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Was ich in meiner Zeit als Gefängnisfriseur gelernt habe

Ein frischer Haarschnitt bedeutet hinter Gittern viel mehr als draußen in der normalen Welt. Vor allem im Isolationstrakt, wo sich die Insassen oftmals wochenlang nicht im Spiegel sehen.
Illustration: Dola Sun

Dieser Artikel ist in Zusammenhang mit dem Marshall Project entstanden.

Ich werde oft in den Isolationstrakt geschickt.

Das liegt aber nicht daran, dass ich mich daneben benehme. Nein, ich bin der Gefängnisfriseur. Und das bedeutet auch, dass mich all meine Mithäftlinge als ihren besten Freund sehen. Ich schneide allen das Haar—egal ob Mörder, Vergewaltiger oder "Frischlinge", die sich im normalen Teil des Gefängnisses geprügelt haben.

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Wenn man den Isolationstrakt betritt, kommt man sich vor wie in einer anderen Welt. Eine Welt, die nach Tod und Scheiße riecht. Die Insassen schreien sich die Seele aus dem Leib und wollen wieder raus.

Die Männer aus dem Isolationstrakt bekommen einmal im Monat oder einen Tag vor ihrer Gerichtsverhandlung einen neuen Haarschnitt. Deswegen ist es ja auch so ein besonderer Moment, wenn ich zu ihnen komme. Sobald die Tür aufgeht, und sie mich mit meinem Friseurutensilien reinkommen sehen, bricht freudiger Jubel aus: "Dre, wer ist als erstes dran?"; "Ich mache den Anfang!" ;"Ich komme dann als zweites!"

Ich sage dann immer, dass ich so lange hier bleibe, bis jeder einen neuen Haarschnitt bekommen hat. Dann packe ich mein Werkzeug aus und mache mich an die Arbeit.

Ich lege meine Utensilien auf dem Schreibtisch der Wärter zurecht, positioniere meine Scheren und Pinsel und staple die roten Plastikstühle aufeinander, damit die Insassen hoch genug sitzen. Ein richtiger Friseurstuhl steht mir ja nicht zur Verfügung. Dann bringen die Vollzugsbeamten die Häftlinge einen nach dem anderen zu mir.

Da sie ja in Einzelhaft sitzen, müssen sie Handschellen und Fußfesseln tragen, wenn sie sich außerhalb ihrer Zellen aufhalten.

Sobald die Insassen sich hingesetzt haben, reiche ich ihnen einen Spiegel. Die meisten von ihnen sehen dann zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ihr eigenes Gesicht. Der Schock ist immer ziemlich groß. Oft sehen sie müder, heruntergekommener und kränklicher aus, als sie gedacht haben. Oftmals sagen sie dann so etwas wie "Mann, ich bin ja tot. Kannst du mich wieder zum Leben erwecken?"

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Wir reden über Gott und die Welt. Halt wie in einem normalen Friseursalon.

Und genau das versuche ich dann auch. Eigentlich sollen die Frisuren im Gefängnis immer das gleiche "Kurzhaarschnitt gegen den Strich"-Schema haben, aber ich frage die Insassen trotzdem, wie ich ihre Haare schneiden soll.

Und dann reden wir über Gott und die Welt. Halt wie in einem normalen Friseursalon. Der einzige Unterschied besteht darin, dass jeder von mir wissen will, was draußen so los ist, ob ihr Lieblings-Sportteam gewonnen hat oder was in ihrem alten Zellenblock abgeht. Außerdem erzählen sie mir immer davon, wie sehr sie ihre Kinder vermissen.

Ich weiß noch, wie ich vor knapp einem Jahr in den Nachrichten sah, dass man einen Polizisten aus Washington, D.C. wegen einer Vergewaltigung festgenommen hatte. Das öffentliche Interesse war sehr groß und ich dachte mir schon, dass er im Isolationstrakt landen würde.

Ich malte mir aus, wie ich seine Haare schneiden würde. Während meiner Haft ist meine jüngste Tochter zum Opfer einer Vergewaltigung geworden. Ich konnte meine Wut kaum zügeln und auch nicht für sie da sein. Deswegen hasste ich jeden Vergewaltiger. Die Aussicht, diesem Typen die Haare zu schneiden, war nicht zu ertragen.

Als der Tag dann kam, konnte ich meine Nervosität kaum verbergen. Alle anderen Insassen meinten zu mir, ich solle dem Polizisten einfach nicht das Haar schneiden. Schließlich brachten die Wärter ihn raus und der ganze Trakt rastete richtig aus.

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Als ich den Typen sah, wollte ich ihm direkt den Schädel einschlagen.

Ich fing an zu arbeiten und ging dabei nicht gerade zimperlich mit ihm um. Der Typ wollte offensichtlich mit mir reden, aber ich fiel ihm ins Wort und wollte nur wissen, wie ich sein Haar schneiden sollte. Ihm wurde klar, wie ich drauf war, und er versuchte, meine Schweigsamkeit auszugleichen, indem er einfach noch mehr redete. Er sagte zum Beispiel, er sei unschuldig und wisse, wie ich mich fühlte.

Ich hielt inne, schaute ihm in die Augen und sagte, er wolle wahrscheinlich überhaupt nicht wissen, wie ich mich fühlte. Dann erzählte ich ihm davon, was meiner Tochter widerfahren war. Er fing an, bitterlich zu weinen, und Rotz schoss aus seiner Nase. Von da an herrschte Stille.

Das Schlimmste an der ganzen Sache war aber: Als ich mit dem Polizisten fertig war, hatte er meiner Meinung nach den besten Haarschnitt aller Häftlinge, die ich an diesem Tag frisiert hatte.

Wenn ich mit einem Insassen fertig bin, reiche ich ihm erneut den Spiegel, damit er sich das Ergebnis ansehen kann. Die meisten wollen den Spiegel dann gar nicht mehr aus der Hand geben. Sie schauen sich einfach weiter an und sagen, dass sie sich endlich wieder wie sie selbst fühlen. Oft wollen sie mich bezahlen, aber ich habe ihr Geld noch nie angenommen. Ab und an scherzen die Häftlinge dann auch noch ein wenig herum, so nach dem Motto: "Der Richter wird mich sofort freisprechen, wenn er diese Frisur sieht."

Manchmal lassen mich die Wachen auch außerhalb der Regeltermine aufkreuzen, damit nicht alles außer Kontrolle gerät. Wenn die Insassen des Isolationstrakts zu lange keinen neuen Haarschnitt bekommen, bewerfen sie die Aufseher mit Fäkalien oder machen die Sprinkleranlage in ihren Zellen kaputt. Ein Besuch beim Friseur bedeutet im Gefängnis eben viel mehr als draußen in der normalen Welt—und das trifft vor allem auf den Isolationstrakt zu. Diese Männer haben keine Möglichkeit, mit ihren Familien zu reden, sie bekommen nie Besuch und sie verbringen 23 Stunden pro Tag in ihrem "Käfig". Und wenn sie das Glück haben, mal raus zu dürfen, dann sitzen sie eingezäunt im Freien.

Nach drei Jahren in U-Haft hat man mich nun endlich verurteilt. Ich erfahre bald, wo ich die kommenden sieben Jahre meines Lebens verbringen werde. Ich hoffe nur, dass ich meine Schere dort mit hinnehmen darf. Schließlich sitzen in jedem Gefängnis viele Insassen, die sich gerne mal wieder etwas menschlicher fühlen würden.

Andre Lyons ist 40 und wird von der Correctional Treatment Facility in Washington, D.C., bald in ein staatliches Gefängnis verlegt. Er hat sich des Drogenhandels schuldig bekannt und wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.