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"1800 netto für Merkels Gäste": Neonazis hetzen mit Altpapier gegen siebenköpfige Familie

Die Deutschen und ihr Müll – eine ganz besondere Beziehung. Das musste auch der 18-jährige Darwish N. erfahren. Anhand seiner Geschichte zeigt sich, wie ein virales Gerücht über Flüchtlinge entsteht.
Screenshot von Facebook: Motherboard (Schwärzungen von Motherboard)

"ICH KOCHE ÜBER VOR WUT", brüllt es aus Neonazi-Gruppen auf Facebook, "Asylantenfamilie kassiert mächtig ab", urteilt ein rechtsradikales Forum, und der rechte Blog "Das Erwachen der Valkyrjar" munkelt: "Selbst die selbsternannten Faktenchecker von Mimikama können keine Anzeichen für eine Fälschung erkennen".

Der Stein des Anstoßes ist diesmal ein kleiner, halb zerfetzter Zettel. Es ist ein Kontoauszug, den der 18-jährige Darwish N. für seinen Vater abgeholt und ordnungsgemäß in der Sparkasse Donauwörth in den Papierkorb geworfen hatte.

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Ein "Riesenfehler", befindet die Münchner Zeitung tz. Denn Darwish hatte die Rechnung ohne einen wachsamen Mitbürger mit Wut im Bauch und zu viel Zeit gemacht. Dieser machte sich die Mühe, den zerknitterten Kontoauszug kurzerhand aus dem Müll zu mopsen und ließ die ganze Welt daran teilhaben, was Menschen wie Darwish finanztechnisch so anstellen.

Und wer hätte es gedacht; tatsächlich schien der Hobbydetektiv auf Anhieb auf einen handfesten Skandal gestoßen zu sein. Denn auf dem Kontoauszug stand es schließlich schwarz auf weiß: "Asylleistungen" an einen Fazil N. – 1.780,35 €! Und dann noch eine Gutschrift von der bayerischen Gemeinde Daiting über 77,20 €.

Ein Foto des Kontoauszugs wird seitdem in den vergangenen zwei Wochen in Sozialen Medien herumgereicht – als vermeintlicher Beweis, wie skandalös gut es Asylbewerbern in Deutschland ginge. Unter politischen Facebook-Diskussionen in Deutschland taucht die ominöse Behauptung von wahlweise 1700 oder "1800 Euro für jeden von Merkels Gästen" seitdem immer wieder auf und schraubt die allgemeine Empörung in ungeahnte Höhen.

Einer der vielen Kommentare, die auf Facebook mit der mysteriösen Zahl Stimmung machen | Screenshot: Facebook.

"Manchmal wünsche ich mir, unsere Polizei wär so fix auf Draht wie die türkische, die nach ein paar Stunden schon alle Verräter einkassiert hat", heißt es zum Beispiel in einem ansonsten recht unpolitischen Forum, das Geldspar-Tipps austauscht.

Keine Fälschung, trotzdem ist die Geschichte eine Ente

Was steckt also dahinter? Zwar ist das Ganze tatsächlich keine Fälschung, aber trotzdem eine Ente. Das zuständige Landratsamt Donau-Ries stellt klar: Die 1.780,35 € sind die Gesamtleistungen für eine siebenköpfige Familie. Und die 77,20 € Gutschrift von der Gemeinde sind das "Gehalt" von Darwishs Vater Fazil, der 30 Stunden pro Woche auf dem Bauhof der Gemeinde arbeitet. Für einen Stundenlohn von 80 Cent.

"Viele Leute haben schlechte Kommentare geschrieben und verstehen nicht, warum die Ausländer so viel Geld haben", erzählt Darwish dem Radiosender RT1 bei einem Hausbesuch. "Aber die wissen nicht, dass wir sieben Personen sind."

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Die Familie ist 2015 aus Afghanistan ins bayrische 750-Seelen-Nest Daiting gekommen, wohnt in einem alten Haus in der Ortsmitte und ist dort unter den Nachbarn beliebt. "Das ist eine nette Familie", ärgert sich der Bürgermeister des Orts über die Hetze im Netz – der Vater habe arbeiten wollen, seit er hier ankam, aber durfte das nicht. "Er half dann Nachbarn beim Holz machen", wird er in der tz zitiert.

Natürlich bekommen Flüchtlinge nicht mehr als andere Hartz-IV-Empfänger an staatlichen Leistungen, im Gegenteil: Das Kindergeld wird häufig mit den Leistungen verrechnet und abgezogen. Erst nach 15 Monaten Aufenthaltsdauer haben Asylbewerber überhaupt erst Anspruch auf Leistungen in Höhe von Hartz IV. Davor gibt es – zum Beispiel in Erstaufnahmeeinrichtungen – nur Sachleistungen. Wohnen die Asylbewerber in einer Gemeinschaftsunterkunft, zahlen die Behörden für einen Single im Heim im Monat gerade mal 299 Euro. Fazils Familie hat zwar eine eigene Wohnung, aber muss mit rund 250 Euro pro Person auskommen.

Nach der Hetze geht die Schikane weiter: Rechte bestellen Waren über die geklauten Kontodaten

Als wären die Anfeindungen nicht schon belastend genug, muss die Familie sich jetzt auch noch mit Cybercrime herumschlagen. Denn das Foto vom geklauten Kontoauszug landete komplett mit Adressen und Namen des Empfängers sowie BIC und IBAN im Netz. Unbekannte haben daraufhin auf den Namen der Familie groß im Internet eingekauft und wollten sie per Nachnahme bezahlen lassen.

Die Familie musste nun ihr Konto wechseln. Und das Landratsamt meldete die Geschichte der Polizei, die nun wegen der Veröffentlichung und der unerlaubten Verwendung persönlicher Daten ermittelt.

Interessant ist die Reise der Nachricht durchs Internet: Denn nachdem die Verifizierungplattform Mimikama berichtete, dass der Kontoauszug vermutlich echt sei, aber es unmöglich sei, ohne Abrechnung auf die Anzahl der Personen zu schließen, die von diesem Betrag leben müssen (es können zum Beispiel Sonderzahlungen wie Arztbesuche anfallen, Kindergeld verrechnet werden etc.), drehten rechte Blogs die Sache folgendermaßen: "Keine Fälschung!? Kontoauszug mit 1780,35 € für Asylbewerber".

Nachdem ein Blog namens Opposition24.com den vermeintlichen Aufreger am 21. August online stellt, wird die Fake News rasend schnell kopiert und erscheint auf News-Schleudern wie "Ad Hoc News", alt- und neurechten Blogs und Verschwörungs-Websites ungeprüft – in der Regel wird der Inhalt innerhalb von 48 Stunden 1:1 übernommen.

Facebook hat die betreffenden Empörungsposts mittlerweile gelöscht, allerdings kursieren Versionen des Bildes noch immer auf rund einem Dutzend rechter Websites. Trotzdem erhält die Familie von Polizei, Landratsamt und nicht zuletzt ihren Nachbarn Unterstützung, so dass zu hoffen ist, dass sie bald wieder ungestört weiterleben kann. Darwish beginnt demnächst ein Praktikum als Arzthelfer.