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Als ein Flüchtling in der Votivkirche zum Agnostiker wurde

Wir haben mit Mohammad Numan, dem Initiator des Refugee-Protests in Wien rund um die Besetzung der Votivkirche, gesprochen—nun drei Jahre danach.
Foto von Christopher Glanzl

Vor gut drei Jahren marschierten rund 100 Refugees zu Fuß von Traiskirchen nach Wien, um auf die Missstände im Erstaufnahmelager aufmerksam zu machen. Mitten im Winter errichteten sie ein Protestcamp im Sigmund-Freud-Park vor der Votivkirche, das von der Polizei brutal abgerissen wurde und die Flüchtlinge dazu trieb, den Protest in der Kirche fortzuführen.

Damals war für viele noch nicht absehbar, dass das Ganze der Auftakt einer monatelangen Aktion werden würde. Am 3. März übersiedelten die verbliebenen Geflohenen nach langen Verhandlungen aus der Votivkirche ins Servitenkloster.

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Seither ist es wieder still um das Refugee Protest Camp geworden. Einer seiner Initiatoren, die von Anfang an dabei waren, ist Mohammad Numan. Er ist auch einer der Protagonisten in der aktuellen Kino-Doku Last Shelter, an der ich mitgearbeitet habe. Last Shelter begleitet insgesamt sechs junge pakistanische Männer über einen Zeitraum von 3 Jahren: von Traiskirchen in die Votivkirche, über ihren Hungerstreik zu Weihnachten 2012 und bis zu ihrem Versuch, in Österreich zurechtzukommen.

Bild- und Videomaterial mit freundlicher Genehmigung von Igor Hauzenberger

Einige Fragen sind für mich trotzdem noch offen, die ich Numan am liebsten direkt stellen wollte. Bei unserem Treffen nehmen wir beide erst einmal einen tiefen Schluck Bier. Numan spricht im Stakkato darüber, wie die Besetzung der Votivkirche und die Erlebnisse in Österreich danach sein Leben beeinflusst haben.

Vor kurzem hat er eine Prüfung geschafft: „Deutsch auf B1 Niveau", für die er einen Monat quasi Tag und Nacht gelernt hat. Ohne diese Prüfung hätte er Österreich verlassen müssen. Er studiert zurzeit ‚Conceptual Art' an der Akademie der Bildenden Künste, in der Meisterklasse von Marina Grzinic und brauchte B1 für die Verlängerung seines Studenten-Visums. Im Moment beschäftigt sich Numan mit politischer Kunst; unter anderem verarbeitet er Interviews mit Sexarbeiterinnen aus Dubai, wo er als Straßenkind aufwuchs.

Numans Eltern waren rechtlose pakistanische Arbeiter, die auf Dubais Baustellen schuften mussten und ihn, das renitente Kind, mit 12 aus dem Haus warfen. Numan hält sich als Straßenkind als Jockey bei Kamelrennen und später als Gemüsehändler und Taxifahrer über Wasser. Als sein Versuch, Staatsbürger Dubais zu werden, aufgrund der lokalen rassistischen Einbürgerungsgesetze scheitert, flippt er aus. Er verbrennt Banknoten, landet im Knast und wird mit 18 nach Pakistan abgeschoben: in ein Land, das er nicht kennt.

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In Pakistan versucht er, den örtlichen Straßenkindern zu helfen, in denen er sich selbst sieht. Er legt sich mit der pakistanischen Mafia und dem Staat an (laut Numan so ziemlich dieselbe Bagage) und landet wieder im Gefängnis, wo er geschlagen und gedemütigt wird. Ein Bekannter erzählt ihm von Europa und Numan beschließt, zu fliehen.

Sein Weg führt ihn über die Türkei nach Griechenland, wo er von den Nazi-Brigaden der „Goldenen Morgenröte" bedroht wird. Er denkt sich: „Ich habe das alles nicht überlebt, um in Griechenland zu sterben" und flieht auf Anraten eines Freundes nach Belgien weiter. Auf der Balkanroute, genauer gesagt in Serbien, lernt er Proponenten der „No Border"-Bewegung kennen, die ihm einen Zettel mit Telefonnummern und E-Mail-Adressen in die Hand drücken.

Auf seinem Weg durch Österreich wird er angehalten und muss seine Fingerabdrücke abgeben. Aufgrund der Dublin-Asylverordnung kann er nun nicht mehr nach Belgien weiterreisen und ist in Österreich gefangen. Sein Asylantrag wird zweimal negativ beschieden. Er ist verzweifelt und meldet sich bei den No-Border Aktivisten in Wien. In ihren Reihen fühlt er sich „das erste Mal willkommen", wie er sagt. Ihr Kampf gegen ein als ungerecht und rassistisch empfundenes System ist seit seiner Kindheit auch sein Kampf.

„Die anderen Refugees sprechen nicht mehr mit mir. Dass ich nicht mehr an Gott glaube, hat sie alle sehr verstört."

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Numan wird erneut zum politischen Aktivisten und initiiert den Protestmarsch von Traiskirchen nach Wien sowie die Besetzung der Votivkirche. In den darauffolgenden Jahren bekommen 30 Prozent seiner Mitstreiter Asyl, Numan aber wird als Wirtschaftsflüchtling angesehen. Seine einzige Chance in Europa zu bleiben ist somit das Studenten-Visum der Bildenden.

„Was hat sich für Dich durch den Dokumentarfilm Last Shelter verändert?", frage ich ihn. Er zögert und sagt dann: „Die anderen Refugees sprechen nicht mehr mit mir—außer Shajahan. Die Szene im Film, in der ich gesagt habe, ich würde nicht mehr an Gott glauben, hat sie alle sehr verstört".

Ich frage ihn, ob es für ihn besser wäre, wenn ich die diese Szene nicht im Film gelassen hätte. „Nein", antwortet er, „ich fühle mich jetzt besser. Jetzt ist es endlich raus, jetzt kennen sie die Wahrheit und verstehen, wer ich wirklich bin." Für ÖsterreicherInnen hat Atheismus keine Konsequenzen; er wird oft als als intellektuelles Distinktionsmerkmal vor sich hergetragen, als ein akzeptiertes Aushängeschild von Aufklärung.

Refugees im Orbit: Unser Schwerpunkt zum Protest Camp aus 2013

Ich will wissen, wann Numan sich genau vom Islam abgewandt hat und bekomme eine verwirrende Antwort: „Als der Pfarrer der Votivkirche bei der Besetzung schrie, wir seien doch Moslems und wieso wir in einer katholischen Kirche und nicht in einer Moschee Schutz suchen. Genau das war der Moment".

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Ich muss fragen, warum er nach dieser Aussage des Priesters nicht spezifisch das Christentum abgelehnt habe? Numan antwortet mit einem langen, historischen Exkurs über die Anfänge des Islams und die aus Diadochen-Kämpfen hervorgegangen Kriege zwischen Schiiten und Sunniten. Ich beginne—nach anfänglicher Konfusion—langsam zu verstehen, worauf er hinaus will: Ein System, das zur Folge hat, dass sich Menschen gegenseitig bekriegen und verachten, kann für ihn kein gutes System sein.

Seit der Geburtsstunde des Islam zerfleischen sich die Anhänger von Schia und Sunna, der Islam kämpft gegen das Christentum (und umgekehrt) und auch Antisemitismus läuft überall zu neuen Höhen auf. Das alles wurde Numan in diesem Moment klar und er begann, die Religiosität selbst als Problem anzusehen.

Sie lieben die Freiheit in Europa. Manche wirft der Feminismus aber auch in eine quälende Ambivalenz aus patriarchalem Gedankengut und Liberalismus.

„Bist du deswegen jetzt einsam?", frage ich.
„Nein", antwortet er, „ich habe viele österreichische Freunde und eine Beziehung, ich habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, angekommen zu sein."

Ich frage ihn vorsichtig, ob es für ihn OK wäre, über seine österreichische Freundin zu sprechen. Wie haben sich die beiden kennengelernt? „Während der Kirchenbesetzung war sie Aktivistin und hat mir angeboten, in ihrer Wohnung zu duschen. Danach sahen wir uns eine Zeitlang nicht—ich war extrem beschäftigt mit dem Protest—, aber als wir uns danach immer öfter wieder trafen und wir verstanden, dass wir auf derselben Seite kämpfen, haben wir uns in einander verliebt".

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Einige der Last Shelter-Protagonisten haben Beziehungen zu österreichischen Frauen. Einige von ihnen sind mittlerweile sogar mit Europäerinnen verheiratet. Sie lieben diese Freiheit in Europa—die einfache Möglichkeit, ihre eigene Wahl treffen zu können, unabhängig von Konfessionen und religiösen Regeln. Gleichzeitig ist für einige aber die damit einhergehende Unabhängigkeit der Frauen nur schwer zu akzeptieren. Manche wirft der Feminismus in eine quälende Ambivalenz aus patriarchalem Gedankengut und Liberalismus.

Dieses exklusive Videomaterial und Bilder mit freundlicher Genehmigung von Igor Hauzenberger zur Verfügung gestellt

Numan ist einer derjenigen, die damit kein Problem zu haben scheinen. Ich frage ihn direkt, woher das kommt. Numan überlegt und beantwortet die Frage schließlich mit einem Verweis auf seine Herkunft aus Dubai, das—im Vergleich zu pakistanischen Stammesgebieten—sehr liberal und westlich geprägt gewesen sei. Sexuelle Beziehungen vor der Ehe zu haben, sei dort zwar nicht legal, aber ähnlich wie Alkoholtrinken völlig normal und verbreitet.

Ein weiterer Protagonist von Last Shelter war Mustafa, der in gewisser Weise das Gegenteil von Numan verkörpert. Er ist ein schiitischer Pakistani, streng religiös, aus einem von den Taliban zerstörten Dorf stammend, der in Österreich—auch aufgrund seiner Teilnahme an der Kirchenbesetzung—Asyl nach Genfer Konvention erhielt.

Mustafa half seine Religion dabei, die kognitive Dissonanz zwischen einer von Stammesriten geprägten traditionellen Gesellschaft und der permissiven europäischen Kultur zu ertragen. Er trinkt keinen Alkohol, hält sich aus dem meisten heraus und betet täglich. Sein Ziel besteht darin seine Frau und Tochter nach Europa zu holen. Er träumt davon, seiner begabten Tochter in Österreich ein Medizinstudium zu ermöglichen. Dies gelingt nicht allen Flüchtenden. Mustafa hat sich unter anderem deswegen von den anderen Flüchtenden zurückgezogen und zieht sein Ding durch.

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Ich blicke Numan an und frage, wie er, das traumatisierte Straßenkind, etwas schaffen konnte, an dem so viele andere scheitern—nämlich ohne jeden traditionellen Rückhalt von religiöser oder familiärer Seite sein Glück im Westen zu finden. Wie konnte er sich so gut in die fremde Kultur einleben? Wie konnte er trotz seiner Geschichte so normal sein?

„Ich lebe im Heute, denke nicht an die Vergangenheit und mache mir nur wenig Sorgen um die Zukunft", ist seine Antwort. Er sieht sich nicht als Opfer, sondern als jemand, der Opfern hilft. Vielleicht ist das sein Geheimnis: Numan ist ein im eigentlichen Sinne politischer Mensch. Jemand, der sich einbringen will und Dinge verändert, die er als negativ ansieht. Unter anderem für sich selbst, aber eben auch weit darüber hinausgehend.

Das war auch für den Regisseur Igor Hauzenberger die primäre Motivation, Last Shelter zu drehen: „Was am Refugee-Protest fasziniert, ist die Konsequenz, mit der uns Numan und die anderen pakistanischen Geflüchteten auf die Einhaltung der Menschenrechte aufmerksam machen, die in Österreich Verfassungsrang haben", sagt er.

„Auch, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen, dass nur 1 Prozent der Pakistani in Österreich Asyl bekommen. Und das, obwohl viele von ihnen von denTaliban und mittlerweile auch von der IS-Miliz genauso terrorisiert werden wie Menschen in Afghanistan und Syrien."

In solchen Extremsituationen Menschen zu erleben, sagt uns viel mehr über uns selbst und unsere Spezies aus, als alles andere. Eine filmische Geschichte, die erzählt werden musste, weil es eines der wichtigsten Narrative unserer Gegenwartsgeschichte ist.

Mehr zu Laster Shelter:__ www.last-shelter.com

Vorstellungen:
Heute, 19.1. 21:15 Uhr Filmhaus Kino am Spittelberg
Freitag, 22.1. 17:00 Uhr Stadtkino im Künstlerhaus
Donnerstag, 11.2. 20:00 Uhr Cinemarkt Brunnenpassage