Queere Rentner LGBTQ
Wiebke, Paul (m.), Robert || Alle Fotos: Francesco Giordano
Leben unter Paragraf 175

Queere Senioren erzählen von ihren Coming-outs

"Schwul sein – das gab es einfach nicht", sagt Robert, 81. Mehr als sein halbes Leben lang musste er seine sexuelle Orientierung verheimlichen. Auch wegen des sogenannten Schwulenparagrafen.

Stell dir vor, du lebst in einem Land, in dem du nicht lieben darfst, wen du willst. Bis vor 25 Jahren ging es homosexuellen Menschen in Deutschland so. Mindestens 64.000 Personen wurden wegen des sogenannten Schwulenparagrafen, § 175 des Strafgesetzbuchs, verurteilt, unzählige diskriminiert. Erst am 11. Juni 1994 wurde das Verbot abgeschafft. VICE und i-D feiern dieses Jubiläum in einer Themenwoche. Mit Geschichten von queeren Menschen, die damals wie heute für ihr Recht kämpfen, zu lieben, wen sie wollen. Alle findest du hier.

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Paul: "Wir haben immer das Beste aus allem gemacht, auch wenn man versucht hat uns kleinzukriegen"

Paul

Paul Mitschker ist heute 70 Jahre alt. 1980 trat er in eine Schwulengruppe ein und engagierte sich politisch im Hintergrund

3.000 D-Mark hat es mich gekostet, mir endgültig einzugestehen: Ich bin schwul und das bleibt auch so. Das Geld hatte ich einer Partnervermittlung in Bamberg gezahlt, die mir zwölf Frauen vorstellen wollte. Ich war damals schon 30 Jahre alt, ledig, und der Mann, in den ich zehn Jahre lang verliebt war, mit dem ich intim geworden war, hatte eine Frau geheiratet – und ich war sein Trauzeuge.

Nach den ersten sechs Frauen, die mir die Partnervermittlung vorstellte, wusste ich: Das war's jetzt. 1980 bin in eine Schwulengruppe gegangen, die sich gerade frisch gegründet hatte. Die meisten dort waren Studenten, manchmal war ich ganz allein, manchmal waren wir bis zu 20 Leute. Diese "Initiative Homosexualität" in Bamberg war eine streng politische Gruppe, man sollte untereinander keine Beziehung haben, das wurde jedes Mal ins Protokoll geschrieben. Es ging uns um den Kampf gegen § 175, um Akzeptanz in der Gesellschaft. Ich war in Bamberg recht bekannt und habe mich selbst deswegen eher im Hintergrund gehalten, alles organisiert, bin aber nie mit auf die Straße gegangen, um Flugblätter zu verteilen.

Ich habe dann doch etwas mit einem Mann aus der Gruppe angefangen. Er war noch Student und ist bei mir eingezogen. Mein erster richtiger Freund. Als wir aus der Wohnung raus mussten, weil der Vermieter Eigenbedarf anmeldete, war es für uns fast unmöglich eine gemeinsame Wohnung zu finden. Entweder die Leute haben gedacht: Zwei Männer, das wird ein Hurenhaus mit ständig wechselnden Frauen! Oder sie haben den Braten gleich gerochen.

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"Meine Eltern hatten damals schon Herzprobleme. Ich hatte befürchtet, die fallen tot vom Stuhl."

Ich habe mein Schwulsein sehr lange für mich behalten. Aber als wir nach einer gemeinsamen Wohnung gesucht haben, musste ich meinen Eltern sagen, dass er nicht irgendwer ist, sondern mein Freund, mit dem ich zusammenleben will. Meine Eltern hatten damals Herzprobleme. Ich hatte befürchtet, die fallen tot vom Stuhl. Also bin ich zuerst zu unserer Hausärztin. Die meinte, meine Eltern seien schon vor Jahren bei ihr gewesen und hätten vermutet, dass ich schwul bin. Sie hätten dann gefragt, ob man da nicht irgendwas machen könnte, mit Tabletten oder so. Die Ärztin hatte ihnen davon abgeraten.

Als ich es meinen Eltern dann erzählte, waren die nicht begeistert, haben es aber akzeptiert. Für sie war es mein Freund, der mich verführt hat. Der Böse. Ähnliches habe ich von vielen Freunden gehört. Meinen zweiten Freund haben sie dann gern gehabt. Mit dem lebe ich jetzt seit über 30 Jahren zusammen. Es ist heute vielleicht leichter, seinen Eltern das zu sagen, aber es kommt immer noch vor allem darauf an, wie die Person damit umgeht. Es geht um Offenheit.

Nach einem sehr krassen Erlebnis mit einer Bekanntschaft wusste ich: Ich muss offen bleiben und den Leuten in meinem Freundeskreis, Kollegen, Verwandten davon erzählen, sonst kann mir was passieren. Wir hatten uns im Schwimmbad kennengelernt, er wollte nur schnell mit mir aufs Klo. Ich machte ihm klar: Ich bin nicht der Typ für Toilettensex, er solle mich eine Woche später anrufen, wenn ich von einer Reise nach Berlin zurück bin. Wir telefonierten und fingen etwas miteinander an, keine Liebesbeziehung, es war vor allem körperlich. Ich schrieb ihm einen Brief, den dann seine Mutter öffnete. Die Familie: gut bürgerliche Leute, die bei der Fronleichnamsprozession Heilige durch die Gegend tragen. Sie akzeptierten das nicht. Als ich mit ihnen am Telefon reden wollte, beleidigte sie mich: "Du Drecksau! Schade, dass es die KZs nicht mehr gibt."

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Wenn man zu sich steht und das auch ausstrahlt, dann geht es.

Meinen heutigen Mann Stephan habe ich 1988 bei einem Treffen der bayerischen Schwulengruppen kennengelernt, seitdem sind wir zusammen. 2002 waren wir die erste eingetragene Lebenspartnerschaft in Oberfranken. Die bayerische Staatsregierung hatte damals noch verfügt, dass sowas nicht in den Standesämtern stattfindet. Also mussten wir einen Notar bezahlen. Den haben wir dann einfach auf unsere Feier eingeladen. Er stand vor 170 Gästen, es wurde applaudiert. Er hatte das vorher nie erlebt und erzählt bis heute davon. Meine Eltern wollten damals noch immer nicht, dass darüber in der Zeitung geschrieben wird, sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten, wenn man sie darauf anspricht. Auch wenn alle es längst wussten. Vor eineinhalb Jahren haben wir offiziell geheiratet, das war der letzte Schritt zur Gleichberechtigung.

Wenn man zu sich steht und das auch ausstrahlt, dann geht es. Als wir nach München gezogen sind, waren wir in dem Haus mit zwölf Parteien die einzige eingetragene Lebenspartnerschaft, alle anderen waren Hetero-Pärchen. Es ist immer wieder ein Aufraffen. Eine Überwindung. Aber diese Geschichten verbinden auch. Wenn ich Geburtstag feiere, dann kommen unsere Freunde von überall her.

Wiebke: "Ich habe so viel verpasst, das ärgert mich heute"

Wiebke

Wiebke Müller ist 76 Jahre alt. Im April 2006, mit 63 Jahren, hat sie ihr Geschlecht angleichen lassen und lebt heute als lesbische Frau

Im Vorschulalter hatte ich immer diesen Traum: Ich, ein kleiner Junge, stehe da im Nirgendwo und es zerreißt mich plötzlich. Die eine Seite wird zur Prinzessin, die andere zum Wüstenräuber, der dann schweren Schrittes verschwindet. Seine Schritte werden immer lauter, dumpfer, bis ich davon aufwache und spüre, dass es mein eigener Herzschlag ist.

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Den Traum habe ich später erst verstanden. Als ich mal ein Praktikum in einer Psychiatrie gemacht habe, hat ein Kollege festgestellt, dass mein Verhalten typisch weiblich ist. Ich war schockiert. Er hatte hinter die Fassade geschaut, die ich mir mühsam aufgebaut und immer vor mir hergetragen hatte. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir etwas vorgespielt. Das bereue ich heute. Denn ich wusste bereits früh: Das alles passt nicht zu mir. Wir Transmenschen sind ja die Einzigen, die zum Therapeuten gehen und wissen, was los ist: Wir sind im falschen Körper. Ich war nie irgendwas dazwischen, ich war immer eine Frau.

Auch auf VICE: Homosexuelle heilen - Hinter den Kulissen der sogenannten Reparativtherapie

Aber ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der ich niemals darüber hätte sprechen können. Ich kam 1943 in Paderborn zur Welt, im Krieg ist meine Familie nach Oberbayern geflohen. Meine Schwester, mein Bruder und ich sind in Burghausen ohne Vater aufgewachsen. Dort war ich Messdiener, ging nach dem Gymnasium zur Bundeswehr, wurde Stabsunteroffizier. Nach der Bundeswehr habe ich Sozialarbeit studiert. Wir hatten damals ein Lehrbuch, Pflichtlektüre: Das Kompendium der Psychiatrie. In dem Buch wurden Transmenschen unter "sexuelle Perversionen" abgehandelt, zusammen mit Schwulen und Lesben, aber auch Transvestiten. Wir Transmenschen wurden ins Rotlichtmilieu gedrängt. Es war einfach nicht die richtige Zeit, um sich zu outen. Das Transsexuellengesetz trat in Deutschland erst 1981 in Kraft, wir wussten, für eine Geschlechtsangleichung kannst du nur nach London oder Casablanca gehen.

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Im Sommer im Auto habe ich mir oft gewünscht, jetzt einfach ein Sommerkleid tragen zu können. Ich hatte mich nie getraut das auszuprobieren, wollte mich nie verkleiden. Später dann brachte mich eine engagierte Transfrau aus dem Freundeskreis zu einem "Changer-Dienst" in München. Als ich mich da im Spiegel gesehen habe, im Rock und mit Bluse, sind mir tonnenweise Steine vom Herzen gefallen. Ich wusste: Das bin ich. Doch erst als meine Ex-Frau das Haus verlassen hat, habe ich mich nach außen gewagt. Da war ich schon Anfang 60. Wir haben zwei Kinder und uns sehr geliebt, aber der gemeinsame Pool war irgendwann leer. Ich lebe heute als lesbische Frau, meine Freundin ist 20 Jahre jünger und auch eine Transfrau. Identität und sexuelle Orientierung sind eben nicht dasselbe.

Wiebke durchstöbert ihr Fotoalbum

"Ich habe gelernt: Je offener ich bin, desto weniger Angriffsfläche biete ich. Aber es ist mir ein Anliegen klarzumachen: Es gibt uns!"

Mein Vater wollte, dass ich Wiebke heiße, wenn ich ein Mädchen werde. Er war im Krieg gestorben, aber ich wollte immer die Brücke dazu und hab meine Mutter am Sterbebett danach gefragt. Die Operation habe ich erst nach ihrem Tod gemacht. Mein Sohn, ein Polizist, hatte viel Verständnis für den Schritt. Auch meine Tochter hat es mittlerweile akzeptiert. Meine Enkelkinder sagen Wiebke, die kennen mich nicht anders. Mein Bruder nennt mich immer noch bei meinem männlichen Namen, meine Schwester spricht mich mit keinem meiner Namen an.

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Ich habe gelernt: Je offener ich bin, desto weniger Angriffsfläche biete ich. Doch die Ablehnung, vor allem auf dem Land, ist immer wieder übel. Es ist mir ein Anliegen klarzumachen: Es gibt uns! Wir wollen uns nicht verstecken! Wir sind da! Wir verlieren in der Transition nicht unsere Fähigkeiten, ändern uns nicht als Person. Ich engagiere mich im Aufklärungsprojekt München, wir gehen an Schulen und klären über transsexuelles, bisexuelles, schwules und lesbisches Leben auf. Ich helfe jungen Menschen dabei sich zu outen. Junge Menschen, die merken, dass etwas nicht stimmt, sollen das mitteilen können. Je jünger man bei seinem Outing ist, desto einfacher ist später alles.

Robert: "Ich hatte immer Glück"

Robert

Robert Engelmayer, 81, ist im zweiten Weltkrieg geboren und lebte 51 Jahre lang mit seinem Freund zusammen in München

Vor sechs Jahren ist Walter gestorben. Wir waren 51 Jahre lang zusammen. Das Wort 'schwul' gab es damals bei uns nicht. Und die Worte, die man sonst für Schwule benutzt hat, waren ordinär. Wenn wir verreist sind, dann nur als Freunde. Walter hat in der Modebranche gearbeitet, ich im Außendienst eines Pharmakonzerns. Wir hatten beide Glück, Jobs zu haben, in denen unser Schwulsein nicht zum Thema wurde. Ich kenne Leute, die haben beruflich richtige Probleme bekommen.

Ich war immer selbstbewusst, das hat mich gerettet. Mit 21 Jahren bin ich von Zuhause ausgezogen, nachdem ich 1959 in Augsburg jemanden kennengelernt habe, ihm nach München gefolgt bin und in seinem Büro aushalf. Ich war froh, weg zu sein. Meine Mutter hat mich und meine zwei Brüder allein aufgezogen. Wir hatten nichts. Das Haus, in dem ich 1939 geboren wurde, wurde im Krieg zerbombt. In meiner Kindheit und Jugend war ich immer Außenseiter, ich konnte mich besser ausdrücken in der Schule, war mir zu schade für die Feldarbeit, ich war feiner, eher ein Stadtkind. Obwohl ich bereits als Kind und in der Jugend schwule Erlebnisse hatte und meine Mutter vieles wusste, gab es nie ein Outing. Das ging vor meiner stockkatholischen Großfamilie nicht.

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Roberts Fotoerinnerungen an seinen verstorbenen Mann Walter

"Da stand einer mit Hut und in engem roten Kleid vor mir und hat gefragt, ob wir Cha Cha tanzen wollen. Wir haben getanzt. Und so hab ich Walter kennengelernt."

Dann in München kam ich in das schwule Milieu und auch das hat mir anfangs nicht gefallen. Das war mir tuntig, zum Teil lernte ich bösartige Schwule kennen, damit konnte ich nichts anfangen. Nach eineinhalb Jahren ging die erste Beziehung in die Brüche, ich verlor meinen Job, hatte plötzlich wieder nichts.

Zu Fasching gab es dann eine Fete im Aero-Club, ich hab mich richtig aufgetakelt, kam im Sakko dahin. Da stand einer mit Hut und in engem roten Kleid vor mir und hat gefragt, ob wir Cha Cha tanzen wollen. Wir haben getanzt. Und so hab ich Walter kennengelernt. Am 6. März 1962. Er war sieben Jahre älter, und hatte eine ganz andere Lebensauffassung. Auch wenn anfangs vieles nicht gepasst hat, war es für mich wichtig, einen Partner zu haben, auf den ich mich verlassen konnte. Wir waren nie große Bargänger, sind nie in Kneipen gewesen, eher in der Oper oder im Theater. Viel spielte sich damals für uns im privaten Raum ab, mit Freunden. Wir haben einfach kein großes Thema aus unserem Schwulsein gemacht. Das war einfach nicht anerkannt, das gab es nicht.

Es hat mir geholfen, etwas arrogant zu sein. Meine Homosexualität war kein Grund für mich, um mich zu verstecken. Aber die Jungen heute haben einfach andere Voraussetzungen: Man kann darüber reden, muss sich nicht verstecken, hat ein anderes Umfeld. Ich habe mir damals immer die Hetero-Paare angeschaut und gedacht: Bei euch ist doch auch nichts besser! In dieser Zeit gab es auch zwischen Heteros nicht viel Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit, viele waren Zweckbeziehungen, wenig Liebe und Leidenschaft.

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Ab 1968 haben wir zusammen in einem Haus gewohnt, vorher in zwei getrennten Wohnungen. Wir waren immer politisch aktiv, bei der Aids-Hilfe, sind auf die Straße gegangen. Wir haben damals ein Fest gemacht unter Freunden aus Deutschland und Italien, als homosexuelle Handlungen unter Männern 1969 in der Bundesrepublik nicht mehr strafbar waren. [Anm. d. Red.: In diesem Jahr wurde das Wort "widernatürlich" aus § 175 gestrichen, die Unzucht mit Tieren in einen eigenen Paragrafen ausgelagert.] Das war toll, diese Errungenschaften, die stufenweise kamen, das konnten wir uns nie vorstellen. Diese Selbstverständlichkeit später war schon irre.

"Es hat mir geholfen, etwas arrogant zu sein. Ich habe mir damals immer die Hetero-Paare angeschaut und gedacht: Bei euch ist doch auch nichts besser!"

Wir haben uns später in den 1990ern bei der Wahlinitiative "Rosa Liste München" eingetragen. Bei den Wahlen standen unsere Namen auf der Rosa Liste neben den Nazis. Als die Wählerliste dann in der Zeitung abgedruckt war, hatte einer der Eigentümer in unserem Haus unsere Namen in der Zeitung fett markiert und jedem Bewohner ein Exemplar in den Briefkasten geworfen, mit den Worten "Bitte wählt uns!". Der wollte uns als "die zwei Schwulen" bloßstellen. Meinen Freund hat das damals sehr schwer getroffen.

Wir haben viele alte Freunde, darunter einige Schwule, die würden auch heute nie zum Christopher Street Day gehen oder das Wort schwul benutzen, obwohl sie immer schwul gelebt haben. Bei mir ist das anders. Als alles öffentlicher und selbstverständlicher wurde, konnte ich noch leichter damit umgehen. Wenn ich heute beim Tanzen komisch angeschaut werde, wenn ich sage "Ich bin schwul", ist mir das egal, dann lache ich darüber. Ich bin alt, ich darf frech sein.

Ihr könnt nicht wissen, wie es war, aber vergesst nicht, dass es mal anders war: Wehrt euch, geht auf die Barrikaden! Alles andere ist sinnlos. Junge Menschen müssen selbstbewusst mit ihrer Sexualität umgehen, dazu stehen. Sie sollen nicht denken, dass ja sowieso alles besser wird, sondern dafür kämpfen. Es gibt genug homofeindliche Strömungen und Hass.

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