Prinzessin Helin, Prinzessin Amira und ich schunkeln Arm in Arm, während die Kölschrock-Band Kasalla ihre Zugabe spielt: “Kumm un sing mich noh Hus, saach mir, dat et all jot weed am Schluss.” Also: “Komm und sing mich nach Hause, sag mir, dass alles gut wird am Schluss.” Amira hat Tränen in den Augen. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und flüstert: “Ich will nach Hause. Ich will zu meiner Familie.”
Ich bin Amira zuvor nie begegnet. Zwar macht man im Kölner Karneval schnell neue Bekanntschaften, doch unser Zusammentreffen ist selbst für die jecken Karnevalstage außergewöhnlich. Denn die Karnevalssitzung, auf der ich gemeinsam mit Amira und ihren Freundinnen vier Stunden lang singe, tanze, lache und weine, findet hinter der fünf Meter hohen Mauer der Justizvollzugsanstalt (JVA) Köln statt. Amira ist eine von rund 250 inhaftierten Frauen in Köln. Als sie das Heimweh plagt, rücken Amira, Helin und ich fest zusammen.
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Amira und Helin sind beide Anfang 20 und heißen eigentlich anders. Aber um die Resozialisierung der inhaftierten Frauen nicht zu gefährden, dürfen wir ihre Namen nicht veröffentlichen, die Justizvollzugsbeamten verweisen auf ihre Fürsorgepflicht. Interviews darf ich mit den inhaftierten Frauen deshalb auch nur im Beisein eines Vollzugsbeamten führen. Und auch nur die Frauen in den ersten beiden Reihen des mit rot-weißen Luftballons geschmückten Kinosaals der JVA dürfen fotografiert werden.
Karneval im Knast – oder: Feiern ist ein Menschenrecht
Das Festkomitee Kölner Karneval lädt bereits seit 2003 zur “Mädchensitzung” hinter Gittern ein, einer Karnevalssitzung ausschließlich für die Frauen der JVA Köln. Als Karnevalserprobte Rheinländerin will ich wissen, wie es ist, die “fünfte Jahreszeit” im Gefängnis zu feiern. Deshalb tanze ich in der JVA Köln mit meinen gelben Bienenflügeln zwischen Prinzessinnen, Raubkatzen, dem Joker und Harley Quinn. Und ich will herausfinden, wie die Karnevalssitzung bei den inhaftierten Frauen ankommt und welche Sorgen und Sehnsüchte sie haben. Auf der Tanzfläche spricht mich Prinzessin Helin zum ersten Mal an:
“In welchem Haus bist du?”, fragt sie, während wir tanzen.
“Ich bin nicht inhaftiert, ich bin von der Presse”, antworte ich.
Helin lacht: “Ach so. Das habe ich gar nicht gecheckt. Ist fast wie in einem Club hier, oder?”
“Wie auf den Kölner Ringen”, scherze ich. Helin packt mich am Arm und lacht.
In den Clubs auf den “Kölner Ringen” habe ich schon oft gefeiert, auch an Karneval habe ich mich bereits auf die Partymeile verirrt. In einer Justizvollzugsanstalt feiere ich zum ersten Mal Karneval. Das Bühnenprogramm kann sich sehen lassen: ein Tanzkorps, fünf Bands, darunter die Höhner und Kasalla, und sogar der Kölner Prinz Karneval Sascha I. feiert samt Prinzengarde und Bauer Werner Karneval hinter Gittern. Während der Kölner Karnevalstage wachen der Prinz, der Bauer und die Jungfrau (das sogenannte Dreigestirn) über das Volk und sorgen mit ihren Auftritten regelmäßig für Euphorie. Für das Bühnenprogramm ist das Festkomitee Kölner Karneval verantwortlich, die JVA Köln stellt Technik und Catering. Die vielen bunten Kostüme der Inhaftierten sind Spenden des Festkomitees, rund 90 Frauen feiern in diesem Jahr mit.
Helin ist eine von insgesamt sechs inhaftierten Prinzessinnen, die samt Strassstein-Krönchen in der ersten Reihe tanzen und für ordentlich Stimmung sorgen. “Boah, ist das schön heute, die Party macht voll Spaß”, sagt Helin. Die sechs Prinzessinnen haben ihren rosa-pinken Satinkleidern zusätzliche Seitenschlitze verpasst, um mehr Haut zu zeigen, ihre Haare haben sie aufwändig frisiert. Kein Wunder. Die Prinzessinnen arbeiten alle als Friseurinnen in der rund elf Hektar großen Anstalt im Kölner Stadtteil Ossendorf, der flächenmäßig größten der insgesamt 36 Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen.
Ich tanze mit Helin Hand in Hand, als sie feststellt, dass meine Hände kalt sind. “Hast du nichts gegessen?”, fragt sie mich wie eine fürsorgliche Schwester. Sie will einen mit Puderzucker überzogenen Berliner mit mir teilen, die kistenweise für die inhaftierten Frauen als Proviant bereitstehen. Zu trinken gibt es für die Gefangenen stilles Wasser in bruchsicheren 0,5-Liter-Tetrapacks. Karneval ohne Kölsch? Untypisch. “Alkohol wäre geil”, sagt eine der inhaftierten Frauen, eine zweite lacht und nickt zustimmend. Aber die Stimmung ist auch ohne Alkohol heiter und ausgelassen. Viele Frauen betreten den Saal bereits tanzend. DJ Jörg Grewe, der zum siebten Mal für die Frauen in der JVA Köln auflegt, begrüßt sie mit einem sympathischen “Haaallooo Laaadies”, die Ladies lachen und winken.
Die JVA Köln hat 1.200 Haftplätze, davon 350 Plätze nur für Frauen. In Deutschland sind im Jahr 2023 rund 41.600 Männer und 2.590 Frauen inhaftiert, der Frauenanteil in deutschen Justizvollzugsanstalten beträgt damit bundesweit rund 5,8 Prozent. Im Jahr 2022 saßen mehr als die Hälfte aller weiblichen Gefangenen wegen Diebstahl und Unterschlagung sowie Betrug und Untreue in Haft.
Der Strafvollzug soll Gefangenen helfen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Das Ziel des Strafvollzugs ist also die Resozialisierung der Inhaftierten, nicht Vergeltung oder Sühne. Dass dazu auch eine Karnevalsfeier hinter Gittern gehören kann, leuchtet womöglich nicht jedem ein. Christoph Kuckelkorn, Präsident des Festkomitees Kölner Karneval, verteidigt die Veranstaltung. Für ihn sei die Feier in Haft eine der wichtigsten Termine der Kölner Karnevalssession. Der Anspruch sei, Karneval auch an Orten zu feiern, wo er normalerweise nicht stattfindet, und den Inhaftierten für einige Stunden Unbeschwertheit und eine Auszeit aus dem Haftalltag zu ermöglichen.
Zur “Mädchensitzung” sind zwar nur inhaftierte Frauen eingeladen, trotzdem feiert eine Handvoll männlicher Insassen als Piraten verkleidet an der Seite der Frauen mit. Die Männer sind Teil der sogenannten Kölner-Freizeit-Truppe (KFT) der JVA Köln, in der männliche und weibliche Inhaftierte gemeinsam Freizeitaktivitäten planen und durchführen. Die KFT kümmert sich um die Deko der Karnevalsfeier, verteilt Wasser und Süßes und macht Fotos von der Party. Einer der Piraten trägt eine bunte Satinweste samt blauem Papagei im Dekolleté und sorgt mit seinen nackten, durchtrainierten Armen für offene Münder bei den Prinzessinnen. Der Pirat schaut mich an und hebt seinen Arm, ich hake mich ein und schunkel mit. Aber es dauert keine Minute, bis Helin sich zwischen mich und den Piraten einhakt und anfängt zu kichern. Ich kichere auch. Es fühlt sich an, als wäre ich mit einer langjährigen Freundin op jück – auf der Jagd nach einem Karnevalsflirt.
Neben uns feiert Lena, eine weitere Prinzessin, mit ihrer als Clown verkleideten Freundin Esra. Unbeeindruckt von den anwesenden Männern springen sie pausenlos vor der Bühne herum und singen jedes kölsche Karnevalslied textsicher mit. Ich tanze mit den beiden, uns tropfen Schweißperlen die Stirn herunter. “Du bist voll hübsch”, sagt Prinzessin Lena zu mir. “Und man kann mit dir voll abgehen.” Esra nickt, während sie in ihrem Clownskostüm aus bunten Pailletten weitertanzt und mich mit ihren rot bemalten Lippen anlächelt. Um die zwei Frauen besser kennenzulernen, schlage ich vor, dass wir einen Beamten suchen, der unser Gespräch begleitet. Beide sind einverstanden.
Der Haftalltag dringt immer durch
In einem von Zigarettenrauch vernebelten Hinterraum des Kinosaals nehmen Lena, Esra und ich an einem alten Holztisch Platz. Für eine Kippenlänge mal eben vor die Tür zu gehen, scheint selbst für die Beamten der JVA Köln kein einfaches Unterfangen zu sein, sodass die provisorisch eingerichtete Küche eher einer Flughafen-Smoker-Lounge gleicht. “Herr Strack, schmeißen Sie doch mal bitte eine Runde Kippen”, sagt die 33-jährige Lena und lacht laut. Ich muss auch lachen. Zwei Kippen fliegen in die Hände von Lena und Esra, die zufrieden grinsen und sich bei Herrn Strack höflich bedanken.
Lena sitzt seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft. Sie erzählt von einer neuen Regel, die viele Gefangene nerve. Besucher können während der Besuchszeit keinen Tabak mehr an Automaten kaufen. Das sei aber eine große finanzielle Entlastung gewesen. “Tabak war auch das Hauptthema unserer letzten GMV-Sitzung”, sagt Lena. GMV steht für Gefangenenmitvertretung, einem runden Tisch aus insgesamt 17 Inhaftierten, einem gewählten Vertreter pro Hafthaus: sechs aus den Hafthäusern für Frauen und elf aus den Häusern für Männer. Einmal pro Monat diskutieren die Inhaftierten mit einem Vertreter der Vollzugsbeamten der JVA Köln über Themen, die ihnen im Haftalltag wichtig sind. Und sie berichten dem Beamten, was in den Häusern schiefläuft. Lena moderiert die Sitzungen der GMV. “Mal geht was durch, aber das ist eher die Ausnahme”, sagt Lena.
Ein weiteres Thema, das für viel Unzufriedenheit unter den Gefangenen sorgt, ist die Einkaufsliste für den Hauseinkauf. Sowohl Frauen als auch Männer fordern frisches Fleisch zum Kochen. Es gebe aber oft nur Fleisch in Konservendosen. “Und wir Frauen wollen vernünftige Schminkkoffer, ein paar geile Lidschattenfarben”, sagt Lena. Ein Hafthaus der Männer wollte Sexpuppen. Die GMV-Moderatorin habe den Vorschlag von der Tagesordnung gestrichen, sagt sie. Es gebe wichtigere Dinge. Dann, während nebenan die Party weiter tobt, erzählen mir Lena und Esra von Mängeln in den Hafthäusern, von defekten Aufzügen und kaputten Lichtern in den Duschräumen. Die Liste der Beschwerden ist lang. Wegen Personalmangels finde auch Sport häufig nur unregelmäßig statt. “Aber wir haben coole Beamte, man kann locker miteinander sprechen”, sagt Lena.
Ich frage mich zwar, wie frei Lena sprechen kann, während ein Beamter zuhört, aber der lockere Umgang zwischen den Inhaftierten und Beamten ist mir auch schon aufgefallen. Ab und zu tanzt der Sport- und Freizeitkoordinator der JVA Köln, Frank Prösdorf, zwischen den Prinzessinnen in der ersten Reihe mit. Und wenn Beamte mit den Inhaftierten scherzen, dann auf Augenhöhe – zumindest war das mein Eindruck während meiner vier kurzen Stunden hinter Gittern. “Wenn ich etwas auf dem Herzen habe, gehe ich lieber zu einem Beamten meines Vertrauens, anstatt wochenlang auf einen Psychologen zu warten”, sagt Esra.
Der Bedarf an psychologischer Betreuung für inhaftierte Frauen ist hoch. Sie sind häufig von Drogenabhängigkeit, psychischen Problemen und Suizid betroffen. So sind in Deutschland 40 Prozent der weiblichen Gefangenen drogenabhängig, ein einheitlicher Umgang mit suchtkranken Inhaftierten existiert jedoch nicht. Ausreichend Plätze für Substitutionstherapien gibt es nur selten, bedarfsdeckende Suchtberatungen fehlen bundesweit. Inhaftierte Frauen haben häufig eine Lebensgeschichte, die von Gewalterfahrungen und sexuellem Missbrauch geprägt ist. Deshalb haben sie ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Die Suizidrate bei weiblichen Gefangenen in Deutschland ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das 8,7-fache höher. In Haft gibt es auch Herausforderungen, die speziell Frauen betreffen, zum Beispiel im Umgang mit Schwangeren oder Frauen mit Kleinkindern.
Die 27-jährige Esra ist Mutter eines vierjährigen Sohns. Einmal pro Woche telefonieren sie miteinander. Sie und die anderen Frauen dürfen dreimal pro Monat für jeweils 45 Minuten Besuch empfangen. Ihren Sohn sieht Esra aber meist nur zweimal im Monat, der Kindsvater sei zuverlässig, habe es als Alleinerziehender aber schwer. Esra ist seit einem Jahr und sechs Monaten in geschlossener Strafhaft, in acht Monaten wird sie entlassen. Auf eine frühzeitige Entlassung habe sie verzichtet, weil sie gerade ihr Fachabitur mache. “Ich will für mich und meinen Kleinen die Schule durchziehen”, sagt sie. Als Esra inhaftiert wurde, habe sie keinen Schulabschluss in der Tasche gehabt, bereits nach der siebten Klasse sei sie von der Schule abgegangen. In der JVA Köln habe die junge Mutter ihren Haupt- und Realschulabschluss nachgeholt, in jeweils rund sechs Monaten. “Ich habe in Haft eine 180-Grad-Drehung gemacht”, sagt Esra.
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Lena zieht an ihrer Kippe und reflektiert ihre Zeit hinter Gittern: “Der Knast hat mir gutgetan, aber ich bin froh, wenn ich hier raus bin. Ich habe in den ersten Wochen viel geweint, die erste Zeit war schrecklich.” Im Hintergrund kündigt die Moderatorin Nathalie Bergdoll gerade den letzten Act des Abends an: Die kölsche Kultband Höhner. Lena und Esra drücken hektisch ihre Kippen aus und schauen mich mit großen Augen an. Ich rufe laut “Go” und die zwei Frauen verschwinden im Nebel aus Rauch in Richtung Bühne.
Ich hätte am liebsten noch stundenlang mit Lena und Esra geschnackt und gefeiert. Nicht nur, weil sie mich so herzlich aufgenommen haben, sondern weil sie mir auch abseits der Karnevalsfeier einen Einblick in ihren Haftalltag gegeben haben. Für manche Außenstehende mag eine Karnevalsfeier für Inhaftierte nach überflüssigem Unsinn klingen. Aber ich habe mit Frauen gefeiert, die den Karneval auch zum Anlass nehmen, um zu reflektieren, welche Freiheiten sie nicht mehr haben und warum es so weit gekommen ist.
Was sich im deutschen Strafvollzug ändern muss
Diese Karnevalsfeier könnte nicht nur für die Frauen hinter Gittern ein Anlass sein, sich kritisch zu hinterfragen. Auch abseits der Gefängnismauer müssen wir uns damit befassen, warum wir strafen und vor allem wie wir das tun. Noch immer dominieren Rufe nach härteren und längeren Haftstrafen die öffentlichen Diskussionen zum Strafvollzug. Forderungen nach effektiven Maßnahmen, die dem Anspruch der Resozialisierung auch tatsächlich gerecht werden, gehen dagegen oft unter. Und mit einer Karnevalsfeier allein ist die deutsche Strafvollzugspolitik noch lange nicht revolutioniert.
Es muss mehr Haftplätze im offenen Vollzug geben, die Unterbringung in geschlossenen Anstalten sollte die Ausnahme, nicht die Regel sein. Dazu müssen in Haft ausreichende psychologische Betreuung und Plätze in der Substitutionstherapie zur Verfügung stehen. 2019 existierte laut einem Bericht des Justizministeriums in NRW kein einziger stationär-psychiatrischer Behandlungsplatz für weibliche Gefangene im Bundesland. Und die Lohnarbeit der Inhaftierten muss endlich fair bezahlt werden.
Es verstößt gegen das Resozialisierungsgebot, dass Gefangene derzeit in der Regel weniger als zwei Euro pro Stunde für ihre Arbeit bekommen. So hat es das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr entschieden. Zudem gehört die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft. Denn sie diskriminiert in erster Linie Menschen, die am finanziellen Existenzminimum leben, wie die Bundestagsfraktion DIE LINKE 2022 kritisierte.
Zu meinem Abschied aus der JVA umarmen mich Amira, Helin, Lena und Esra. Die Frauen stehen mittlerweile selbst auf der Bühne und tanzen zu DJ Jörg Grewes “Cool Down Set”, es laufen Songs von Summer Cem und Apache 207. Helin versucht noch ein letztes Mal, mich mit auf die Bühne zu holen. Schweren Herzens muss ich ablehnen. “Vielleicht sieht man sich wieder”, sagt Helin. Ich schlage vor, dass wir bis zum nächsten Wiedersehen in Briefkontakt bleiben. Helin nickt. Wir besiegeln unser Versprechen mit einem Handschlag.
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