespalten hatten, um ihren Grundsatz der Mehrfachehe auszuleben, lebt diese Gemeinde geografisch isoliert durch die Vermillion Cliffs und das Colorado Plateau. Wer durch das Gebiet fährt, fühlt sich in eine andere Zeit zurückversetzt. Hier tragen Frauen knöchellange, langärmelige Prärie-Kleider und kein Makeup. Weil es zu dem Glauben der Gemeinde gehört, dass die Frauen im Himmel ihren Ehemännern die Füße mit ihrem Haar waschen werden, tragen sie es lang und aufwändig geflochten. Die Männer sollen angeblich ihre Chancen steigern, im Himmel zu Göttern zu werden, wenn sie mehrere Ehefrauen haben. Je mehr, desto besser. Doch dieser Brauch ist für viele in der Gemeinde eine lebenslange Qual.
Zwar hat die mormonische Kirche offiziell die Fundamentalisten verstoßen, doch die FLDS kann ihre Geschichte bis hin zu dem Gründer-Propheten Joseph Smith zurückverfolgen. John Y. Barlow (dessen Namen noch heute viele seiner Nachfahren tragen) war bis zu seinem Tod 1949 das erste Oberhaupt der FLDS. In seine Fußstapfen folgte eine Reihe Männer, bis „Uncle Rulon” Jeffs 2002 starb und von seinem berüchtigten Sohn Warren als Prophet abgelöst wurde.
Nachdem er quer durch die USA vor der Polizei geflüchtet war, wobei er auf der FBI-Liste der zehn gesuchtesten Flüchtlinge landete, wurde Warren Jeffs 2006 in Las Vegas gefasst. Er hatte zum Zeitpunkt seiner Festnahme 78 Ehefrauen—ein Drittel von ihnen war unter 17. 2011 wurde Jeffs für die Vergewaltigung zweier seiner „Kinderbräute”, Alter 12 und 15, des sexuellen Kindesmissbrauchs für schuldig befunden. Doch obwohl er aktuell eine lebenslängliche Haftstrafe plus 20 Jahre in einem Bundesgefängnis im texanischen Palestine absitzt, kontrolliert Jeffs die Sekte von dort aus weiter, wobei er seinen loyalen Bruder Lyle Jeffs als Stellvertreter und Sprachrohr einsetzt.
In den Jahren seit seiner Festnahme hat „Uncle Warren” neue Regeln aus dem Gefängnis mitgeteilt. Die verstörendste davon ist sicherlich jene, die jeglichen körperlichen Kontakt, darunter natürlich auch Sex, zwischen Ehepartnern verbietet. In der heutigen FLDS kann eine Frau nur von einem der 15 „seed bearers” geschwängert werden, die Warren ausgewählt hat, um die Stammbäume fortzuführen. Laut den Gerichtsdokumenten, die von Lyle Jeffs’ Exfrau beim Scheidungsprozess eingereicht wurden, ist es „die Verantwortung des Ehemanns, seinen Frauen die Hand zu halten, während der Seed Bearer seinen Samen ausbringt. Für Laien heißt das, dass der Ehemann im Zimmer sitzen muss, während der auserwählte Seed Bearer, oder mehrere, seine Ehefrau oder Ehefrauen vergewaltigt oder vergewaltigen.”
Dies ist eine Gemeinde, in der die meisten Kinder noch nie von Weihnachten oder Santa Claus gehört haben, geschweige denn das Fest gefeiert haben (die Fundamentalisten begehen keine „weltlichen” Feiertage). Außerdem hat Jeffs 2011 ein völliges Verbot von Spielzeug eingeführt.
„Ich hatte einen Nachbarn, der direkt gegenüber von meinem Garten wohnte. Ich sah zu, wie der Mann neben seiner Mülltonne stand und überwachte, wie seine kleinen Kinder ihre Spielsachen herausbrachten. Er nahm sie alle, zerbrach sie und schmetterte sie in die Tonne”, schrieb das ehemalige FLDS-Mitglied Brenda Nicholson bei Voices for Dignity, einer Organisation, die von der Menschenhandelsüberlebenden Christine Marie Katas gegründet wurde, um gegen den Missbrauch, die Ausbeutung, Unterdrückung und Erniedrigung von Menschen in polygamen Sekten sowie verwandte Formen des kirchlichen Missbrauchs vorzugehen.
Dieses Verbot gehört zu den Dingen, die Christine Marie dazu inspirierten, eine Weihnachtsfeier in Short Creek zu planen, der sie den Namen First Christmas gab. „Die Leute sagen, über der Stadt hängt eine Wolke”, sagte sie mir. „Ich habe First Christmas geplant, um Freude zu verbreiten und dazu beizutragen, dass diese graue Wolke durch Liebe aufgelöst wird.”
Christine Maries Organisation Voices for Dignity erhielt dabei Unterstützung von Sound Choices Coalition, Church for the Nations in Phoenix, Movies Making Difference, Safety Net und Children’s Refuge, und zusammen veranstalteten sie am 16. Dezember eine Weihnachtsfeier für die Leute in Short Creek, wie sie noch eine erlebt hatten. Bei der Veranstaltung waren alle ehemaligen Mitglieder der FLDS willkommen (sowie aktuelle Mitglieder, die neugierig auf ein Leben in Freiheit sind). Auch wurden Frauen willkommen geheißen, die kurz zuvor dem Kingston-Clan, einer polygamen Sekte in Salt Lake City, entkommen waren.
Im Gebäude der Holm Sunday School in Hildale, Utah, standen reihenweise Klapptische, die sich unter Tabletts mit Plätzchen in allen Formen und Farben bogen. An anderen Tischen gab es diverses Bastelmaterial: Papier und Klebstift, Glitzer, Pfeifenputzer und viele weitere kindgerechte Utensilien, um Weihnachtsdekorationen herzustellen. Es gab auch einen Stand, an dem Freiwillige von Premier Pediatrics, einem Gesundheitsdienstleister für Mütter und Kinder im südlichen Utah, ihre Dienste anboten. Auch wenn die nicht so spannend sind wie Zimtgebäck, war ihre Anwesenheit ein Segen für diese jungen Familien, deren gesundheitliche Bedürfnisse von der FLDS schamlos ignoriert werden, wie Carolyn Jessop in ihrer Autobiografie Gefangene im Namen Gottes darlegt.
Auf der Bühne posierte das ehemalige FLDS-Mitglied Clinton Holm in einem Nikolauskostüm für Fotos und verteilte die in den USA traditionellen Weihnachtsstrümpfe, gefüllt mit handgemachtem Spielzeug und Süßigkeiten, an Hunderte Kinder, die mit ihren Müttern zu ihrem ersten Weihnachtsfest erschienen waren. Für die Kinder war es schier unfassbar, mit so viel Freundlichkeit überschüttet zu werden. „Das hier ist meine allererste Puppe!”, sagte ein kleines Mädchen, ganz schockiert über ihr Geschenk. All diese Frauen und Kinder hatten die FLDS im Laufe der vergangenen vier oder fünf Jahre verlassen, davon manche sogar erst wenige Monate zuvor. Für viele war es das erste große gesellschaftliche Beisammensein, an dem sie je teilgenommen hatten.
Die FLDS zu verlassen, ist kein einfacher Prozess. Die meisten Frauen fliehen mit wenig mehr als der Kleidung an ihren Körpern und den wenigen Habseligkeiten, die sie auf die Schnelle in eine Mülltüte stopfen konnten. Wenn sie erst einmal draußen ist, gilt die Frau als Abtrünnige. Dasselbe gilt für alle Kinder, die sie mitnehmen konnte. Wer die Sekte verlässt, wird von allen Angehörigen und Freunden, die weiterhin zu ihr gehören, verstoßen.
Nach der Weihnachtsfeier, die tagsüber stattfand, waren knapp 50 Ex-FLDS-Frauen zu einem Festtagsessen in der East Utah Avenue 240 eingeladen. Diese moderne Villa wurde ursprünglich von Warren Jeffs vom Gefängnis aus in Auftrag gegeben und sollte ihm mit seinen vielen Ehefrauen als Zuhause dienen. (Auch wenn er keine Aussichten darauf hat, bald freizukommen, erzählt Jeffs seinen Anhängern, die Gitterstäbe seiner Zelle würden schmelzen und er werde wieder zu ihnen zurückgebracht. Die weiterhin loyalen Mitglieder glauben ihm dies.) Die Wände in den vielen Räumen des Gebäudes sind mit demselben hässlichen, aber teuren babyblauen Teppich überzogen, der auch die Böden bedeckt, und die Türen sind gute 30 Zentimeter dick—diese Zimmer wurden eindeutig entworfen, um Schall zu schlucken.
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Heute ist die Villa als America’s Most Wanted Bed & Breakfast bekannt und gehört Jeffs’ ehemaligem Leibwächter Willie Jessop, der den gesamten Komplex bei einer Auktion erstand. Er hat seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass auf dem Grundstück Familien wiedervereinigt werden können, die vor Jeffs’ Kontrolle geflohen sind. Von Willie fehlte allerdings jede Spur, und für viele der anwesenden Frauen war sein Fehlen eine Erleichterung. Willie sei „ein wirklich übler Kerl, der sich als gut ausgibt”, hatte mir eine Filmproduzentin in Los Angeles erzählt, die mit der Gemeinde gearbeitet hat.
Hier teilten sich die Frauen eine Mahlzeit bestehend aus Truthahn, Kartoffelpüree, verschiedenen Füllungen, Mais und Rotwein für jene, die Alkohol trinken. Nach dem Essen wurden sie nach oben gebeten, wo man einige Zimmer von Wand zu Wand mit Geschenken für Kinder und Teenager vollgestopft hatte. Es gab Stofftiere, Fahrräder, Spielzeuglaster, Knetgummi-Sets, Brettspiele, Bücher, Puppen, Kleidung und Schminksets sowie mehr Kleidung, als überhaupt sichtbar ausgelegt werden konnte. Jede Frau durfte ein Geschenk für jedes ihrer Kinder auswählen, was bei manchen von ihnen bedeutete, dass sie bis zu 15 Stück mitnahmen.
Neben den Geschenkezimmern gab es einen Raum, der mit Geschenkpapier, Geschenktüten, Klebeband, Scheren und Schleifen gefüllt war. Hier, im „Thank You”-Zimmer, wie Christine Marie es nannte, saßen die Frauen zusammen und unterhielten sich, während sie die Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder verpackten. „Das ist mein erstes eingepacktes Weihnachtsgeschenk, und ich bin 37!”, rief eine Frau den Anwesenden zu.
Es war für alle ein Tag überwältigender Emotionen. Ziemlich schnell entwickelte sich unter einigen Frauen ein lebhaftes Gespräch über die Umstände, unter denen sie sich entschieden hatten, die Kirche zu verlassen. Für viele war das „Judgment” der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte: In einem Versuch, seine Kontrolle über die Gemeinde zu stärken und alle jene auszusondern, die potentiell seinen totalen Machtanspruch gefährden könnten, entwickelte Lyle Jeffs in seiner Funktion als Warrens Stellvertreter eine gemeindeweite Inquisition, welche von allen, die sie durchmachen mussten, nur „the Judgment” genannt wird. Dabei musste jedes einzelne FLDS-Mitglied eine Reihe höchst aufdringlicher Fragen beantworten.
Das ist mein erstes eingepacktes Weihnachtsgeschenk, und ich bin 37!
Je nachdem, welche Antworten ein Mitglied gab, wurde es entweder in die United Order (UO), der Elite-Gruppe des FLDS, aufgenommen, oder als „Nicht-Mitglied” verurteilt, woraufhin der Person eine Bewährungsphase auferlegt wurde. Viele Familien wurden durch das Judgment getrennt; in fast jedem Haus gab es ein Kind, das von seinen Eltern getrennt wurde. Für manche Frauen und ihre Kinder lieferte die Inquisition jedoch auch die perfekte Gelegenheit, diese unhaltbaren Lebensumstände hinter sich zu lassen. Eine Frau erinnerte sich daran, dass sie gefragt wurde, ob sie sich jemals selbst auf sexuelle Art berührt habe. Andere wurden gefragt, ob sie mit ihren Ehemännern intim gewesen seien. Von Vielen wurde auch Auskunft darüber verlangt, ob sie Wut verspürten. Wie eine Frau erklärte: „Es lief am Ende auf eins hinaus: ‚Hast du jemals auch nur einen einzigen schlechten Gedanken im Kopf gehabt?’”
Als sie sich ihrem Judgment näherte, so die 40-jährige Misty Taylor [Name geändert], „hat mein Herz nicht gerast. Ich war ruhig, soweit ich damals überhaupt wusste, was Ruhe ist.” Misty hat warme braune Augen, ein spontanes Lächeln und angesichts der Verhältnisse, denen sie gerade erst entkommen ist, eine ungewöhnlich lebhafte Persönlichkeit. Misty schaffte es im Mai 2015, der FLDS zu entkommen. Sie verglich ihre Entscheidung mit einem Sprung von einer Klippe: „Du gelangst einfach an einen bestimmten Punkt im Leben, wo du entweder von der Klippe springst oder weitermachst, und dann machst du einfach weiter, bis du bereit bist zu springen.”
Doch sie betone, man müsse bereit sein—auch wenn es schwer sein kann, den Tiefpunkt überhaupt als solchen zu erkennen, wenn man sein ganzes Leben nur Leid gekannt hat. „Deswegen sind so viele meiner Schwestern noch dort. Sie fühlen, dass sie fast da sind—denn das ist es, was man ihnen eingebläut hat. Das Emporheben ist fast da, und der Prophet ist fast schon aus dem Gefängnis frei.” Verrückt, wie sich nun alle einig sind. Natürlich kommt Jeffs niemals frei. Doch eine Frau sagte: „Meine Mutter ist seit Februar aus der Religion raus und sie glaubt immer noch, dass er freikommen wird. Sie will einfach nicht hören.”
Du gelangst einfach an einen bestimmten Punkt im Leben, wo du entweder von der Klippe springst oder weitermachst.
„Wenn du dein ganzes Leben lang erzählt bekommst, dass er, der Prophet, der Auserwählte ist”, erklärte Misty, „und dir wurde gesagt, er sei völlig rein und unbefleckt … Genau das hat man uns gesagt: Er ist rein und unbefleckt, er spricht mit Gott und er besucht Gott. Also arbeiten wir so hart, weil es Einige geben wird, die beim Weltuntergang in den Himmel emporgehoben werden. Diese Dringlichkeit versteht man, selbst wenn die eigenen Eltern schon nicht mehr da sind.”
Im Laufe der letzten anderthalb Jahre wurden Misty, ihrer „Schwester-Frau” (also eine weitere Frau, die mit demselben Mann verheiratet wurde) und all ihren Kindern die Mitgliedschaft entzogen. Zum Nicht-Mitglied gemacht zu werden, kommt keinem Rausschmiss aus der FLDS gleich, sondern bedeutet lediglich, die Person sei nicht „gut” genug, um Teil des elitären United Order der FLDS zu sein. Nicht-Mitglieder leben noch immer in der Gemeinschaft und müssen ihre Regeln befolgen, doch sie werden in schlechteren Behausungen untergebracht, zusammen mit Kindern und Eltern aus vielen verschiedenen Familien.
Wenn der Patriarch der Familie nicht anwesend ist—wie bei Misty und ihrer Schwester-Frau, denn ihr Mann war komplett ausgestoßen und auf eine „Buße-Mission” geschickt worden—, wird der Familie ein männlicher Vorstand zugewiesen. „Weil kein Vater da ist”, erklärte Misty, „braucht man einen Mann, der über der Familie steht”, was also heißt, dass Frauen immer autoritäre männliche Aufpasser brauchen.
Es war ihr eigentlich verboten worden, doch am 1. Januar 2015 schickte Misty ihrem Ehemann eine SMS. „Es war nur Geplauder, über Erinnerungen und Gefühle und Blabla.” Sie vermisste ihn und wollte wissen, was er trieb. „Ich näherte mich langsam dem Punkt, an dem ich fertig mit allem war”, sagte sie. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Mann bereits von den Verbrechen erfahren, derer man Warren Jeffs für schuldig befunden hatte. „Er fing an, Informationen darüber zu schicken”, sagte Misty, „und ich war einfach nicht bereit dafür.”
Alle, mit denen ich mich sonst unterhielt, ob sie der Sekte nun bereits entkommen waren oder es nur in Erwägung zogen, beschrieben ein ähnliches Gefühl der kognitiven Dissonanz. Im Mai 2015 verließen Misty und ihre acht Kinder die FLDS endgültig. Misty und ihr Mann leben nun mit den Kindern als scheinbar glückliche Familie in Short Creek—doch die Schwester-Frau und ihre Kinder leben noch immer innerhalb der FLDS.
Am darauffolgenden Morgen lud ich Misty ins Merry Wives Cafe ein, wo ich am Vorabend vereinbart hatte, mit der 30-jährigen Lynette Warner zu frühstücken. Im Alter von 18 war sie mit Warren Jeffs verheiratet worden und mit 26 der FLDS entkommen.
Während Warren Jeffs auf der Flucht war, so Lynette, hätten seine Handlanger sie in mehrere Verstecke im ganzen Land verschleppt: Las Vegas, South Dakota, Wyoming, Texas, Colorado, Utah und Arizona. Als Jeffs verhaftet wurde, steckten sie Lynette völlig isoliert in einen Wohnwagen in Colorado City, Arizona, wo ihr großer Bruder als Wärter agierte, die Fenster zunagelte und den Türgriff der Außenseite mit dem inneren vertauschte. Lynette kroch barfuß durch das Fenster des Wohnwagens, nachdem sie es losgeschraubt und aus seinem Rahmen gebrochen hatte.
Als über ihre verzweifelte Flucht in den Nachrichten berichtet wurde, bezeichnete man sie lediglich als Jeffs’ barfüßige Ehefrau. Lynette sagte Broadly gegenüber, sie sei am hellichten Tag über die Uzona Avenue nach Hildale in Utah gerannt, wo ein vertrauenswürdiger Mann wohnte, der kurz zuvor die Sekte verlassen hatte. Dort beschlossen die beiden, eine Frau namens Kristyn Decker anzurufen, die mit 50 die FLDS verlassen hat und nun mit der Organisation Second Choices Coalitino anderen Frauen hilft, der Polygamie zu entfliehen.
„Am Tag nach meiner Flucht ist die Polizei [in Hildale] von Tür zu Tür gegangen und hat Flugblätter verteilt”, auf denen Lynette zu sehen gewesen sei, sagte sie Broadly. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie bereits 80 Kilometer entfernt in New Harmony, Utah, wo Kristyn wohnt. Nur wenige Monate später adoptierte Kristyn Lynette, die nun den Namen Brielle Decker trägt und Kristyn „Mom” nennt.
Wir unterhielten uns in dem Café stundenlang, was für die Durchreisenden in der berüchtigten Grenzstadt so etwas wie eine Touristenattraktion darstellte. Lynette und Misty waren sich zuvor nie begegnet, doch für Misty war Lynette eine Art Prominente: Alle in der FLDS kennen ihre Geschichte.
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Eine der Folgen der strengen Kleidungs- und Frisurenvorschriften, die allen FLDS-Frauen aufgezwungen werden, ist, dass sie ihre Individualität verlieren und aussehen wie Tausende Versionen desselben Ideals. Außenstehenden könnten es leichtfallen, sich diese Frauen alle als dumme Drohnen vorzustellen, die selbstvergessen ihre Ehepflichten erfüllen. Doch als wir in dem Cafe saßen und ich diesen beiden Fremden zuhörte, wie sie ihre Fluchtgeschichten teilten, wurde sehr deutlich, dass unsere wahre Persönlichkeit immer in uns bleibt, egal wie viel Dogma und Gehirnwäsche wir erleiden. Wie alle Frauen, denen ich an jenem Wochenende begegnete, waren auch diese beiden Frauen wahre Individuen, mit verschiedenen Einstellungen, ihrem eigenen Lachen, ihrer eigenen Sicht der Dinge.
Zwar sind beide Frauen in Therapie, um mit ihrer Vergangenheit fertigzuwerden, doch Lynette nennt die FLDS eine Sekte, währen Misty—die ihr langes braunes Haar noch immer zusammengebunden auf dem Rücken trägt und sich in lange Röcke und langärmelige Blusen kleidet—, tut sich schwer, die Dinge so zu sehen. Lynette findet langsam ihre Stimme als Fürsprecherin für Frauen, die der Polygamie entfliehen, und sie studiert Psychologie, in der Hoffnung eines Tages professionell mit Überlebenden, wie sie selbst eine ist, zu arbeiten. Misty, deren Flucht noch nicht so lange zurückliegt, widerstrebt es, sich als Geflohene zu outen und zieht stattdessen ein Pseudonym vor, um nicht das Bild zu zerstören, das ihre in der FLDS verbleibenden Familienmitglieder von ihr haben.
Nach dem Frühstück zog Misty los, um ihre Kinder aus der Schule abzuholen. Es war der letzte Tag vor den Winterferien und die Kinder durften früher nach Hause. Doch Lynette hatte einen freien Tag, und so fuhr sie mit mir durch Hildale und Colorado City, wo vom Vortag noch eine leichte Schneedecke lag. Die eindrucksvolle Landschaft des Südwestens der USA fühlte sich wie ein Nordkorea auf dem Mars an: staubige rote Straßen und gleißende rote Sandsteinfelsen; riesige Gebäude, die unterschiedlich weit von der Fertigstellung entfernt waren (wenn nicht fertig gebaut wurde, müssen die Besitzer keine Grundsteuer zahlen); ein Zoo in der Mitte des Städtchens, leer bis auf ein paar finster dreinblickende Büffel.
Der Spielplatz war wie verlassen. Stattdessen donnerten Kinder, von denen manche nicht älter aussahen als 12, in Sattelschleppern und Geländewagen die Straßen entlang, während andere Kinder, die sich in der Nähe der hohen Zäune ihrer Elternhäuser hielten, uns ohne Grund den Mittelfinger zeigten. Ihnen wird beigebracht, Fremde und Abtrünnige gleichermaßen zu hassen und uns alle für des Teufels zu halten.
Zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Short Creek erhielt ich ein Update von einer der Freiwilligen von der Weihnachtsfeier: Zwei weitere Frauen haben die Sekte verlassen und arbeiten nun mit Anwälten zusammen, um auch ihre Kinder befreien zu können. Und bei einer Weihnachtsfeier, die am 24.12. in Short Creek abgehalten wurde, waren vier junge FLDS-Frauen unangekündigt aufgetaucht—die Geschichten, die ihnen über die Feierlichkeiten am 16. Dezember zu Ohren gekommen waren, hatten ihnen einfach Mut gegeben. Allein das ist schon ein Fortschritt.
Und es war auch Sinn und Zweck der Sache: Indem sie die „First Christmas”-Feier in eben der kleinen Stadt abgehalten, die sich so fest im Griff des Propheten befindet, haben Christine Marie und ihre Mitorganisatorinnen den Menschen in dem Ort gezeigt, dass sie Freude erleben und Freundlichkeit von der Außenwelt erfahren können. Sie haben damit gezeigt, dass der Sprung von der Klippe eigentlich ein Aufsteigen ist.
Wie eine der aus der FLDS Geflohenen, mit der ich bei der Feier sprach, es erklärte: Die Gehirnwäsche innerhalb der Gemeinde ist für viele Leute zu stark, als dass sie sie überwinden könnten. Stattdessen müssen wir ihnen immer wieder Einblicke liefern, die zeigen, wie gut das Leben in Freiheit sein kann, denn sie hören und sehen zu.