Beamen wir uns kurz zurück in das Jahr 2000. Österreich ist bereits seit fünf Jahren in der EU. Schwarz-Blau ist soeben auf das innenpolitische Parkett getreten. Die Wiener Regenbogenparade steht im Zeichen des Widerstands gegen die neue Regierung, von der sich Schwule und Lesben nicht viel erwarten dürfen. Wir schreiben den Beginn des 21. Jahrhunderts und noch immer ist in Österreich ein homophobes Sonderstrafgesetz in Kraft. Ein Beispiel: Gingen männliche Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren eine Beziehung mit einem 20-Jährigen ein, riskierte ihr Partner zwischen 6 Monaten und 5 Jahren Gefängnis.
So sah es der §209 vor, der unterschiedliche Mindestaltergrenzen für homosexuelle (18 Jahre) und heterosexuelle Beziehungen (14 Jahre) festlegte. Lesben wurden vom Gesetzgeber ausgeschlossen. Für sie galt keine höhere Altersgrenze. Für eine Generation von lesbischen Mädchen und Frauen war das von Vorteil, weil sie sich nicht strafbar machten, wenn sie sich in der Pubertät ausprobierten. Auf der anderen Seite ist es ein weiteres Indiz dafür, dass lesbische Beziehungen lange nicht ernst genommen wurden.
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§209 bezog sich also rein auf schwule Männer. Auch Mit- bzw. Beihilfstäter wurden bestraft. Als “Komplize” galt, wer Männern, die gegen §209 verstoßen, seine Wohnung oder sein Bett zur Verfügung stellte. Rückblickend erscheint ein solches Gesetz abstrus. Man beging ein Sexualverbrechen, wenn man eine Beziehung mit Altersunterschied führte.
Seit dem Einführen des Gesetzes im Jahr 1971 wurden laut der Homosexuellen Initiativen (HOSI) Wien über 1.000 Männer rechtskräftig verurteilt. In einem Kampagnen-Video von 1995 hört man einen jungen Mann sagen: “Mich hat es knapp vor den Selbstmord getrieben […] weil ich mir eingeredet habe, dass ich kein Recht hätte so zu leben.” Der letzte §209-Häftling stirbt zu Weihnachten 2002 in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsverbrecher. Trotz Aufhebung des Paragraphen hatte ein Wiener Gericht seine Freilassung verweigert.
Homosexualität war in Österreich bis 1971 strafbar.
Der §209 war das Ende einer Kette von Gesetzen, auf dessen Basis Homosexuelle verfolgt, diskriminiert und sogar getötet wurden. Dass schwule Männer in der NS-Zeit in Konzentrationslager eingeliefert wurden und dass auch lesbische Frauen in den Fokus von Justiz und Kriminalpolizei gerieten, ist bekannt. Dass Homosexualität bis 1971 in Österreich strafbar war und noch bis in die Neunzigerjahre Verbote vorherrschten – neben der Sonderaltersgrenze auch der Handel mit homosexueller Pornografie – scheint vergessen zu sein.
Schon damals gab es eine Verzögerungstaktik der ÖVP, FPÖ und der katholischen Kirche, die über Jahrzehnte Reformvorschläge verhinderten. So sagte Kanzler Wolfgang Schüssel 2002 zu den Salzburger Nachrichten, angesprochen auf die Tatsache, dass Österreich mit dem §209 Schlusslicht in Europa sei: “Wenn wir das letzte Land wären, wäre es mir auch gleich.”
Wo beginnt man eine Geschichte der Strafverfolgung von Schwulen und Lesben? Setzen wir bei Maria Theresia an. Das Strafgesetzbuch der österreichischen Herrscherin sah spezielle Strafen für Homosexuelle vor: Enthauptung und anschließende Verbrennung. Ihr Sohn, Joseph II. schaffte 1787 zwar die Todesstrafe ab, führte aber eine nicht minder grausame Methode ein: das Schiffziehen. Diese schrecklichen Foltermethoden kamen allerdings selten zur Anwendung. “Wir haben kaum Quellen einer echten Strafverfolgung vor der Aufklärung”, sagt Hannes Sulzenbacher vom Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte (QWIEN).
1852 reformierte Kaiser Franz Joseph einen Paragraphen, der lange bleiben sollte: §129Ib bestrafte die “Unzucht wider die Natur mit demselben Geschlecht” mit bis zu fünf Jahren schwerem Kerker. Infolge stieg die Strafverfolgung kontinuierlich an. Erst im Jahr 1971 wurde das Gesetz unter Bundeskanzler Bruno Kreisky abgeschafft. Ein weiteres, österreichisches Spezifikum: im Gegensatz zu Deutschland waren hierzulande auch lesbische Beziehungen bis in die Siebzigerjahre verboten.
Während des Nationalsozialismus wurde homosexuelles Leben “buchstäblich ausgelöscht”.
“Die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft auf das Leben von Lesben und Schwulen waren weitreichend”, schreibt die Autorin Ulrike Repnik in ihrem Buch “Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich”. Homosexuelles Leben sei “buchstäblich ausgelöscht worden”. Da Schwule und Lesben sich nicht fortpflanzten und damit nicht zur Reproduktion der “arischen Rasse” beitrugen, wurden sie von den Nationalsozialisten als “Volksfeinde” denunziert. Schwule Männer wurden in so genannten “Rosa Listen” polizeilich erfasst, in psychiatrische Anstalten überwiesen, kastriert oder in Konzentrationslager eingeliefert, wo sie den “Rosa Winkel” tragen mussten.
Im Gegensatz zu Deutschland, wo der §175 nur männliche Homosexualität unter Strafe stellte, konnten in Österreich während des Nationalsozialismus auch Lesben verhaftet werden. Das Zentrum QWIEN hat Strafakten aus der Nazi-Zeit archiviert. Darin finden sich Fälle von Frauen, die nicht nur wegen sexuellen Handlungen verurteilt wurden, sondern auch, weil sie sich Liebesbriefe geschrieben hatten. Männer wurden häufig an öffentlichen Orten wie Bädern oder Parks in flagranti erwischt. “Einmal in der Woche ging die Kripo in das Esterhàzybad, wo es zu sexuellen Handlungen zwischen Männern in der Dampfkammer kam”, erzählt Hannes Sulzenbacher von QWIEN. Die Polizeibeamten gingen undercover und trugen nur einen Lendenschurz. Eine ähnliche Szene für Frauen dürfte es nicht gegeben haben. Sexuelle Kontakte fanden meist im Privaten statt.
Das Zentrum QWIEN geht von ungefähr 1.400 Wienerinnen und Wienern aus, die während der NS-Zeit angeklagt wurden. Nur etwa fünf Prozent der Strafakten betreffen Frauen. Aber warum ist der Anteil so gering? Ulrike Repnik erklärt, dass Frauen nach nationalsozialistischer Ideologie keine eigene Sexualität zugestanden wurde. “Zudem wurde argumentiert, dass Frauen dadurch, dass sie nicht in Spitzenpositionen tätig seien, den Staat nicht gefährden würden”, so Repnik.
Die deutsche Historikerin Claudia Schoppmann argumentiert, dass der Nationalsozialismus von Anfang an als Männerbund konzipiert war. Außerdem, so der nationalsozialistische Gedankengang, könnten “verführte” Lesben ja trotzdem noch als Gebärende zur Verfügung stehen. Bis 2005 wurden homosexuelle KZ-Überlebende nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt.
Öffentliches Gutheißen von Homosexualität war bis 1997 strafbar.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der §129Ib. Wer während des Nationalsozialismus wegen gleichgeschlechtlicher “Unzucht” verurteilt worden war, musste seine Haft nach 1945 fortsetzen. Doch wurden in den Sechzigerjahren Stimmen laut, die eine Reform des Strafrechts zugunsten von Schwulen und Lesben forderten. So etwa der SPÖ-Justizminister Christian Broda. Ähnlich wie heute die Ehe für alle, entbrannte damals der §129Ib zum innenpolitischen Streitpunkt zwischen ÖVP und SPÖ. Die Volkspartei widersetzte sich der Reform Brodas und wurde dabei von der katholischen Kirche unterstützt. Als die SPÖ im Jahr 1971 die absolute Mehrheit erreichte, fiel im Rahmen der kleinen Strafrechtsreform das Totalverbot auf Homosexualität. “Österreich war zu diesem Zeitpunkt eines der letzten Länder in Europa, das an einem Verbot von weiblicher und männlicher Homosexualität festgehalten hatte”, schreibt Repnik. Im Zeitraum von 1950 bis 1971 waren ungefähr 13.000 Homosexuelle in Österreich verurteilt wurden, davon 95 Prozent Männer.
Als mit Kreisky und der SPÖ Alleinregierung der Paragraph fiel, wurden die katholischen Bischöfe von Sorgen geplagt. So befürchteten diese mit der Entkriminalisierung, dass Homosexualität “zur Mode” werden könnte. Um dies nicht so weit kommen zu lassen, schränkten in den Folgejahrzehnten Sondergesetze die Sichtbarkeit von Schwulen und Lesben ein. So stellte §210 schwule Prostitution (anders als heterosexuelle oder lesbische) unter Strafe. Das Gesetz wurde 1989 abgeschafft.
§220 sah ein Verbot der “Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht” vor. Öffentliches Gutheißen von Homosexualität war also strafbar. Das Gesetz blieb bis 1997. Darunter fielen auch lesbische und schwule Pornos. Diese galten als “harte Pornografie” und waren deswegen bis in die Neunzigerjahre verboten. Noch im Herbst 1998 wurden bei einer Hausdurchsuchung eines Sexshops in Graz 200 Videokassetten beschlagnahmt und der Inhaber zu einer Geldstrafe verurteilt. In Tirol und Vorarlberg war homosexuelle Pornografie bereits seit 1989 freigegeben, in Graz allerdings erst im Jahr 2000.
Der §220 betraf nicht nur Pornos, sondern auch Infokampagnen der LGBT-Community. Im Jahr 1988 erstattete der Wiener Stadtschulrat wegen §220 Anzeige gegen die HOSI-Wien. Diese hatten eine Infobroschüre herausgegeben, in der Schüler über eine ihrer Jugendgruppen informiert wurden. 1990 wurde eine Aids-Informationsbroschüre der Deutschen Aidshilfe eingezogen, weil sie sich an Schwule gerichtet hatte. Als Begründung für die Sondergesetze wurde (ähnlich wie heute in Russland) der Jugendschutz genannt.
In einer Nationalratssitzung im November 1996 verhinderten ÖVP und FPÖ eine erneute Aufhebung des §209 (Sonderaltersgrenze). In dieser Sitzung äußerte sich die ÖVP-Abgeordnete und spätere Finanzministerin Maria Fekter wie folgt: “Für uns ist der wünschenswerte Zustand die heterosexuelle Liebe. [….] Was ich auch nicht möchte, ist, dass wir als eines der tolerantesten Länder in Europa unter Umständen eine zu große homosexuelle Szene bekommen.” 2001 erklärt Kanzler Wolfgang Schüssel in einem NEWS-Interview: “Ich bin nicht bereit, den Kinder- und Jugendlichenschutz am Altar des Zeitgeistes zu opfern.”
Am Ende war es der Verfassungsgerichtshof, der 2002 eine Aufhebung des §209 durchrang, indem er dem Parlament eine Frist bis Februar 2003 setzte. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ungleichbehandlung von heterosexuellen und schwulen Beziehungen als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention eingestuft. Spät aber doch hat Österreich die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen abgeschafft.
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Header: Vinayak Das | Flickr | CC BY 2.0