Wenn der Bruder oder die Schwester Suizid begeht

Was Sarah* an ihrer Schwester Jessica am meisten mochte, war deren Größe. “Weil sie 1,80 Meter groß war, wollte sich niemand mir ihr anlegen”, sagt sie. “Obwohl Jessica meine kleine Schwester war, hat sie immer auf mich aufgepasst. Mit ihr zusammen habe ich mich viel selbstsicherer gefühlt.” Vor vier Jahren beging Jessica Suizid, sie war schwer abhängig von Medikamenten, hatte lange gegen die Sucht gekämpft. Sie wurde nur 22.

“Ich hasse dich und wünschte, du wärst tot.” Das waren die letzten Worte, die Sarah zu ihrer Schwester gesagt hat. Wie bei den meisten Geschwistern gab es auch in der Beziehung zwischen den beiden jungen Frauen gute und schlechte Zeiten. Diesen Satz ausgesprochen zu haben, schmerzte Sarah, sie hatte Schuldgefühle, entwickelte eine Depressionen und verbrachte Monate im Bett. Ihr Vater weinte jeden Morgen und ihre Mutter litt an wiederkehrenden Albträumen. Das mitansehen zu müssen, verschlimmerte Sarahs Trauma nur noch weiter.

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Sarah hat bis heute Probleme damit, ins Haus ihrer Familie zurückzukehren, Jessicas Sachen liegen dort immer noch verstreut herum. Manchmal stellt sie sich die letzten Sekunden des Lebens ihrer Schwester vor. “Ich habe meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft verloren”, sagt sie.


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Jan-Louise Godfrey ist Psychologin und Expertin für Trauerfälle bei Kindern. Sie ist davon überzeugt, dass es ein großes Risiko für die psychische Gesundheit darstellt, wenn die Trauer eines Menschen von der Gesellschaft nicht wahrgenommen wird. Das gelte vor allem bei Menschen, die sich mit dem Tod ihrer Schwester oder ihres Bruders auseinandersetzen müssen. Der Grund: Während es für die Eltern toter Menschen entsprechende Hilfe und Unterstützung gibt, existierten für Geschwistern nur wenige Angebote.

Zudem neigten Geschwister dazu, ihre Trauer zu unterdrücken, um die traumatischen Gefühle der Eltern zu minimieren, sagt Godfrey. Dieser Widerwille, die eigenen Empfindungen zuzulassen, könne den Trauerprozess hemmen, die Geschehnisse seien so nur schwer zu verarbeiten.

Bronwen Edwards, die Gründerin der Suizid-Präventionsgruppe Roses in the Ocean, erlebte genau das im Jahr 2008, als sich ihr 43-jähriger Bruder suizidierte. “Geschwister werden nicht unterstützt”, sagt Edwards. “Niemand hat uns auf dem Schirm. Zwar gibt es tolle Selbsthilfegruppen wie StandBy Response, aber die sind nicht überall.”

Der Tod ihres Bruders veränderte nicht nur Kerris Beziehung zum Essen, sondern auch die Struktur ihrer Familie.

Ohne Ventil oder organisierte Hilfe kann das Trauma beim Verlust einer Schwester oder eines Bruders noch schlimmer ausfallen. Viele Geschwister, die so etwas erleben mussten, berichten von Angstzuständen, Depressionen und Essstörungen. Zwar könne bei ihnen laut Godfrey schon vorher eine gewisse Grundlage für solche psychischen Krankheiten existieren. Aber ihre Forschungen zeigten, dass das Trauma des Verlusts einer Schwester oder eines Bruders mit höheren Raten dieser Krankheiten korreliere.

So erging es auch Kerri, die 18 Jahre alt war, als ihr Bruder Joseph Suizid beging. Die inzwischen 25-Jährige sagt, dass sie ihre Trauer damals ignoriert habe, um sich um ihren Vater kümmern zu können. Der sei ihrer Meinung nach damals ebenfalls suizidgefährdet gewesen. Zwischen Aussagen ihres Vaters wie “Ich halte es nicht mehr aus” und “Ich will nichts essen” gingen Kerris eigene Gefühle verloren. Sie unterdrückte ihre eigenen Emotionen und entwickelte schließlich eine Essstörung. Das Gewicht der jungen Frau fiel von 90 auf 43 Kilogramm.

“Ich landete im Krankenhaus, weil mich meine Anorexie umbrachte”, erzählt Kerri. “Ich hing zwei Wochen lang an Maschinen und musste mich anschließend zwei Monate in einem betreuten Wohnheim behandeln lassen.”

Der Tod ihres Bruders veränderte nicht nur Kerris Beziehung zum Essen, sondern auch die Struktur ihrer Familie. Im Grunde übernahm sie die Obhut für ihren Vater, weil es ihre Mutter zu Hause nicht mehr aushielt und sie ständig mit Freunden unterwegs war. Ihr Vater hingegen wollte nur alleine sein.

“Plötzlich muss sich das Kind um die Eltern kümmern, weil die mit der Situation nicht fertig werden.”

Die Psychologin Liz Adams hat vor Kurzem eine Doktorarbeit darüber geschrieben, welchen Einfluss Suizide auf Familien haben. Zu diesem Thema fand auch sie über eine persönliche Erfahrung: Ihr Sohn Peter hatte sich 2001 mit 16 Jahren suizidiert. Adams weiß, wie sich das Vakuum auf die Dynamik einer Familie auswirkt, das durch einen Suizid entsteht. Eltern können nach dem Tod eines ihrer Kinder dazu neigen, übereifrig auf ihre anderen Kinder aufzupassen. Oder sie ziehen sich komplett zurück: “Plötzlich muss sich das Kind um die Eltern kümmern, weil die mit der Situation nicht fertig werden”, sagt sie. “Man geht einfach davon aus, dass das Kind widerstandsfähiger ist.”

Teilweise zerstört diese Erfahrung eine Familie auch komplett: Eine Studie unterschiedlicher schwedische Forscher aus dem Jahr 2011 mit 11 Millionen Teilnehmern hat ergeben, dass der Suizid eines Kindes es wahrscheinlicher macht, dass ein Elternteil selbst Suizid begeht.

Die gesammelten Daten zeigen außerdem, dass das Suizidrisiko bei Menschen, deren Brüder oder Schwestern Suizid begangen haben, dreimal höher ist als normal. Grund dafür sind das “genetische Risiko” und “geteilte äußerliche Faktoren” wie die Familien- oder die Wohnsituation.

Viele Menschen verlieren mit der Schwester oder dem Bruder auch einen Teil ihrer eigenen Identität.

Diese traumatischen Erfahrungen könnten auch langfristig der Entwicklung der Geschwister schaden. Godfrey nennt drei grundlegende Bereiche, die bei jungen Menschen betroffen sein können: die eigene Unabhängigkeit, die Entstehung von romantischen Beziehungen und der Karriereweg.

“Wir haben herausgefunden, dass Teenager, deren Geschwister Suizid begangen haben, erst später von zu Hause ausziehen und ins Erwachsenendasein übergehen”, sagt die Psychologin. Das liege daran, dass sich diese Teenager verpflichtet fühlten, für die Eltern da zu sein. Wenn sie deswegen weniger Zeit für normale Aktivitäten mit Freunden und neue Beziehungen haben, dann könne sich das später negativ auswirken.

Viele Menschen verlieren mit der Schwester oder dem Bruder auch einen Teil ihrer eigenen Identität. 2007 brachte sich der Bruder von Jolene um. Heute sagt sie, dass sie sich selbst verlieren würde, wenn sie gemeinsame Gespräche und den Klang seiner Stimme und seines Lachens jemals vergesse.

“Verschiedene Therapiekombinationen haben mich durch die härtesten Phasen der Trauer gebracht”, erzählt Jolene. Neben einer Therapie empfiehlt sie in einem solchen Fall aber auch zu weinen, zu schreien und sich selbst zu verzeihen. “Man braucht etwas, das Kraft gibt und ablenkt”, sagt sie. “Man darf keine Angst davor haben, mit seinen Gedanken alleine zu sein. Genau diese Gedanken muss man zulassen und verarbeiten. Auch wenn es schmerzt, irgendwann geht es auf jeden Fall vorbei.”

*Alle Namen geändert, um die Privatsphäre zu schützen

Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Agus Hilfe.

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