Mein Leben lang wurde mir gesagt, was für ein süßes kleines Mädchen ich bin. Seit meinem zwölften Lebensjahr singe ich in Klassikchören, als glockenheller Sopran. Meine Stimmbänder sind mir wichtig. “Brautkleid bleibt Blaukraut” kann ich im Schlaf aufsagen. Ich kenne das Ave Maria auswendig und halte einen imaginären Kirschkern zwischen meinen Pobacken, wenn ich das Requiem anstimme.
Aber obwohl meine Stimme trainiert ist, werde ich häufig nicht ernst genommen, wenn ich etwas sage. Und ein Jahr voller Zoomkonferenzen hat das noch schlimmer gemacht. Ich habe geklickt, gestarrt, ins Headset gesprochen und dabei zunehmend an meiner Fähigkeit zu sprechen gezweifelt. Mehr als ein Jahr lang saß ich vor dem Bildschirm meines Laptops wie auf Koks. Denn meine Kollegen nehmen meine Praktikantinnen-Stimme jetzt noch weniger ernst als sowieso schon.
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Mein toxisches Verhältnis zu Zoom-Konferenzen lässt sich sogar wissenschaftlich erklären: Frauenstimmen werden in Onlinegesprächen benachteiligt, sagt eine Studie aus dem Januar 2021 aus Magdeburg. Die Software dünnt einfach die höheren Frequenzen aus.
Es ist Zeit. Zeit, meinen Computer anzuschreien.
Ich will lernen, laut und aggressiv zu sein. Um das angemessen professionell zu tun, habe ich mich mit einem Shoutcoach verabredet – auf Zoom. Britta Görtz hat Schreien zu ihrem Beruf gemacht. Es gibt Videos von ihr in dunklen Kellern, in denen sie mit Dämonenfratze in die Kamera schreit. Britta Görtz ist Frontfrau der Death-Metal-Band Critical Mess. Sie gehört zu den gefragtesten Shoutcoaches in Deutschland. Dicke, bärtige Männer rennen Britta die Bude ein, um von ihr im Growlen, Shouten und Screamen unterrichtet zu werden. Nun also auch ich.
Britta Görtz hat diesen Job, weil sie mein genaues Gegenteil ist: Ihre Stimme klingt rauchig, sie hat schwarze Haare und trägt ein T-Shirt mit aufgedruckten Blutflecken. Mein Haar ist blond, meine Stimme sanft. Ich bekomme auch mit 25 Jahren noch regelmäßig gesagt, was für ein süßes kleines Mädchen ich bin.
Eine Journalistin sollte nicht niedlich sein, wenn sie irgendwann Friedrich Merz im Live-TV vom Hocker hauen will.
Britta soll mir beibringen, zu schreien. Sie stellt gleich mal klar, dass es dabei nicht um die Anzahl an Dezibel geht: “In Dezibel misst man nur Schlagbohrer.” Es geht um die gefühlte Lautheit.
Ich will verändern, wie andere Menschen meine Stimme empfinden. Sprechen sie mir Autorität zu? Kompetenz? Eine Journalistin sollte nicht niedlich sein, wenn sie irgendwann Friedrich Merz im Live-TV vom Hocker hauen will. Die Stimme ist dabei wichtig: Nach einer Studie des US-Psychologen Albert Mehrabian hängt nur sieben Prozent der Wirkung des Gesagten vom eigentlich Gesagten ab, 38 Prozent aber von der Stimme.
Um mich für die Überwindung meiner persönlichen Autoritäts-Grenze in Stimmung zu bringen, habe ich gestern Nacht nur fünf Stunden geschlafen. Heute Morgen habe ich mein einziges Totenkopf-Top aus dem Schrank gekramt und mir Eyeliner um die Augen geschmiert wie ein Kind die Wachsmalkreide auf die elterliche Tapete. Ich bin bereit, zu schreien.
Ich stelle mir nun vor, wie jemand mein Fahrrad klaut.
Britta und ich beginnen mit einer Aufwärmübung. Ich presse meine Lippen zusammen. “Ffffffff” machen wir und “mmmhh” – ich öffne sie wieder: “Oooooh.” Dann geht es zur Sache. Für Stufe eins meines Trainings soll ich mir Marge Simpson in wütend vorstellen und wie sie gegen den Bildschirm brummen. Britta erklärt mir, dass ich meine Stimmbänder dafür eigentlich gar nicht brauche. Das Brummen entsteht eine Etage weiter oben, an den Taschenfalten, zwei übereinander liegenden Faltenpaaren im Kehlkopf. Durch Luftüberdruck aus der Lunge schlagen sie aneinander, normalerweise nur, wenn wir uns verschlucken oder husten. Britta erklärt: “Im Kehlkopf entstehen die Harsh Vocals, das gibt Distortion im Hals und der Kopf ist dann dein Equalizer.” Alles klar.
Für Stufe zwei wandelt Britta die Übung etwas ab. Ich stelle mir nun vor, wie jemand mein Fahrrad klaut. In gut 50 Metern Entfernung, ganz nah an meinem Hauseingang. Und dann schreie ich ihm zu: “MARMELAAAADE!” Ein Wort mit vielen offenen Vokalen. Das klappt erstaunlich gut. Aber wirklich überzeugend ist es nicht. Wenn ich der Dieb wäre, hätte ich das Fahrrad trotzdem gestohlen und vorher hätte ich mich wahrscheinlich ausgelacht. Wollte ich nicht wütend sein statt hilflos?
Wir machen noch einen Versuch. “Möööh”, töne ich gegen den Laptop und ziehe dazu meine Arme nach hinten. Britta fragt, was ich gefühlt habe. Ich antworte, das habe sich sehr gewalttätig angefühlt, so als würde ich jemanden an mich heranschleifen.
Heavy Metal, Black Metal, Death Metal, Grindcore, Deathcore – das ist für mich alles das gleiche Geschrei.
Ich wechsle das Thema und frage Britta, wie sie es in einer Szene aushält, die Gewalt in Songtexte packt. Soviel zu meinem Verständnis der Metalszene und ihrer Musik. Heavy Metal, Black Metal, Death Metal, Grindcore, Deathcore – das ist für mich alles das gleiche Geschrei. Dazu ein Publikum aus vorzugsweise schlammbeschmierten Barttragenden und Leuten, die mit Böhse Onkelz-Shirt über Festivalgelände laufen.
Britta sagt, beim Growlen, Shouten und Screamen gehe es nicht um Gewalt. Wenn Britta sagt: “Dann geh ich auf die Bühne und gibt es auf die Fresse”, meine sie eigentlich: Ich werfe dem Publikum Energiebälle zu und sie werfen mir ganz viele kleine zurück.
Außerdem sei Metal etwas “Urweibliches”. Wenn eine Frau ein Kind gebäre, würden sich die die Taschenfalten, mit denen wir heute growlen, schließen und den Druck ausgleichen. Auch das Neugeborene schreit mit den Taschenfalten, bevor man es in rosa hüllt und zum niedlichen Mädchen macht.
Ich fühle mich zurückversetzt nach Wacken.
Britta hat schon als Kind gern gegrunzt und mit “fssht”, “wheee” und “crrack” ihre Comichefte vertont. Es hat für sie etwas Befreiendes. “Ich habe eine Schülerin aus dem Iran. Die kann nicht mal Fahrradfahren, weil sie die Beine nicht so breit machen darf. Aber sie lernt bei mir Growlen.”
Ich fühle mich zurückversetzt nach Wacken. Damals, im Jahr 2018, stand ich mit meiner kleinen Schwester vor einer Riesenbühne. Darauf stand ein dicker, bärtiger Mittvierziger, headbangte und schrie in sein Mikrofon, ohne Pause zwei Stunden lang. Ich wurde schon allein vom Zuschauen fast ohnmächtig. Aber wenn ich jetzt nochmal im Bus von Itzehoe nach Wacken stehen würde, und die Männer vor mir Brüllen: “It’s a what? It’s a hoe.” Dann würde ich irgendwas zurückgrowlen.
Auch der berufliche Erfolg hängt nicht nur von der Stimme ab. Sondern davon, selbstsicher zu sein, wenn man jemandem etwas klarmacht. Verona Feldbusch zum Beispiel war darin, wenn auch piepsend, ausgezeichnet gut. Dann kann einem selbst eine diskriminierende Software wie Zoom nichts mehr anhaben.
Stufe drei meines Trainings ist das, was Britta Görtz das “Metalgesicht” nennt. Dafür ziehe ich beim Growlen meine Augenbrauen zusammen, öffne den Mund so weit wie möglich und sehe dabei so aus, als sei der Leibhaftige in mich gefahren. Ich soll mir ein starkes Gefühl dabei vorstellen, Hass, Schmerz oder einfach Kraft. Es kostet mich Überwindung, aber kurioserweise entsteht dabei in mir genau das Gefühl, das Britta zuvor beschrieben hat: Befreiung. Die eigene Peinlichkeitsschranke zu durchbrechen, macht Spaß. Mit dem Metalgesicht wirkt alles lauter, sagt Britta: “Das Gegenüber assoziiert es mit Gefahr und wird aufmerksam.” Ich operiere jetzt auf der Ebene meiner Ur-Instinkte, erklärt sie.
Ich bin nicht einmal heiser und könnte noch stundenlang so weiterschreien.
Wir stoßen noch ein letztes gepflegtes “möööh” aus, das Grundrepertoire jeder Metalsängerin. Dann sagt mir Britta, dass ich richtig gut war. Das hätte ich nicht erwartet. Ich bin nicht einmal heiser und könnte noch stundenlang so weiterschreien. Meiner Stimme traue ich alles zu.
Am nächsten Tag sitze ich wieder in der üblichen Zoom-Konferenz. Als meine Kollegen mit einer dieser endlosen Diskussionen beginnen, denke ich an das Metalgesicht und fahre mich und mein Headset auf Maximal-Lautstärke hoch. Dann stelle ich mir vor, dass jeder Einzelne von ihnen mir gerade mein Fahrrad klaut und nicht nur meine Lebenszeit. Das wirkt. Ich lehne mich vor und öffne den Mund etwas weiter als üblich, ziehe die Augenbrauen etwas mehr zusammen als üblich. Mag sein, dass meine Stimme beim Sprechen immer noch wie die einer Praktikantin klingt. Dafür kann ich nun selbst dem Wort “Marmelade” Autorität verleihen.
Von nun an werde ich headbangen, statt nur innerlich mit dem Kopf zu schütteln. Falls ich jemals Friedrich Merz im Live-TV begegne, sollte er sich warm anziehen. Total logisch auch, dass der liebe Gott mich besser hören kann, wenn ich growle, statt das Ave Maria zu singen. Das ist vielleicht was für süße kleine Mädchen, so engelchenhaft. Und Gott weiß, ich will kein Engel sein. Amen.