Politik

Um die Bevölkerung zu schützen: Armenien will Bergkarabach aufgeben

Ein jahrzehntelanger Streit mit Aserbaidschan könnte bald ein Ende finden – womöglich zum Ärger vieler Armenier.
Zwei armenische Soldaten mit Sturmgewehren stehen vor einer Absperrung im Latschin-Korridor
Imago: ITAR-TASS | Armenische Soldaten an einer Absperrung im Latschin-Korridor

In einer isolierten Kaukasusregion schwelt seit Generationen ein Konflikt, der jetzt ein überraschendes Ende nehmen könnte. Zwischen Armenien und Aserbaidschan liegt Bergkarabach, ein kleines Gebiet, um das sich die beiden Länder seit 1918 immer wieder streiten. In der Region leben vorwiegend Armenier, die dort ihren eigenen Staat gegründet haben: Arzach. Aserbaidschan hingegen beansprucht die Region für sich – ein Anspruch, den viele Bewohner und Armenier auf der ganzen Welt vehement ablehnen. Trotzdem gibt die armenische Regierung nun 100 Jahre nach dem Ausbruch des Konflikts auf; sie würde die Region unter bestimmten Umständen als Teil Aserbaidschans anerkennen. Warum?

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Mehrere russische Medien zitieren Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan, der Aserbaidschan am vergangenen Montag einen Vorschlag unterbreitet haben soll: Ihr bekommt Bergkarabach, wir bekommen die garantierte Sicherheit in Bergkarabach. 

Die Bevölkerung in Bergkarabach leidet seit Jahrzehnten

Für viele Menschen in Armenien dürfte dieses Ende nur schwer zu akzeptieren sein. Schätzungsweise 40.000 Menschen sollen im Zuge der Kriege um Bergkarabach allein seit 1988 getötet worden sein. Aber Aserbaidschan fand in der Vergangenheit auch andere Wege, um die Bevölkerung von Bergkarabach anzugreifen: 

Bergkarabach ist von allen Seiten eingeschlossen und für Armenien nur über den sogenannten Latschin-Korridor erreichbar. Durch diesen Korridor führte bis 2017 die einzige asphaltierte Straße von Armenien nach Stepanakert, der Hauptstadt Arzachs. Dementsprechend war und ist dieser Korridor strategisch von hoher Bedeutung für beide Länder. Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan eben jenen Korridor, wodurch 120.000 Menschen in Bergkarabach nicht mehr mit dem Nötigsten wie Nahrungsmitteln oder Medikamenten versorgt werden können. VICE berichtete ausführlich über die Missstände. Der internationale Gerichtshof in Den Haag forderte Aserbaidschan sogar ausdrücklich dazu auf, die Blockade des Korridors aufzulösen. Diese Forderung ignoriert Aserbaidschan aber bis heute. Die Folgen einer solchen Abriegelung sind und waren für die Bevölkerung in Bergkarabach nur schwer zu ertragen. Das wirtschaftlich und militärisch schwächere Armenien kann sich gegen solche Angriffe natürlich kaum verteidigen. 

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Wird jetzt wirklich Frieden in Bergkarabach einkehren?

Aber was sagen eigentlich die Armenier selbst zu dem Vorschlag ihres Premierministers?  Wir rufen Georgi Ambarzumjan an. Er stammt aus Armenien, arbeitet in Deutschland als Rechtsanwalt und setzt sich als Präsident der deutschen Geschäftsstelle der weltweit größten armenischen Wohltätigkeitsorganisation AGBU, der Armenian General Benevolent Union, für die Interessen von armenischen Menschen ein. Er findet das Angebot des armenischen Premierministers kurz gesagt fatal. 

"Die vergangenen Taten von Aserbaidschan deuten absolut nicht darauf hin, dass Frieden einkehren wird, wenn Arzach als aserbaidschanisches Territorium anerkannt wird", sagt Ambarzumjan. Aserbaidschan wolle nicht nur Bergkarabach beanspruchen, sondern auch andere Gebiete mitten in Armenien. "Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev findet sogar, dass die armenische Hauptstadt Jerewan aserbaidschanisch sein sollte. Je mehr Aserbaidschan fordert, und je mehr Armenien nachgegeben wird, desto mehr will Aserbaidschan haben. Diktatoren werden leider nicht so schnell satt." Ambarzumjan betont, dass es Aserbaidschan nicht nur um Land gehe, sondern auch um das Auslöschen jeglicher armenischer Existenz: "Aserbaidschan wird erst aufhören, Armenier anzugreifen, wenn der Südkaukasus 'armenierfrei' ist."

Ambarzumjan vermutet, dass der Großteil des armenischen Volkes die Region Bergkarabach niemals aufgeben würde. "Die Menschen in Arzach haben ihr Recht auf Selbstbestimmung auf Grundlage der Gesetzeslage von 1991 und des Völkerrechts ausgeübt." Damals hatte die Region Bergkarabach nach dem Ende der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erklärt. 

Ob diese Sichtweise auch vor internationalen Gerichten standhalten würde, ist fraglich. Die Republik Arzach ist kein UN-Mitglied und wurde bislang nur von einigen US-Bundesstaaten und europäischen Städten anerkannt. Am Ende könnte sich der armenische Premierminister also durchsetzen – gegen den Willen seines Volkes.

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