Schwarz-weiß Foto einer Person in einem archaischen Kostüm aus Stroh, der Fotograf Yannick Cormier fotografiert heidnische Bräuche auf der ganzen Welt.
Aus 'Pagan Poem' | Alle Fotos von Yannick Cormier
Menschen

Masken, Trance und uralte Riten: Fotos von heidnischen Bräuchen

Der Fotograf Yannick Cormier reist in Regionen, in denen archaische Rituale bis heute überlebt haben.
Matéo Vigné
Brussels, BE

Seit Jahrzehnten verliert das Christentum bei uns an Bedeutung. Spätestens, wenn die erste Steuer fällig wird, treten die meisten aus der Kirche aus. Die Gemeinden sind überaltert, Gottesdienste bleiben leer, die Mitglieder sterben weg. Dabei interessieren sich viele Menschen weiterhin für Religion und Spiritualität, nur eben nicht fürs Christentum.

So geht es auch dem Fotografen Yannick Cormier. Der 49-jährige Franzose reist seit über 20 Jahren für seine Projekte durch die Welt. "Ich habe mich schon früh für Kunst interessiert, aber eher für Film und Zeichnen", sagt er. Am Ende brachte ihn die Möglichkeit, für seine Arbeit ungewöhnliche Orte besuchen zu können, zur Fotografie. Bei seinen zahlreichen Aufenthalten in Indien, Spanien, Marokko oder Portugal festigte sich seine Faszination für lokale Bräuche, Mythen und Traditionen. Das Heidentum ist seither das verbindende Element seiner Arbeit.

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Wir haben mit Yannick über seine Arbeit und die vielen Erfahrungen gesprochen, die er auf seinen Reisen gemacht hat.

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Aus 'Dravidian Catharsis'

VICE: Warum steht das Heidentum im Zentrum deiner Arbeit?
Yannick Cormier:
Mich interessieren Menschen, die heute noch eine tiefe körperliche und geistige Verbindung zur Natur und den Lebewesen um sie herum pflegen. Rituale sind für mich etwas Schönes. Auch wenn der Schmerz dabei manchmal greifbar ist, helfen sie den Menschen, in Würde zu leben, ihrem Leben einen Sinn zu geben und ihrer sogenannten wahren Natur näherzukommen. Ich mag Menschen, die ihren Alltag mit Mythen durchziehen. 

Welche Praktiken oder Rituale haben dich am meisten beeindruckt?
Die besonders intensiven. Beim Karthiga Deepam in Südindien zum Beispiel wird in der Stadt Tiruvannamalai bei Einbruch der Dunkelheit auf einem heiligen Berg ein riesiger Kessel voller Ghee angezündet. Gleichzeitig verfallen Hunderttausende Gläubige, die für dieses Fest an den Ort gepilgert sind, in Trance. Beim Dassara-Fest in Kulasekharapatnam, einem anderen Ort in Südindien, verkleiden sich Tausende Männer und Frauen, um den Sieg der Göttin Durga über den büffelköpfigen Dämon Mahishasura zu feiern. Sie verkleiden sich als alles Mögliche: Göttin, Büffel, andere Götter, Tiere, Dämonen … Und dann gibt es noch das Jarramplas-Fest in der spanischen Gemeinde Piornal, bei dem die Menschen Rüben auf einen Sündenbock werfen, um das Böse auszutreiben.

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Aus 'Dravidian Catharsis'

Über welchen Zeitraum erstrecken sich deine Fotoprojekte?
Für die Serie Dravidian Catharsis habe ich 15 Jahre in Südindien im Bundesstaat Tamil Nadu verbracht. Das hat es mir ermöglicht, tief in die mythologische Welt der Tamilen einzutauchen. Für Tierra Magica bin ich von 2017 bis 2020 mehrfach zwischen Frankreich, Spanien und Portugal hin- und hergereist. 

Wir haben ein Wochenende mit Tempelrittern verbracht

Der Titel Dravidian Catharsis bezieht sich auf die Regionen Indiens, in denen dravidische Sprachen gesprochen werden. Was macht die so besonders?
Die dravidischen Sprachen sind heute vor allem in Südindien verbreitet. Die wichtigsten sind Tamil, Kannada, Telugu und Malayalam. Südindien grenzt sich mit seiner Geschichte immer schon vom restlichen Teil des Landes ab. Im Bundesstaat Tamil Nadu glauben die Menschen, dass sie Nachkommen der ersten Bewohner Indiens sind. Die Jahrtausende alte tamilische Sprache ist bis heute ein starkes verbindendes Element ihrer Kultur.

Seit der Antike stehen die Tempel im Zentrum tamilischen Lebens. Ihre hohen Türme sind mit filigranen Skulpturen geschmückt. Dort gibt es auch Kulte, die man sonst nirgendwo findet. Die einzelnen Gemeinden feiern jedes Jahr Feste, die den jeweiligen Dorfgottheiten gewidmet sind – oder um die Menschen von Naturkatastrophen, Epidemien oder anderen Bedrohungen abzulenken. Zu den verehrten Göttern gehören Aiyanar, der Schutzgott vieler Dörfer, Koothandavar, der Schutzgott der Transmenschen und Homosexuellen, Periyachi Amman, Beschützerin der Kinder und von Geburt und Schwangerschaft, und Mariyamman, die Göttin der Fruchtbarkeit, des Regens und der Krankheiten.

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Aus 'Dravidian Catharsis'

In der Beschreibung des Projekts heißt es: "Männer und Frauen in Trance versinken im Helllicht in die Dunkelheit. Sie gehören nicht sich selbst, sie bilden ein Kollektiv. Die individuelle Psychologie macht Platz für einen großen gemeinsamen Körper, der im Einklang schwingt." Was meinst du damit?
Vor allem bei shivaistischen und shaktistischen Ritualen versammeln sich Gläubige an heiligen Orten zum kontinuierlichen Klang von Trommeln und verfallen in Trance. Die Tamilen glauben, dass Flüsse, Berge, Tiere, Bäume, Pflanzen und bestimmte Teile des Menschen Erscheinungen von Geistern und Göttern sind, die sie bewohnen. Aus diesem Grund verehren sie bestimmte Tiere, Bäume und Orte als heilig. Durch die Rituale, ekstatischen Tänze und magischen Praktiken stellen sie Kontakt zwischen der natürlichen Welt und der Welt der Geister und Götter her. Das gilt auch für die Rituale, bei denen sich Menschen Körperstellen durchbohren. Sie machen das, um in einen anderen Bewusstseinszustand zu geraten. 

Für dein Projekt Pagan Poem bist du nach Marokko gereist. Was hast du dir dort angesehen?
Genau, mit Pagan Poem habe ich 2021 begonnen, es ist aber noch nicht abgeschlossen. 2022 bin ich für ein Kapitel zum Antiatlas gereist, einer Gebirgskette in Südwestmarokko. Dort wollte ich die Boujloud-Tradition dokumentieren. Dabei handelt es sich um einen Fruchtbarkeitskult heidnischen Ursprungs, der traditionell nach dem islamischen Opferfest stattfindet. Junge Männer ziehen sich dabei die Felle geopferter Ziegen über. Andere Kapitel des Projekts habe ich auf La Réunion, beim Karneval in Nordwesten Spaniens und Portugal, in Indonesien und in der Türkei am Göbekli Tepe fotografiert.

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Aus 'Pagan Poem'

Folgt die Unterteilung des Projekts in Kapitel dabei einer Regel?
Das Projekt befasst sich mit alten Praktiken, die bis heute überlebt haben, indem sie sich immer wieder neu erfunden haben – und das auf vier Kontinenten: Europa, Asien, Afrika und Südamerika. 

Masken sind ein zentrales Element deiner Arbeiten.
Seit ich 2011 die ersten Masken in Indien fotografiert habe, haben sie mich nicht mehr losgelassen. Geistermasken sind bis heute ein wichtiger Teil religiöser Traditionen von heidnischen und polytheistischen Kulturen. Mit dem Tragen der Masken sollen die Kräfte der Götterwelt beschwört und die Anwesenheit von Geistern und Göttern im Diesseits ausgedrückt werden. Sie machen diese Wesen sichtbar und verwischen so die Grenzen zwischen den Welten. Das fasziniert mich nicht nur ästhetisch.

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Aus 'Pagan Poem'

Bei Tierra Magica geht es dann explizit um Traditionen, die uns geografisch näher sind.
Tierra Magica befasst sich mit Karnevalsriten im Nordwesten Spaniens und Portugals. Diese knüpfen an sehr alte Traditionen an oder sind zumindest von ihnen inspiriert. Ein Symbol des Karnevals, das mich besonders interessiert, ist die Allgegenwart verschiedener Formen, Tiere oder Pflanzen. Der wilde Mann – sei er behaart, belaubt oder aus Stroh – erscheint immer wieder als zentrales Element, das die Aufgabe hat, die umherirrenden Seelen in die andere Welt zu führen. Es findet auch eine Art Volkskatharsis statt, sie regeneriert die Gemeinschaft und hilft ihr, die Angst vor den bevorstehenden Herausforderungen und Prüfungen zu überwinden – und die Erneuerung des Lebens anzuregen.

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