Menschen

Was der Wunsch, von Klippen zu springen, über deinen Überlebenswillen aussagt

Foto: David Berkowitz | Flickr | CC BY 2.0

Ich würde nicht behaupten, dass ich Höhenangst habe. Ich kann mir zwar auch Schöneres vorstellen, als über die Dschungelcamp-Brücke zu wackeln, aber die Angst davor hält sich in Grenzen. Trotzdem sind Momente, in denen ich irgendwo hoch oben stehe und in die Tiefe blicke, für mich immer mit einem sehr seltsamen Gefühl verbunden—und dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn ich jetzt einfach springen würde.

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Gedanken können komisch sein. Besonders, wenn wir sie im ersten Moment nicht verstehen. Eigentlich ist es weniger eine Angst und mehr so was wie ein inneres Verlangen, ein Kick. So wie der Augenblick der Schwerelosigkeit, den man spürt, wenn es in der Achterbahn abrupt abwärts geht. Ein Kick, der ungefähr eine halbe Sekunde anhält, bevor ich mich selbst frage, ob ich eigentlich noch ganz dicht bin. Was zur Hölle stimmt nicht mit mir? Warum denke ich so was? Bin ich womöglich suizidgefährdet und weiß nichts davon? Bin ich einfach nur gestört?

Dieses Phänomen ist eines dieser Gefühle, für die es keine richtige deutsche Bezeichnung gibt. Im Französischen gibt es dafür den Begriff L’appel du vide, auf Englisch hat sich die Bezeichnung The Call of the Void durchgesetzt—”der Ruf der Leere”. Als hätte die Tiefe und der damit verbundene Fall eine Art Anziehungskraft auf mich. Es ist aufregend. Und irgendwie auch ziemlich beunruhigend.

Als ich meinen Lieblingsratgeber Dr. Google dazu konsultierte, stellte sich heraus, dass ich nicht der einzige bin, der sich ein bisschen Sorgen um seine geistige Gesundheit und das Springen macht. Die Florida State University hat zum High Place Phenomenon—so wird es dort betitelt—eine Studie veröffentlicht, in der 431 Studenten nach dem Gedanken ans Springen befragt und auf Verbindungen zu Depressionen, Selbstmordgedanken und Stimmungsschwankungen untersucht wurden.

Die Ergebnisse zeigten, dass der beschriebene Ruf der Leere auch bei Testpersonen auftrat, die noch niemals mit Depressionen oder Ähnlichem in Berührung standen. Außerdem konnte herausgefunden werden, dass jene Personen, die empfindlicher auf angstbedingte Körpersignale reagieren, anfälliger für das High Place Phenomenon sind. Das bedeutet, ein Körper wie meiner, der sensibel gegenüber Herzklopfen und Schwindel ist, schaltet bei der kleinsten Aussicht auf Gefahr auf Flugmodus und interpretiert ebendiese Signale dann fälschlicherweise als Sprunggedanken. Ein Missverständnis—nicht mehr, nicht weniger.

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Der Wunsch danach, in die Tiefe zu springen, ist also keine Todessehnsucht—im Gegenteil: Es zeugt von erhöhtem Überlebenswillen. Das muss im Umkehrschluss übrigens nicht bedeuten, dass du lebensmüde bist, wenn du den Ruf der Leere noch nie gehört hast. Deine Angstsensitivität ist dann einfach sehr niedrig.

Wenn ich also das nächste mal diesen bizarren Drang verspüre, mich von einer Brücke zu stürzen, werde ich versuchen, mich daran zu erinnern, dass das kein echter Drang ist, sondern einfach eine Kurzschlussreaktion meines dummen Körpers. Eine falsche Erklärung dafür, warum mein Herz grundlos angefangen hat, schneller zu schlagen. Ich bin also nicht selbstmordgefährdet. Nur ein bisschen langsam.