Ein militärisch überlegener autoritärer Staat überfällt seinen demokratischen Nachbarn, und das mitten in Europa. Kennt man, klar. Russland und die Ukraine, da lesen wir jeden Tag den Liveticker, hören Podcasts, verfolgen die Statistiken über zerstörtes Kriegsgerät. Dass aber nur ein paar hundert Kilometer weiter südlich eine andere Diktatur eine andere Demokratie belagert, dass hier schon mehrfach Kriege begonnen wurden, Menschen vertrieben, Frauen vergewaltigt, Zivilisten ermordet wurden, hört man selten. Zeit, dass sich das ändert.
Bergkarabach ist ein kleiner Landstrich zwischen Armenien und Aserbaidschan, über dessen Zugehörigkeit die beiden Länder streiten. Das ölreiche Aserbaidschan wird seit Jahrzehnten von einer korrupten Dynastie regiert, die Menschenrechte mit Füßen tritt, den Aliyevs. In Bergkarabach leben fast ausschließlich Armenier, die auch einen eigenen Staat gegründet haben: Arzach.
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Weil die Region eingeschlossen ist von Aserbaidschan, gibt es nur eine Zufahrtsstraße von Armenien in das Gebiet: Den Latschin-Korridor. Seit gut fünf Wochen nun blockieren Aserbaidschaner diese Lebensader von Bergkarabach. Nichts kommt durch. Keine Nahrungsmittel, keine Medizin. Die 120.000 Menschen dort leben nur noch von ihren Vorräten, in den Parks der Städte bauen sie Gemüse an, um nicht zu verhungern.
Georgi Ambarzumjan stammt aus Armenien und ist Präsident der deutschen Dependance der weltweit größten armenischen Wohltätigkeitsorganisation AGBU, der Armenian General Benevolent Union. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der armenischen Diaspora, und fördert die Erhaltung der armenischer Kultur und Identität. Aufgrund des Genozids durch das Osmanische Reich 1915 leben weltweit etwa zehn Millionen Armenier verstreut. In Armenien und Arzach leistet die AGBU humanitäre Hilfe und investiert in gemeinnützige Projekte. Georgi Ambarzumjan ist ein Kenner des Konflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien, gibt regelmäßig Interviews hierzu und trat auch in einer Bundespressekonferenz zu diesem Thema auf.
Wir haben mit ihm gesprochen.
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VICE: Warum geht es uns etwas an, was in Bergkarabach passiert?
Georgi Ambarzumjan: Dort werden gerade 120.000 Menschen ausgehungert, darunter 30.000 Kinder. Das geht uns alle an. Auch weil es Angehörige eines Volkes sind, das Anfang des 20. Jahrhunderts einen Genozid überlebt hat. Und zwar einen Genozid mit deutscher Beteiligung.
Deutscher Beteiligung?
Das Osmanische Reich, Kriegsverbündeter des deutschen Kaiserreichs im 1. Weltkrieg, ermordete mehr als 1,5 Millionen Armenier. Deutschland war im Bilde und hat nichts dagegen unternommen.
Aber kann man Deutschland dafür verantwortlich machen?
Hochrangige deutsche Militärs wie Generalstabschef Bronsart von Schellendorf unterstützten aktiv die Bemühungen der türkischen Regierung zur Ausrottung der Armenier. Von ihm stammt das Zitat, dass die Armenier “Blutsauger am türkischen Volkskörper” und “schlimmer seien als die Juden”. Der damalige Reichskanzler Bethmann-Hollweg sagte, dass man nichts tun dürfe, was den osmanischen Bündnispartner verprellen könnte – auch wenn die Armenier darunter zugrunde gehen. Wir Armenier erinnern uns daran.
OK, das klingt wirklich nach Schuld.
Als der Bundestag den Völkermord 2016 anerkannte, sprach er von Deutschlands Mitverantwortung. Jetzt darf die Bundesregierung nicht wieder nur zusehen, wenn die Diktatur Aserbaidschan, die sich als Bruderstaat der Türkei versteht, 120.000 Armenier aushungern möchte. Es leben auch bis zu 80.000 Armenier in Deutschland.
Von denen hört man aber recht wenig, oder?
Vielen Deutschen ist das armenische Erbe vollkommen unbekannt, ja. Beispielsweise hat ein armenischer Ingenieur in Deutschland den ersten Farbfernseher patentieren lassen. Das Unternehmen Tchibo wurde von einem Armenier mitgegründet. Oder kennst du Rick Kavanian oder den Boxer Arthur Abraham?
Ja, Arthur Abraham ist ziemlich cool!
Er kämpfte einmal trotz doppeltem Kieferbruch weiter und gewann. Sehr armenisch. Einige Sagen behaupten übrigens, dass die Bayern ursprünglich aus Armenien stammen. Ein armenischer Baumeister erbaute auch den Aachener Dom für Karl den Großen.
OK, wo schauen wir gerade weg?
Diese humanitäre Katastrophe findet in der armenischen Republik Arzach statt: ein de-facto-Staat, den unter anderem zwölf US-Bundesstaaten und Städte wie Paris und Mailand anerkennen. Die heutige Republik ist kein Mitglied der UN, unterhält aber dennoch internationale Beziehungen, führt demokratische Wahlen durch und kennt Presse- und Meinungsfreiheit. Es ist das Taiwan des Kaukasus.
Was passiert in Bergkarabach?
Aserbaidschan will das Land annektieren und die dort lebenden Armenier vertreiben, notfalls umbringen. Immer wieder greift es die Region an, Anfang der Neunziger, 2016 und zuletzt 2020 mit der Unterstützung der Türkei und islamistischen Söldnern aus Syrien. Derzeit blockieren vermeintliche Aktivisten aus Aserbaidschan den Latschin-Korridor. Die 120.000 Armenier dort kriegen seit fast 40 Tagen keine Nahrungsmittel oder lebenswichtigen Medikamente. Es sind bereits Menschen gestorben und einige Neugeborene kämpfen auf Intensivstationen um ihr Leben.
Was sind das für Aktivisten?
Das sind eher Schauspieler, die sich als Umweltschützer ausgeben. Das ist Unsinn.
Warum?
Sie sehen nicht gerade wie Fridays For Future-Anhänger aus. Forbes hat Baku mal zur dreckigsten Stadt der Welt gewählt, damals gab es keine vermeintlichen Aktivisten. Einige unter ihnen sind Soldaten, andere tragen Pelzmäntel und Goldschmuck. Viele Aseris strecken den russischen sogenannten Peacekeepern den Graue-Wölfe-Gruß vor die Nase, das türkische Äquivalent zum Hitlergruß. Dieses Gebaren soll die Russen provozieren.
Moment, die Russen?
Sie sollen den Latschin-Korridor seit dem Ende des dritten Bergkarabach-Kriegs 2020 absichern und bewachen, das war Teil des Waffenstillstandsabkommens.
Weil sie Aserbaidschaner protestieren lassen.
Aserbaidschan ist eine Diktatur, dort gibt es keine freien Proteste. Es sind bezahlte Jubel-Aseris, die vom Regime in beheizten Bussen zum Korridor transportiert werden.
Nun ist es aber doch so, dass Bergkarabach völkerrechtlich Aserbaidschan zugesprochen wird, die Armenier die Gegend also okkupiert halten. Warum wehren sich die Menschen in Arzach also so gegen Aserbaidschan?
Dieser Irrtum basiert unter anderem auf der fehlerhaften Interpretation von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates aus den Neunzigern. Die Resolutionen waren nur Empfehlungen. Der UN-Sicherheitsrat hat bewusst darauf verzichtet, dass man sie rechtlich durchsetzen kann oder gar wirtschaftliche und militärische Zwangsmaßnahmen gegen die Armenier zu verhängen. Kurzum: Keine der Resolutionen war rechtlich bindend oder durchsetzbar.
Und der Status von Bergkarabach?
Diese Frage wurde bewusst ausgelagert: die Minsk-Gruppe, ein von Russland, Frankreich und den Vereinigten Staaten geführtes Gremium innerhalb der OSZE, dem sowohl Armenier als auch Aseris angehören, sollte eine Lösung finden, die einerseits das Selbstbestimmungsrecht der Armenier, andererseits die territoriale Integrität der Aserbaidschaner berücksichtigen sollte.
Was ist passiert?
Also ganz knapp: Trotz einer armenischen Bevölkerungsmehrheit war Bergkarabach während der Sowjetunion ein autonomes Bundesland innerhalb der Sowjetrepublik Aserbaidschan und wurde nicht der benachbarten christlichen armenischen Sowjetrepublik zugeteilt. Immerhin erstritten die Armenier gegen Stalin, der diese perfide Teile-und-Herrsche-Grenzziehung in den 1920ern mitverantwortete, einen Autonomiestatus für Bergkarabach.
Macht das einen Unterschied?
Der Autonomiestatus führte beim Ende der Sowjetunion dazu, dass in Bergkarabach ein Referendum abgehalten werden musste. Es sollte abgestimmt werden, ob das autonome Bundesland zusammen mit Aserbaidschan aus der Sowjetunion austreten möchte. Die Menschen in Bergkarabach entschieden sich deutlich gegen den Austritt und wurden daher niemals Teil der neu gegründeten aserbaidschanischen Republik.
Klingt komplex.
Aserbaidschan hat das Referendum nicht akzeptiert. Auf die demokratische Wahl reagierte es mit Pogromen gegen Armenier, die gar nicht dort lebten und nichts damit zu tun hatten. Das jüdisch-armenische Schachgenie Garry Kasparov floh 1990 mit seiner Mutter und Dutzenden Armeniern in einem kleinen Flugzeug vor den mordenden Aseris aus Baku. Er ist nie wieder zurückgekehrt.
Wie ging es aus?
Aserbaidschan griff Bergkarabach an. Aber mit Armeniens Unterstützung gewann dieses den Krieg. Es konnte sogar noch ein paar Regionen um sein Kerngebiet herum als Sicherheitspuffer erobern. Um die ging es dann in den besagten UN-Resolutionen. Zu dem Sicherheitspuffer gehörte unter anderem die Latschin-Region, wo jetzt die Blockade stattfindet.
Klingt, als wären Armenien und Bergkarabach im Recht, warum also die UN-Resolutionen?
Sie forderten den dortigen Abzug armenischer Soldaten und von beiden Seiten sofortigen Gewaltverzicht. Daran hielt sich Aserbaidschan nie.
Aber Armenien zog auch nicht ab.
Die Armenier waren nicht so lebensmüde, diese Gebiete zu verlassen. Ohne den Puffer wären wahrscheinlich weitere Massaker an Armeniern verübt worden. Nach dem letzten Bergkarabach-Krieg 2020 gingen die Gebiete nun verloren und Aserbaidschan kann die Armenier aushungern, wie man jetzt sehen kann.
Aber die Armenier hielten sich nicht an die Resolutionen.
Genausowenig wie die Aserbaidschaner, die weiterschossen. Aserbaidschan bestätigt mit der Blockade, dass die Vorsichtsmaßnahmen der Armenier in den 90er Jahren kein Akt der Aggression, sondern vielmehr nötig waren, um das Überleben der Armenier zu sichern.
Aserbaidschan argumentiert aber weiterhin mit den Resolutionen.
Ja, das aserische Regime hat diese Dreistigkeit. Und sie hat in den letzten zwei Jahrzehnten in Europa funktioniert. Der Ölreichtum des Regimes erlaubte es Aserbaidschan, sein Narrativ politisch und medial zu platzieren. Dies kann man an Deutschland gut beobachten.
Ja, Deutschland war ein wichtiges Ziel.
Aserbaidschanische Lobbyisten rekrutierten hier gezielt Politiker, um das repressive Regime in Baku als vermeintlich fortschrittlichen Partner Europas zu verkaufen. Dabei geriert sich das Regime auch immer als Opfer der Armenier. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein. Aserbaidschan hatte immer mehr als dreimal so viele Einwohner, verfügt über große Ölquellen und konnte auf die Unterstützung seines Bruderstaates Türkei, der zweitgrößten NATO-Armee, zählen. Sein Militärbudget war zeitweise höher als Armeniens Staatshaushalt.
Und was bringt ihnen die Propaganda?
Die Überzeugung der deutschen Öffentlichkeit, dass Bergkarabach völkerrechtlich zu ihnen gehört und das Vorgehen gegen Bergkarabach eine Frage der inneren Angelegenheiten sei.
Was wäre richtig?
Dass die Republik Arzach nicht Teil Aserbaidschans ist und es niemals war. Eine bessere Formulierung wäre: “Das Gebiet ist völkerrechtlich umstritten.”
OK.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen nannte Aserbaidschan einen verlässlichen Partner, während Russland wegen des Ukraine-Kriegs gecancelt wurde. Diese Doppelstandards sollten Medien aufgreifen, um den Druck auf Politiker zu erhöhen.
Warum fügen sich die Armenier in Bergkarabach nicht einfach?
Aserbaidschan schneidet in zahlreichen Rankings zu Freiheiten und Minderheitenrechten genauso oder gar schlechter ab als Russland oder der Iran. Armenisches Leben ist in Aserbaidschan nicht möglich. Das Land lag 2021 in Sachen Pressefreiheit laut Reporter ohne Grenzen knapp vor Nordkorea.
Was heißt das?
Es würden neue Pogrome oder sogar ein Völkermord drohen, davor haben sogar mehrere internationale Organisationen schon gewarnt. Der Hass auf Armenier wird in Aserbaidschan staatlich gelenkt und aktiv geschürt.
Hast du ein Beispiel?
Nach dem letzten Bergkarabach-Krieg 2020 hat das Regime in Baku einen sogenannten Trophäenpark errichtet. Da gehen Schulklassen hin und können Wachsfiguren, die aussehen wie grotesk verzerrte Karikaturen von Armeniern, ins Gesicht treten. Der Park hat fünf Sterne auf TripAdvisor. Armenier werden in Aserbaidschan systematisch diskriminiert.
Puh.
Wer westlich sozialisiert ist, muss dabei an Goebbels Propaganda denken. Es ist die erste Stufe eines Völkermords, die Entmenschlichung.
Was ist denn Aserbaidschans Problem mit Armenien?
Es ist ein irrationaler Hass. Die bloße Existenz von Armeniern wird bereits als Störung empfunden. Das führt zu einem Komplex, unter dem ein großer Teil der aserischen Gesellschaft leidet und der zu Ausschreitungen gegen Armenier führte. Ein aserischer Filmemacher hat mal erklärt, dass sein Volk Schwierigkeiten hat, eine eigene Identität zu definieren. Er nennt das “Frankenstein-Kultur”.
Was hat das mit den Armeniern zu tun?
Von einem jahrtausendealten Volk wie den Armeniern umgeben zu sein, dessen Sprache und Schrift, uralte Klöster und Kreuzsteine Zeugnis ihrer kontinuierlichen Existenz sind, ist für aserische Nationalisten scheinbar schwer zu verdauen. Daher richtet sich ihre Zerstörungswut nicht nur gegen armenisches Leben, sondern auch gegen armenische Kultur.
Was haben sie davon?
Die Zerstörung armenischer Klöster nannten einige Medien einen “kulturellen Genozid”.
Wie steht die Türkei als Aserbaidschans Schutzmacht dazu?
Die spielt eine wichtige Rolle. Als Erdoğan nach dem Krieg im Dezember 2020 nach Baku reiste, um den Sieg des türkisch-aserischen Tandems in Bergkarabach zu feiern, zitierte er in seiner Rede Enver Pascha, einen der drei Architekten des armenischen Genozids: “Die Seele von Enver Pascha und den tapferen Soldaten der Kaukasischen Islamischen Armee jubeln”.
Wie ließe sich der Konflikt beilegen?
Das sehe ich zur Zeit nicht. Zu tief ist der Hass auf Armenier in Aserbaidschan verwurzelt. Ein brutaler Mörder wie Ramil Safarov wird als Volksheld gefeiert, weil er bei einem Sprachlehrgang einem schlafenden Armenier mit einer Axt den Kopf abgeschlagen hat. Man müsste in Aserbaidschan erst einen Prozess starten, der die Gesellschaft grundlegend aufklärt und mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert, ähnlich wie es hier nach dem Zweiten Weltkrieg geschah.
Das wäre aber doch sinnvoll, oder?
Absolut. Deutschland hat sich seinen Verbrechen jedoch nur gestellt, da es dazu gezwungen wurde. Und selbst da brauchte es eine Generation bis der Holocaust im deutschen Fernsehen behandelt wurde. All diese Zwänge existieren in Aserbaidschan nicht. Deswegen wäre ein Friedensvertrag derzeit auch nichts wert.
Hast du noch Hoffnung, dass das alles gut ausgeht?
Mein Optimismus speist sich daraus, dass die Menschen in Arzach wahnsinnig resilient sind. Wir Armenier sind ein altes Volk. 5.000 Jahre Kunst und Kultur titelt mein deutscher Lieblingsband über die armenische Geschichte. Wir haben nicht kolonisiert oder fremde Völker unterjocht, sondern waren häufig selbst Spielball größerer Imperien. Trotzdem gibt es uns heute noch und daran wird sich auch nichts ändern.
Sieger der Herzen, sozusagen?
Aber zu welchem Preis? Auch wenn das armenische Volk resilient ist und lange vor dem aserischen Staat schon ganz andere Besatzer überlebt hat, wird jede Generation aufs Neue traumatisiert.
Was meinst du?
Ich war zuletzt 2017 in Arzach, ein Jahr nach dem sogenannten Aprilkrieg 2016. Damals konnten die angreifenden Aserbaidschaner zurückgestoßen werden.
Was hast du da gesehen?
Junge Soldaten, 19 oder 20 Jahre alt. Die waren bereits Kriegsveteranen. Diese Jungs hatten Bilder von ihren Freunden und kürzlich gefallenen Soldaten gemalt und an den Wänden aufgehängt. Es sind junge Menschen, die ihre Familien gegen einen bis an die Zähne bewaffneten ölreichen Goliath verteidigen müssen. Die NZZ schrieb 2020 pointiert, dass der “armenische David” im dritten Krieg gegen Bergkarabach “vernichtet” wurde.
Was können wir tun, um den Menschen in Arzach zu helfen?
Es geht zunächst um mehr Aufmerksamkeit für den Konflikt. Das Interesse an der Ukraine und dem Iran zeigt, wie solidarisch die deutsche Gesellschaft sein kann. Es geht darum, die Narrative zu entlarven, die uns wegschauen lassen. Etwa, dass Armenien mit Russland zusammenarbeiten würde oder dass Aserbaidschan ein verlässlicher Partner Europas wäre.
Ich habe gelernt: Armeniens Schutzmacht ist Russland und Aserbaidschans die Türkei.
Das stimmt nur bedingt. Zwei Tage vor dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat Putin die Kooperation mit Aliyev nochmal offiziell verstärkt und ein neues Abkommen unterzeichnet.
Was für einen Zweck könnte das haben?
Aserbaidschan verkauft sanktioniertes russisches Gas überteuert nach Europa und füllt somit Putins Kriegskassen, wie die BILD kürzlich berichtete. Russland war bis vor ein paar wenigen Jahren ihr Hauptwaffenlieferant. Die Bündnisse sind daher etwas komplizierter.
Puh, zeigt sich das auch jetzt gerade?
Na ja, Russland hat zwar Soldaten in Bergkarabach stationiert, die den Latschin-Korridor bewachen sollen, aber sie lösen die Blockade bisher nicht auf.
Warum bricht Armenien dann nicht mit Russland?
Warum brechen die EU und Deutschland nicht mit Aserbaidschan und der Türkei? Das ist Realpolitik.
Was meinst du damit?
Russland ist trotz aller Unzulänglichkeiten die einzige präsente Macht, die dort in der Lage ist, größere Angriffe auf armenische Zivilisten zu verhindern. Kein anderer Staat möchte diese Rolle übernehmen.
Bleibt also alles beim Alten?
Würde die EU ihre Beziehungen zur Türkei und Aserbaidschan überdenken, würde sie das weitaus weniger kosten, als wenn Armenien seine Partnerschaft mit Russland aufgäbe. Armenien würde bei der Missachtung realpolitischer Erwägungen ihre Existenz riskieren.
Also müssten Deutschland und Europa gegen Aserbaidschan und die Türkei vorgehen?
Die Frage drängt sich schon auf: Warum macht man Verträge über Gas und Strom nicht davon abhängig, dass Aserbaidschan aufhört, Armenier umzubringen?
Konkret, was könnte die EU tun?
Wie wurde damals die Blockade Berlins durch die Sowjetunion beendet? Durch wirtschaftlichen Druck.
Und jetzt ganz akut, wie könnte man den Menschen in Arzach helfen?
Zum Beispiel mit einer Luftbrücke, um bei der Blockade Berlins zu bleiben. Es gibt einen Flughafen in Arzach. Nur hat Aserbaidschan angekündigt, alles abzuschießen, was dort startet oder landet, egal ob zivil oder militärisch. Es wäre schon erstmal geholfen, wenn eine internationale Delegation humanitäre Hilfe zum Korridor transportiert und Zugang fordert.
Und wie kriegen wir das hin?
Der Bundestag bekannte sich 2016 zu einer deutschen Verantwortung für die Stabilität im Kaukasus. Die Medien sollten das deutsche Handeln hieran messen und daran erinnern. Ich will nur, dass Leute hinschauen, verstehen, worum es geht und dass auch Journalisten nicht die alten Narrative ungefragt wiederholen.
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