Du öffnest deinen Browser, scrollst dich durch deinen Newsfeed – Krieg, Gewalt, ignorante Politiker – und schon steigt dein Blutdruck ein bisschen. So weit, so normal. Aber es gibt Menschen, bei denen der Blutdruck schon durch die Decke schießt, bevor sie auch nur ein Wort gelesen haben. Allein die Existenz des Internets ist für sie eine riesige Belastung. Diese Menschen leiden an einer umstrittenen Störung namens “elektromagnetische Hypersensibilität” (EHS): Sie sagen, die elektromagnetischen Felder von WLAN-Routern, Handys und Fernsehern würden bei ihnen diverse Krankheitssymptome auslösen.
Dass eine solche Krankheit überhaupt existiert, ist nicht bewiesen. Eine Studie der University of Essex stellte 2007 fest, dass Teilnehmer, die angaben, an EHS zu leiden, nur dann an Symptomen litten, wenn man ihnen sagte, ein Handymast in ihrer Nähe sei “eingeschaltet”. Wenn die Teilnehmer nicht wussten, ob der Mast aktiv war oder nicht, hatten die Signale keine Auswirkung auf ihren Zustand. Im Jahr zuvor kam eine Studie der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz zum gleichen Ergebnis. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt basierend auf Studien, dass auf eine Million Menschen eine Handvoll EHS-Betroffene kommt.
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Auch wenn EHS sehr selten ist, bist du dieser Störung vielleicht schon in den Medien begegnet: In der Serie Better Call Saul leidet Sauls Bruder Chuck an EHS. Er zieht sich in sein Haus zurück, das er nur mit altmodischen Methoden heizt und beleuchtet, weil er die Strahlung im öffentlichen Raum nicht aushält. Auch Chuck wird im Laufe der Serie damit konfrontiert, dass sein Problem vermutlich eher psychische Ursachen hat.
Auch bei VICE: Das echte ‘Better Call Saul’?
Für die meisten Menschen ist ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellbar. Um herauszufinden, wie das Leben mit EHS und ohne Internet ist, hat VICE mit zwei niederländischen Frauen gesprochen, die von dem Problem betroffen sind. Ich habe einen Tag an ihrem WLAN-freien, abgeschiedenen Rückzugsort vor der Zivilisation verbracht.
Steensel ist ein kleiner Ort im Süden der Niederlande. Martine holt mich am Bahnhof ab. Kaum sitze ich in ihrem Auto, bittet sie mich höflich, mein Handy auszumachen – oder wenigstens in den Flugmodus zu schalten. Ohne Zögern komme ich ihrer Bitte nach.
Martine ist in ihren 40ern und hat früher in Amsterdam in der Rechtsabteilung einer großen Hilfsorganisation für Flüchtlinge gearbeitet. Bis sie sich gezwungen sah, aus der Großstadt zu fliehen, weil sie der Meinung war, eine Überdosis WLAN und Strahlung abbekommen zu haben.
Martine sagt, sie sei eine der Wenigen in den Niederlanden, die aufgrund ihrer EHS-Symptome Arbeitslosenhilfe bekomme.
“Ich war total ausgebrannt”, sagt Martine. “Man zwingt sich, immer weiterzumachen, bis man irgendwann völlig kaputt ist.”
Martine sagt, sie sei eine der wenigen Einwohnerinnen der Niederlande, die aufgrund ihrer Symptome Arbeitslosenhilfe bekomme. Trotzdem hätten die Behörden damit nicht anerkannt, dass elektromagnetische Strahlung die Ursache ihrer Krankheit sei. Heute bietet sie anderen EHS-Betroffenen rechtlichen Beistand. Dabei gibt es große Herausforderungen, denn viele Forscher sehen EHS als eine psychische Störung; einige sind der Meinung, es sei die Angst vor der Strahlung und nicht die Strahlung selbst, die Symptome auslöst. Martine kämpft gegen diese Sichtweise an und verweist auf andere Studien, die ihr zufolge beweisen, wie gefährlich Strahlung sei.
Martines Vater ist Wissenschaftler, behauptet ebenfalls, an EHS zu leiden, und sieht sich als Experte für Strahlungsschutz.
Wir kommen bei Martine an. Ihr Holzhaus steht direkt neben dem ihrer Eltern. Ihr Vater ist Wissenschaftler, behauptet ebenfalls, an EHS zu leiden, und sieht sich als Experte für Strahlungsschutz. Martines Freundin Nanny, die in ihren 50ern ist, ist seit ein paar Tagen zu Besuch, um Abstand von den elektromagnetischen Feldern in ihrem eigenen Haus zu kriegen. Nanny betreibt die Website EHS Zichtbaar, mit der sie hofft, Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welch zerstörerische Wirkung WLAN im Alltag hat. Ihr Mann hilft ihr dabei, die Website zu betreiben; er hat offensichtlich ein entspannteres Verhältnis zu Elektrogeräten. “John liebt seine Smartwatch”, sagt Nanny, “aber sie macht mich krank, also muss sie vorerst in der Schublade bleiben.” Nanny sagt, sie sei keine Technik-Gegnerin. Sie wünsche sich lediglich, dass es einen weniger schädlichen Ersatz für WLAN gibt.
Ohne ihre Schutzkleidung geht Nanny nicht vor die Tür. Es handelt sich dabei um eine Kopfbedeckung, die aussieht wie ein Imkerhut aus silbernem Draht. Allein schon diese Ausrüstung zu bestellen, erforderte einen großen Aufwand, denn Nanny kann weder einen Computer benutzen noch telefonieren, ohne sich den Rest des Tages krank zu fühlen.
Nanny hält Strahlung für das neue Asbest.
Ich streife mit Nanny durch den Wald hinter Martines Haus. Sie erklärt, warum sie Strahlung für das neue Asbest hält: “Viele gehen einfach davon aus, dass es unbedenklich ist und dass man es getestet hat, oder sie wollen einfach nicht darüber nachdenken.” Angesichts der vielen Probleme in der Welt könne sie auch gut verstehen, dass die Menschen ungern über Strahlung nachdenken. “Die ganze Zeit nur Angst zu haben, ist auch nicht gesund”, sagt sie.
Zurück im Haus entbrennt beim Mittagessen eine intensive Diskussion über die negativen Folgen der heutigen Social-Media-Besessenheit. Mitten im Gespräch wird Nanny nervös und holt ein kleines Gerät hervor, mit dem sie die Strahlenbelastung im Raum misst.
Ich werde selbst auch etwas nervös, als die lange Antenne des Geräts über meinem Laptop schwebt. “Ich schaue nur kurz, um sicherzugehen”, sagt Nanny. Zum Glück war es nur falscher Alarm. Als ich frage, ob ich die Wirksamkeit des Geräts testen darf, erlaubt mir Martine, mein Handy kurz zu aktivieren.
Als ich mein Handy einschalte, fängt das Strahlungsmessgerät an, laut zu kreischen, rote Warnlämpchen blinken.
Als ich den Flugmodus ausschalte, prasseln Nachrichten aus der Außenwelt auf mein Handy ein. Schon bald fängt das Strahlungsmessgerät an, laut zu kreischen, rote Warnlämpchen blinken. Sofort schalte ich mein 4G wieder aus, der Detektor verstummt. Ein paar Sekunden später aktiviere ich mein Handy heimlich ein zweites Mal, um zu überprüfen, ob Nanny oder Martine das Gerät nicht vielleicht gezielt bedienen. Doch wie zuvor kreischt und blinkt der Detektor wegen meines Handys.
Eigentlich wohnt Nanny in Geldrop, eine Autostunde entfernt von Martine. Aber hin und wieder halte sie die elektromagnetischen Felder in ihrer Umgebung nicht mehr aus, dann besuche sie ihr Freundin und deren Vater, um sich zu erholen. Heute fährt sie heim und lädt mich ein mitzufahren. Martine chauffiert uns hauptsächlich über Landstraßen, so weit wie möglich von den Funktürmen entfernt. “Irgendwann sieht man sie überall”, sagt Martine.
Wir werden von Nannys Mann John empfangen, ihren zwei Töchtern im Teenageralter, ihrem Hund und ihrer Schwiegermutter, die zurzeit zu Besuch ist. “Nanny, setz dich nicht hierher”, warnt die Schwiegermutter, als alle im Haus sind. “John und ich haben vorhin gemessen und das da ist der schlimmste Fleck im ganzen Haus.”
Die Wände in Nannys Haus sind mit einer speziellen strahlungsabweisenden Farbe gestrichen, die Küche mit Alu ausgekleidet.
Nanny führt mich durchs Haus und erklärt, dass die Wände mit einer speziellen strahlungsabweisenden Farbe gestrichen sind, die Küche ist mit Alu ausgekleidet, um das WLAN der Nachbarn abzublocken. Das reiche aber nicht, um das Haus komplett von Strahlung zu befreien, denn “im Sicherungskasten ist ein elektromagnetisches Feld”. Also wohnt Nanny in einem Wohnwagen im Garten und kommt zu den Mahlzeiten ins Haus.
“Anfangs hat es noch Spaß gemacht”, erklärt sie. “Es fühlte sich ein bisschen an wie Urlaub. Aber jetzt würde ich sehr gern wieder permanent im Haus wohnen.”
Auch ich vermisse das normale Leben, ganz gleich, wie viel Strahlung mich darin vielleicht umgibt. Bevor ich abreise, zeigt mir Nanny noch ihre T-Shirt-Kollektion, die sie mit ihrem Mann entworfen hat und auf ihrer Website verkauft. Darauf stehen Anti-Strahlungs-Slogans, wie “Du willst Kinder? Finger weg vom Handy” oder “Feeling Blue-tooth?”
Nannys Töchter bringen mich zur nächsten Bushaltestelle. Unterwegs frage ich sie, wie sie es finden, dass ihre Mutter so häufig zu Martine fahren muss. “Es ist immer schön, ein paar Tage lang WLAN zu haben”, sagen sie. “Aber letzten Endes ist es besser, seine Mutter zu haben.”