So ist es, ein Kind geschlechtsneutral zu erziehen

Dani und Mathilda | Foto mit freundlicher Genehmigung von Dani

Vor Kurzem war ich in Stockholm und habe dort Miranda (30) kennengelernt. Sie ist LGBT-Aktivistin und Mutter eines zweieinhalb Jahre alten Kindes. Ich verwende das Wort „Kind” an dieser Stelle bewusst, denn Miranda hat sich dazu entschieden, ihr Kind geschlechtsneutral zu erziehen, was bedeutet, dass sie versucht, es in einer Umgebung zu erziehen, die frei von Geschlechterklischees ist.

Das ist ein sehr schwedisches Unterfangen—immerhin hat die schwedische Regierung Chimamanda Ngozi Adichies Buch Mehr Feminismus! an alle 16-Jährigen des Landes verteilt und schwedische Väter ermuntert, sich für jedes Baby 90 Tage bezahlten Elternschaftsurlaub zu nehmen. Angesichts dieses Hintergrunds ist es keine Überraschung, dass die erste städtisch finanzierte, geschlechtsneutrale Vorschule, Egalia, 2010 in Stockholm eröffnet wurde.

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Doch nicht nur schwedische Eltern wollen Kinder geschlechtsneutral erziehen: Beck Laxton (46) und Keiran Cooper (44) sind die bekanntesten geschlechtsneutral erziehenden Eltern Großbritanniens, denn sie sprechen bereits seit geraumer Zeit darüber in den Medien und betreiben auch einen Blog. In einem kurzen Telefonat mit den beiden wurde sehr deutlich, dass sie keine Medienaufmerksamkeit wollen. Auf ihrem Blog schreibt Beck Laxton, dass das Paar „aus Versehen überall in den Medien breitgetreten” wurde, nachdem es im Januar 2012 „nichtsahnend einem Freund eines Freundes ein Interview für die Cambridge News” gab.

Es gibt auch einige Facebook-Gruppen für Eltern, die ihre Kinder geschlechtsneutral erziehen wollen, und dort habe ich auch Dani (34) gefunden, die gewillt war, mit mir darüber zu sprechen. Dani stammt aus Deutschland, lebt aber in Dartford in der englischen Grafschaft Kent, versteht sich als „agender” und kümmert sich in Vollzeit um Danis fünfjähriges Kind. Ich habe mich mit Dani, Miranda und Lotta Rajalin, der Gründerin der Vorschule Egalia, darüber unterhalten, was es bedeutet, ein Kind ohne Geschlechterrollen zu erziehen.

Miranda und ihr Baby | Foto mit freundlicher Genehmigung von Miranda

Weder Miranda noch Dani sehen ihre Erziehungsphilosophie als radikale Umstellung: „Meine Vorstellungen zum Thema Geschlecht waren schon vor der Geburt meines Kindes ein Teil meines Lebens, das hier ist also nur eine Fortsetzung meiner Überzeugungen und Lebensweise”, erklärt Dani. Miranda sagt, sie sähe es als feministischen Grundsatz, dass Geschlechterrollen und die damit einhergehenden Erwartungen uns alle einschränken.

Laut Dani geht es bei Geschlechtsneutralität nicht darum, eine neutrale Mitte zu finden, sondern dem Kind selbst zu überlassen, wer es sein will—ohne dass es sich gezwungen fühlt, zwischen Pink und Blau zu wählen. „Wir lieben alle Farben, wir lieben den Regenbogen. Die Welt ist bunt”, sagt Dani. Dani versucht, dem Kind Spielsachen und Kleidung zu geben, die für beide Geschlechter gedacht sind. „Wenn mein Kind etwas Pinkes oder ein Superman-Shirt anziehen will, dann ist das beides völlig in Ordnung”, erklärt Miranda. Das klingt erst einmal nicht besonders radikal, doch Dani sagt, viele Leute würden Danis Tochter Mathilda hin und wieder für einen Jungen halten, wenn sie ein blaues Oberteil anhat. Damit haben aber weder Dani noch Mathilda ein Problem.

Miranda und Dani sagen beide, ihre eigene Erziehung habe sie in ihren Entscheidungen beeinflusst. Mirandas Mutter war durchaus „burschikos”, wie die Leute ja dazu sagen. „Meine Mutter hat sich Sorgen gemacht, dass sie nicht von alleine mädchenhafte Dinge mit mir unternehmen würde, also hat sie mich gezielt zum Ballett und Reiten mitgenommen. Aber ich habe es gehasst.” Danis Mutter war da anders. „Meine Mutter liebte Rot, also hat sie mir immer rote Sachen angezogen. Es hat ihr nicht gefallen, als ich meine Haare kurz geschnitten habe, aber ich bin im Ostdeutschland der 1980er aufgewachsen, also war es nicht so ein großes Problem, wie es vielleicht heute in Großbritannien wäre.”

Als sie herausfanden, dass sie schwanger waren, wollten beide das Geschlecht des Kindes vor der Geburt nicht wissen. Miranda sagt: „Ich habe gemerkt, dass die Leute, wenn sie hören, dass man schwanger ist, als Erstes fragen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Mir selbst war es nicht wirklich wichtig—warum waren andere also so versessen darauf zu wissen, welche Genitalien mein Kind hat?”

Miranda bezeichnet ihr Kind nicht als sie [„hon”] oder er [„han”], sondern verwendet das geschlechtsneutrale Pronomen „hen”, das es in Schweden offiziell seit letztem Jahr gibt. Sie verwendet die traditionellen Pronomen auch dann nicht, wenn sie ihrem Kind Geschichten vorliest. „Geschichten in Kinderbüchern enthalten viele Geschlechterklischees, und ich möchte, dass mein Kind sich an die Figuren und die Handlung erinnert, ohne sie mit einem Geschlecht in Verbindung zu bringen.” Sie hat ihrem Kind einen neutralen Namen gegeben, sodass es auch in diesem Aspekt nicht geschlechterspezifisch beeinflusst wird. „Ich bin einfach nur ehrlich im Hinblick auf das, was ich weiß und was ich nicht weiß. Mein Baby ist erst zweieinhalb, wie viel können wir da über sein Geschlecht wissen?”

Kritiker sagen, der Aufwand, der bei der geschlechtsneutralen Erziehung betrieben wird, sei eine Form unnatürlicher Indoktrinierung—es gebe einfach biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Doch Miranda empfindet es eher so, dass sie ihr Kind von der Geschlechtsindoktrinierung befreit, die allen von der Gesellschaft aufgezwängt wird. „Es ist lächerlich zu behaupten, dass geschlechtsspezifisches Verhalten rein natürlich ist—es ist kulturell. Darstellungen von Männern und Frauen haben sich im Laufe der Geschichte so sehr gewandelt, und ich will mein Kind nur aus dieser vorgefertigten Form befreien. Die Leute sagen, ich würde mein Kind indoktrinieren, aber ich bin wirklich nicht diejenige, die hier indoktriniert.”

Lotta Rajalin | Foto von Gustav Mårtensson

Lotta Rajalin, die Gründerin und Direktorin von Egalia, sagt mir, sie habe viel Hass und Drohungen erhalten, als die Vorschule eröffnete. Anscheinend hat sich der Hass aber verflüchtigt: „Inzwischen gibt es eine lange Warteliste”, sagt sie.

Ich frage sie, ob sie glaubt, dass Egalia die Kinder auf das richtige Leben vorbereitet, und sie bejaht dies. „Die Welt ändert sich so schnell: Es gibt viele nicht-traditionelle Familien—viele Kinder werden in einer Familie mit zwei Vätern oder zwei Müttern groß—und selbst innerhalb traditioneller Familien verändern sich die Geschlechterrollen. Darauf bereiten wir sie vor.” Sie fügt hinzu, dass viele Leute glauben, es gebe in ihrer Vorschule keine Spielzeugautos. „Warum sollten wir denn keine Spielzeugautos haben? Wir schränken niemanden ein, sondern finden einen Weg, mit Autos zu spielen, der allen Spaß machen kann.”

Obwohl sie in Stockholm lebt, schickt Miranda ihr Kind nicht auf Lottas Vorschule. „Ich glaube, die Leute, die ihre Kinder zu Egalia schicken, brauchen Hilfe bei ihrer geschlechtsneutralen Erziehung. Mein Kind und ich sind umgeben von Leuten, die sich bereits als queer identifizieren. Abgesehen davon liegt die Vorschule in Södermalm—das ist eine gehobene, weiße Gegend. Ich will nicht, dass mein Kind in einer Umgebung aufwächst, die von weißen Menschen dominiert ist.” Auch habe sie die von ihr auserkorene Vorschule nicht gebeten, ihr Kind geschlechtsneutral zu behandeln: „Ich bin keine Utopistin, sondern will einfach nur wenigstens eine Umgebung bieten können, in der mein Kind sich frei von Geschlechterrollen fühlen kann.”

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Die Reaktionen auf geschlechtsneutrale Erziehung sind gemischt—laut Dani scheiden sich die Geister so ziemlich 50-50: „Manche Leute stimmen mir zu, aber andere in meinem Umfeld ignorieren es und kaufen Mathilda einfach immer weiter mädchenhafte Sachen.”

Miranda hat dagegen den Eindruck, anderen Eltern als Inspiration gedient zu haben: „Sie fangen oft an, sich zu fragen, warum sie das Geschlecht ihres Babys wissen wollten.” Laut ihr sind es meist die älteren Generationen, die sich schwertun, ihre Lebensweise zu akzeptieren. „Wenn ältere Menschen einem Kind ein Kompliment machen wollen, dann greifen sie dafür oft zu Geschlechterklischees. Sie sagen Sachen wie: ‚Du bist aber ein großer, starker Junge’ oder ‚Was bist du für eine süße kleine Prinzessin!’” Ihre Familie respektiert jedoch ihre Entscheidungen und versucht, nicht auf diese Art mit ihrem Kind zu sprechen. „Die Welt verändert sich und passt sich neuen Geschlechtervorstellungen an—sie braucht einfach nur ein bisschen Zeit, um aufzuholen”, sagt sie.