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Arbeit

Sex und Sklaverei auf See: Wie es ist, auf Kreuzfahrten zu arbeiten

Ist ein schwimmendes Hotel voller Buffetgeier und Rentner wirklich ein paradiesischer Arbeitsplatz? Wir gehen der Frage auf einer Kreuzfahrt-Jobmesse nach.
Alle Fotos von Chloe Orefice

Hast du schon mal mit dem Gedanken gespielt, auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten?

Genauso gut könnte ich vielleicht fragen: "Magst du Sex und Spaß?" Menschen, die diese Frage enthusiastisch bejahen und genau deshalb in See stechen, sind oft begeistert vom Zusammenhalt an Bord und einem Abenteuer, in das man vollständig eintauchen kann.

Außerdem sind Kreuzfahrten ja auch was sehr Romantisches.

Und es gibt einen weiteren Anreiz, dort anzuheuern: Im 21. Jahrhundert sieht die französische Fremdenlegion nicht länger über deine vielen Morde hinweg, solange du dich bereiterklärst, marokkanische Stammesangehörige zu unterdrücken. Aber wenn du dich aus der Gesellschaft ausklinken möchtest, ohne deswegen gleich in den Wald zu ziehen, kannst du auch heute noch auf dem Meer Zuflucht finden – auf einem Kreuzfahrtschiff. Die Arbeit dort ist mehr als nur eine Karriere, sie ist ein Lebensstil.

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Oder habe ich etwa eine naive Traumvorstellung von den schwimmenden Touristenfallen? Wenn sie schon nicht die letzten Bastionen der Freiheit sind, als die ich sie gern sehen würde, bieten sie jungen Menschen dann wenigstens einen Ausweg aus dem zunehmend deprimierenden Arbeitsmarkt an Land? Oder ist man an Bord letztlich nur eine wandelnde Uniform mit Namensschild, die grummelige Rentner bei Laune halten und Wohlstandsplauzen mit Häppchen befüllen muss?

Die Messe

Um das herauszufinden, gehe ich auf die Cruise Ship Jobs Fair im Norden Londons. Der Mann, der mich über die Messe führt, heißt Steve Weller und arbeitet nach fast einem Jahrzehnt auf Kreuzfahrtschiffen heute an Land. Auf See war er fürs Entertainment zuständig, inzwischen hat er seine eigene Agentur, Jobsonaship. Er mag wieder festen Boden unter den Füßen haben, doch Steve ist entschlossen, anderen zu 13-Stunden-Tagen auf engstem Raum zu verhelfen, für 1.000 Euro im Monat und mit so viel Rumgevögel, wie sie nur wollen. Wer hier mit wem balzen möchte, ist mir bei meiner Ankunft aber noch nicht ganz klar. Ich sehe jede Menge Typen in besseren Konfirmationsanzügen, mit dem typischen geschmackvollen Farbmix aus Schwarz und Dunkelblau. Und reichlich Frauen mit Michael-Kors-Handtaschen und schicken Kleidern, die strategisch ihre Tattoos verdecken. Alle halten sie einen Stapel Bewerbungspapiere in der Hand. Nach einer halben Stunde stehen an jedem Stand mindestens fünf Leute an, nach einer Stunde sind es zehn. Die Organisatoren der Messe rechnen mit mehr als 4.000 Bewerbern.
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"Wie viele von denen werden einen Job kriegen?", frage ich Steve. "Etwa jede fünfte Person. Es gibt viel mehr Bewerber als Stellen. Vielleicht 20 Prozent werden einfach nur unterqualifiziert sein", antwortet er. "Nochmal 15 Prozent sind vermutlich überqualifiziert für ihre Wunschstelle." Mitten in einer der Schlangen steht ein etwa 20-Jähriger mit kurzgeschorenem roten Haar. Er und seine Freunde wollen als Musiker anheuern. Vor einem halben Jahr hatte der Rotschopf Glück und fand über einen Freund eine Stelle auf einer Kreuzfahrt nach Japan. Die ist nun aber vorbei und er steht wieder am Anfang. "Man muss einfach mit allen reden", sagt er. "Es ist ganz schön viel Gerenne." Zwei Stände weiter bewirbt sich eine Frau in Barbie-Rosa um eine Stelle als Croupier. Sie ist um sechs Uhr morgens aufgestanden, um die fast 300 Kilometer aus Leeds zurückzulegen. "Ich habe mich gerade von meinem Freund getrennt", sagt sie. "Also dachte ich mir: Wieso nicht? Ich liebe Reisen." Ich frage, wo sie bisher schon überall war. "Nur Spanien und Portugal."

Die Maus macht's

Die längste Schlange überhaupt erstreckt sich vor dem Stand von Disney Cruises. Warum? "Weil sie den Namen der Firma schon mal gehört haben?" Steve zuckt die Achseln. Der Megaschlange zum Trotz macht Disney nur einen Bruchteil des Kreuzfahrtgewerbes aus. Das Geschäft bringt weltweit jährlich mehr als 100 Milliarden Euro ein und schifft 22 Millionen Passagiere um den Globus, und doch gehören etwa 80 Prozent des Marktes nur drei Firmen. Eine von ihnen, Carnival, kontrolliert ganze 47 Prozent. An zweiter Stelle steht Royal Caribbean mit 23 Prozent, und an dritter die Norwegian Cruise Line mit 10 Prozent. Demnach sind alle anderen Anbieter kleine Fische. Das verleiht den Großen Drei die Macht, die Preise zu kontrollieren. Gerüchten zufolge hat vor allem Carnival eine Art Monopolstellung, doch Konkretes findet man zu diesen Gerüchten nicht. "Manche meinen schon, dass es ein Kartell ist", gibt Steve zu. "Aber Beweise dafür habe ich nie gesehen. Carnival gehören P&O, Cunard, Costa, Princess und mehr. Aber deren Geschäfte scheinen deutlich von denen der Muttergesellschaft getrennt zu sein."

Eine Seefahrt, die ist lustig

So oder so ist die Kreuzfahrerei günstiger, als du vielleicht denkst. Es kostet etwa so viel wie ein Standardhotel: Für etwa 600 Euro pro Person und Woche kriegst du eine Kabine, drei Mahlzeiten am Tag, Gratis-Entertainment und natürlich die Reise. Wenn du Otto oder Olga Normalverbraucher heißt. Denn für die zahlkräftige Elite ist eine Kreuzfahrt auch eine Gelegenheit für extremes Geprasse. Steve erwähnt die amerikanische Ultra-Luxus-Firma Seabourn. "Dort muss man dann die Namen aller Passagiere auswendig lernen – das sind 800." Dann erzählt er mir von den juwelenverzierten Kronleuchtern und eigens angefertigten Kunstwerken bei UniWorld, dem Flusskreuzfahrtanbieter. "Dort ist es wirklich schick. Jedes Zimmer wird individuell angepasst." Ich frage, warum ausgerechnet die Flusskreuzfahrten so luxuriös sind. Dieser Sektor wachse rasant, erklärt er. "Viele Amerikaner wollen in Europa schnell von A nach B kommen, möglichst viel sehen. Mit der Flusskreuzfahrt können sie direkt ins Zentrum einer Stadt gelangen." Ich stelle mir die logische Fortsetzung dieses Trends vor: eine amphibische Kapsel, die sich vom Flusskreuzer löst, unterm Ponte Vecchio hindurchdüst, links zur Piazza della Signoria abbiegt (kurzer Stopp für das obligatorische Foto von Michelangelos David) und dann direkt zum Florentiner Dom. Wer könnte da widerstehen? Doch das luxuriöseste Schiff von allen sucht heute keine neuen Seeleute auf der Messe. The World wurde 2002 zu Wasser gelassen und umfährt seither die Welt. Sie hat 165 Appartements, die ihren Bewohnern jeweils gehören. Für die etwa 300 Passagiere gibt es noch mal genauso viele Angestellte, die sie umsorgen. Die Bewohner von The World müssen keinen Finger krumm machen – höchstens, wenn es wieder ein Meeting gibt, um zu entscheiden, welches Ziel das Schiff als Nächstes ansteuern soll. Es gibt aber nicht nur auf Privatschiffen sondern auch auf den kommerziellen Kreuzern viele Menschen, die dort einfach einziehen. Manche Paare gehen in Rente und umfahren dann ununterbrochen den Planeten. Als die Queen Elizabeth II verkauft wurde, verlor damit auch eine Frau nach zehn Jahren ihr Zuhause. Selbst als ihr Mann auf dem Schiff gestorben war, hatte die Dame nicht wieder an Land gewollt. Offenbar waren die circa 3.900 Euro im Monat für sie ein guter Deal für den Ruhestand.

Die unerträgliche Leichtigkeit der See

Die Bewerbungspapiere türmen sich auf den Tischen der Anbieter. Wir lassen uns von Stand zu Stand treiben und heimsen Gratiszeug ein: Bonbons, Kompasse, Stifte, Weinflaschenaufsätze, Trillerpfeifen und Spiegel mit Logos drauf. Es gibt wirklich unheimlich viele Stellen zu besetzen: Kunstauktionär/in, Tennislehrer/in, Schiffsfotograf/in, Tänzer/in, Wellnesstherapeut/in, Gastdozent/in … Ich sehe mir die Gesichter in meiner Umgebung genauer an. Unter den frischen 23-Jährigen gibt es auch eine überraschende Zahl von Hoffnungsvollen mittleren Alters. Eine aus Thailand stammende Frau in ihren 40ern steht bei Holland America an. "Ach, ich wollte nur mal schauen, was passiert", kichert sie. "Ich möchte einfach mal aus England raus, weißt du?" Ein mindestens 40-Jähriger aus Trinidad sagt, er hoffe auf eine Stelle als Page. "Es gibt viele Kreuzfahrten in der Karibik", erklärt er. "Ich war schon bei ein paar als Gast dabei und das war schön. Es gefällt mir." Die meisten Leute in dem Alter sind vielleicht ein bisschen zu sehr in ihrem Leben verhaftet, um für ein ganzes Jahr abzuhauen. Doch für Menschen, die ihrem Leben an Land gern eine Weile entkommen wollen, ohne völlig den Halt zu verlieren, ist ein Schiff vermutlich ideal. Immerhin bietet der Kreuzer ja auch Gemeinschaft und ein Zuhause – die perfekte Mischung aus Niemandsland und Alltag. Steve ist in Altersfragen sehr pragmatisch: "Firmen stellen nur ungern ältere Leute ein", sagt er. "Dabei geht es nicht nur um die körperliche Fitness sondern auch um das Sozialleben. Man kann sich auf See nicht zurückhalten, sondern muss sich an die Kultur dort anpassen. Die Älteren tun sich damit schwer."

Sex and the Sea

Ach ja, die Kultur. "Jeder Abend ist Freitagabend und jeder Morgen ist Montagmorgen" ist der Standardsatz, den ich auf der Messe schon gehört habe, bevor Steve ihn selbst bringt. Der Personalbereich eines Kreuzers ist wie ein Treibhaus, in dem sich die Freundschaften und Rivalitäten einer kleinen Gesellschaft besonders rasant entwickeln. "Ein Schiff hat vielleicht eine Crew von 500 Personen", sagt Steve. "Wie oft feiert da wohl jemand Geburtstag?" "1,39 mal am Tag", antworte ich mit mathematischer Präzision. Brian David Bruns schreibt in Cruise Confidential, seinen Memoiren über die Arbeit in der Kreuzfahrtindustrie: "An Bord ist es schon fast ein Verbrechen, etwas mit einem Vertreter der eigenen Ethnie anzufangen. Alle tun es mit allen." Dass alles auf so engem Raum passiert, macht es nur noch intensiver. Die Beziehungen sind leidenschaftlich, aber innerhalb von Wochen zerronnen. Das größte Tabu ist, mit Passagieren Körperflüssigkeiten auszutauschen. Das kann für die Firma große rechtliche Schwierigkeiten bedeuten. "Wenn sie dich bei sowas erwischen, gehst du im nächsten Hafen an Land", sagt Steve. Zu seinen eigenen Abenteuern will Steve nur vage etwas von "ein paar Affären" und "ich hatte meine Zeit" murmeln.

Der doppelte Kapitän und die Unsichtbaren

Die Gäste und Crew-Mitglieder mögen sich in sexueller Völkerverständigung üben, aber in wirtschaftlicher Hinsicht herrscht anscheinend eine Art "Rassentrennung". Arme Filipinos und Bangladeschis arbeiten unter Deck, wo sie bis zum Umfallen Gemüse schnippeln und Tabletts polieren. Sie bekommen kaum Sonne ab, haben keine freien Tage und ihr Lohn spiegelt die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern wider: In vielen Fällen bekommen sie nicht mehr als etwa einen Euro die Stunde. Die niedriger gestellten Bedienungsjobs gehen an Osteuropäer und die bestbezahlten Top-Stellen in Kunst und Entertainment, Wellness, Technik und Finanzen bekommen Westler. Es gibt nicht nur unzählige Bewerber, sondern auch unwahrscheinlich viel Fluktuation. Viele sind neugierig, aber haben sich den Schritt nicht gut überlegt. "Wenn man jemanden auf See mitnimmt, muss man darauf zählen können, dass die Person auch dabeibleibt", sagt Steve. Es gebe ein eintägiges Training, um der UN-Konvention über die Ausbildung von Seeleuten (STCW) zu entsprechen. Das koste etwa 1.100 Euro und zeige einem, wer es wirklich ernst meint. Traditionell ist der Kapitän für das Wohlergehen aller Seelen an Bord verantwortlich. Eine Art Vermieter, Kommandant und CEO in einem, der für jedes Problem am Ende den Kopf hinhalten muss. Die Kabine des Kapitäns befindet sich direkt unter dem Kontrolldeck, falls es zu einer Notsituation kommt. Doch die Sicherheitslage wird dadurch kompliziert, dass Firmen immer häufiger zwei Kapitäne anheuern. Heute wird immer deutlicher zwischen einer Person unterschieden, die den Laden schmeißt, und einem Typen, der dafür bezahlt wird, mit den Gästen zu dinieren. "Früher haben die Leute einfach akzeptiert, dass der Kapitän ein grimmiger Seebär ist", sagt Steve. "Aber heute muss alles professionell wirken. Die Leute zahlen Tausende, also wollen sie auch jemanden, der ihnen Honig ums Maul schmiert." Der Honigschmierer gibt also in weißer Uniform den Gentleman, während sein raueres Gegenstück den Kurs bestimmt, E-Mails über das untaugliche Fugenmittel verschickt oder die Anwälte auf die nächsten Entlassungen vorbereitet.

My Heart Will Go On

Die Messe neigt sich dem Ende zu, doch Steve geht auf einmal zu einem Bewerber mit einem Stapel Papieren in der Hand und begrüßt ihn mit herzlichen Rückenklopfern. Nach ein paar Minuten kommt er zurück. "Sorry, ich hatte ihn schon fünf Jahre nicht mehr gesehen. Aber wenn man zusammen auf See war, dann bleibt einem diese Vertrautheit." In jedem Beruf haben die Menschen ihre Kreuze zu tragen, ihre Schlachten zu schlagen. Wir Außenstehenden können uns wohl kaum vorstellen, wie sehr es zusammenschweißt, wenn man einem Haufen Neuvermählter sagen muss, dass die Azteken-Exkursion abgesagt ist, oder wenn die Knoblauchgarnelen aus sind, obwohl das Mittagsbuffet noch eine Stunde geht. So etwas prägt einen, und deswegen habe ich auch den Eindruck, dass Steve einen kleinen Teil seiner selbst da draußen auf dem Meer gelassen hat. "Ich habe den letzten Monat meines Vertrags über versucht, mir selbst das Kündigen auszureden", sagt er. "Warum höre ich auf? Ich hab' doch den besten Job der Welt." Genau, warum hat er überhaupt aufgehört? "Es war einfach Zeit. Ich war Ende 20 und wollte normale Dinge. Du weißt schon, eine Wohnung, eine Katze, eine Freundin …" Als ich frage, ob er es vermisse, sieht er wehmütig aus. "Manchmal, wenn es in London schüttet, denke ich: Oh, Gott! Warum bin ich hier? Aber … nein. Ich habe die richtige Entscheidung getroffen." Dann sieht er in die Ferne. "Zumindest auf lange Sicht." Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.