In Japan ist es üblich, 60 Stunden pro Woche zu arbeiten. Eine strenge Leistungskultur herrscht in dem Inselstaat zwar schon seit Jahrhunderten, aber nach dem Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Lage noch einmal. Um die Wirtschaft des vom Krieg zerstörten Landes anzukurbeln, ermutigte der damalige Premierminister Yoshida Shigeru japanische Unternehmen, Überstunden zu belohnen. Jahrzehnte später hat sich daran nicht viel geändert.
Japan ist das einzige Land der Welt, in dem es mit “Karōshi” ein eigenes Wort für Tod durch Überarbeitung gibt. Die auf strenge Disziplin getrimmte Arbeitsethik des durchschnittlichen japanischen Angestellten ist ungesund bis gefährlich. Dass Überarbeitung Herzversagen oder gar Suizide provoziert, ist keine Seltenheit.
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Du brauchst allerdings keine Statistiken, um zu sehen, dass japanische Geschäftsleute ein Problem mit Überstunden haben. Es reicht, nachts durch die Straßen der Großstädte zu laufen. Pawel Jaszczuk hat viele Jahre in Tokio gelebt und in dieser Zeit zahlreiche Bilder von erschöpften Büroarbeitern gemacht, die auf der Straße schliefen. Wir haben mit ihm gesprochen.
VICE: Wie viele dieser Menschen schlafen, weil sie einfach nur zu viel getrunken haben?
Pawel Jaszczuk: Ich war mir da nie hundertprozentig sicher. Manche hatten wahrscheinlich ein paar Drinks zu viel, aber die meisten waren einfach so müde, dass sie eingepennt sind.
Glaubst du, diese Männer finden es OK, so fotografiert zu werden?
Das kann ich natürlich nicht sagen. Ich will aber niemanden mit den Bildern bloßstellen. Ich bin auf ihrer Seite. Es ist eventuell ganz gut, dass so viel Zeit zwischen der Entstehung und der Veröffentlichung der Bilder liegt. Ein paar sind vielleicht erwachsener geworden oder weggezogen.
Wann sind die Fotos denn entstanden?
Zwischen 2008 und 2010. Das Buch ist aber erst 2018 erschienen. In Japan ist es normal, Geschäftsleute auf der Straße schlafen zu sehen, vor allem in der Nähe der großen Bahnhöfe. Das ist nichts Neues. Aber ich wollte aus meinem Projekt etwas Besonderes machen. Deswegen hat mich die Suche nach meinen Protagonisten auch zwei Jahre gekostet. Ich bin fast jede Nacht mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren. Donnerstag und Samstag waren am besten. Ich wollte gut gekleidete Geschäftsleute in interessanten Posen finden.
Warum hast du das Buch High Fashion genannt und die Bilder wie bei einer Modestrecke inszeniert?
Ich wollte aufrütteln. Ich wollte provozieren. Auch wenn die Salaryman, wie Büroangestellte renommierter Unternehmen in Japan heißen, hauptsächlich mit Tokio assoziiert werden, zeigen die Bilder, wie wir jeden Tag von Firmen und dem kapitalistischen System ausgenutzt werden. Menschen sollen sich die Fotos anschauen und fragen: Wollen wir wirklich so leben?
Haben die Menschen in Japan anders auf die Bilder reagiert als im Westen?
Die Reaktionen in Japan waren überwiegend sehr positiv. Ich glaube, die Message ist dort gut angekommen. Meine Fotos sind nur ein Beispiel dafür, wie es in Japan zugeht. In der dortigen Kultur bist du ein Niemand. Du kannst lange hart arbeiten und am nächsten Tag wirst du gefeuert. Es ist quasi Pflicht, dass du abends noch mit deinem Chef und deinen Kollegen losziehst. Am nächsten Tag herrscht bei der Arbeit aber wieder zwischen allen die gewohnte Distanz.
Das Publikum in Japan hat sich an den Bildern überhaupt nicht gestört. Die verstehen, was ich mache und unterstützen mich. Für sie, wie auch für meine japanische Frau, gehört das einfach zum Alltag. Sie denken sich nicht viel dabei, wenn sie diese Männer sehen. In Japan ist es gesellschaftlich akzeptiert, auf der Straße zu schlafen. Nur ganz selten wird jemand ausgeraubt. Man hat das Gefühl, sehr sicher zu sein. Überall sonst auf der Welt wäre es gefährlich, aber Tokio ist wie ein anderer Planet. Im Westen haben die Bilder viel mehr Fragen aufgeworfen.
In den vergangenen Jahren hat die Regierung neue Arbeitsgesetze beschlossen, um Angestellte zu entlasten. Hast du wahrgenommen, dass sich die Leistungskultur seitdem verändert hat?
Viele Veränderungen wurden noch nicht umgesetzt, aber es ist gut, dass sie überhaupt etwas tun wollen. Wenigsten sprechen die Menschen darüber. Der Premierminister zum Beispiel stammt aus einer sehr reichen Familie. Er hat keine Ahnung, was Arbeit ist. Vielleicht sind die Reformen auch nur Propaganda. Ich habe jedenfalls noch keine Verbesserungen wahrgenommen.
Woher kommt diese strenge Arbeitsethik, die es in diesem Ausmaß nur in Japan gibt?
Wie ich das durch Recherchen und mein Leben hier mitbekommen habe, hat das historische Ursachen. Nachdem die USA Hiroshima und Nagasaki zerstört hatten, hat sich Japan Geld geliehen und ist in weniger als 20 Jahren zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt gewachsen. Diese Disziplin hat sich in die Kultur eingebrannt.
OK, aber ist es nicht problematisch, schlafende oder bewusstlose Menschen ohne ihr Einverständnis zu fotografieren?
Auch wenn alle Bilder im öffentlichen Raum entstanden sind, ist es natürlich etwas problematisch. Fotografie ist in meinen Augen immer etwas übergriffig, aber das soll keine Ausrede sein. Das Phänomen ist so weit in Japan verbreitet, dass die Menschen sich daran gewöhnt haben. Meine Bilder haben in Japan eine Diskussion losgetreten. Das ist eine gute Sache, finde ich.