Tschernobyl—ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten für die, die schon alles gesehen haben: Abenteuerliches Neuland für gelangweilte Rucksacktouristen, unberührte Landschaften für den gestressten Großstadtkapitalisten, Blumenwiesen und Pferde, die dich liebevoll mit ihren Nüstern anstubsen—und über allem schwebt eine wie immer vielversprechende futuristische Monorail. Kontaminierte Zone? My ass!
Wir waren jedenfalls hellauf begeistert als unsere holländischen Kollegen uns auf eine eben solche, zwar schon drei Jahre alte aber dennoch zauberhafte Vision russischer Architekten aufmerksam machten. Bis heute ist der Plan erstaunlicherweise noch immer weit von seiner Realisierung entfernt, wie uns auch die Urheber der Idee, ZA Architekten, berichteten, die sich sonst gerne mit Konzepten spülungsloser Toiletten oder der Marsbesiedlung beschäftigen.
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Die veralteten Reaktoren im Sonnenuntergang mögen noch so sehr an märchenhafte Gruselschlösser erinnern, doch zumindest die Tatsache, dass man in dieser Traumwelt weder das Wasser trinken, noch Tiere oder Pflanzen essen darf, müsste jeden Menschen mit nicht-pathologischem Talent zur Weltfremdheit wieder auf den Boden der kontaminierten Tatsachen bringen. Auch ein gemütliches Lagerfeuer ist verboten, da die nuklear verseuchten Partikel über weite Strecken die Strahlung weitertragen würden.
Die Argumentation des Büros ZA Architekts, das in der Bauhaus-Metropole Dessau residiert, zielt dagegen auf eine positivere Wendung und Revitalisierung der ehemals verseuchten Gegend:
„Die Menschen haben eine extrem negative Einstellung gegenüber der gesperrten Zone rund um das Atomkraftwerk in Tschernobyl, obwohl ein großer Teil des Territoriums nicht verstrahlt ist. Paradoxer Weise entstanden durch die Abwesenheit von menschlicher Aktivität ideale Bedingungen für Tiere und Pflanzen. Es wurden beispielsweise zwei Przewalski Pferde angesiedelt, die auf der roten Liste stehen. In der Zone begannen sie sich zu vermehren und nun sind es schon 40 Stück.”
Glückliche Przewalski Pferde in Tschernoby.
Die Architekten empfehlen auf ihrer Projekt-Seite folgende Aktivitäten für das Gebiet um Tschernobyl: Extremer, industrieller, ökologischer oder Spiele-Tourismus, sowie Foto-Safaris.
Arina Agieieva, Mit-Initiatorin der Vision, schreib mir per E-Mail als ich sie nach dem Auslöser für das Projekt fragte: „Es gibt eine Menge touristischer Touren in Tschernobyl. Mein Projekt basiert auf den gegebenen, realen Bedürfnissen.”
So könnte ein trauriges Todesgebiet zu einer prosperierenden Eventlocation werden.
Das Gebiet umfasst 2252 Quadratkilometer und soll von einer Monorail mit vier Stationen durchquert werden. Für eine bessere Aussicht befindet sich die Bahn vier bis sechs Meter über dem Boden, mit dem positiven Nebeneffekt, dass die Tiere die Gleise unterqueren können.
Etwas vereinfacht dargestellt in der Grafik unten: der Affentourist, kann sich je nach seiner Leidenschaft an den unschuldig betitelten Monorail-Stationen ausleben. Die Bereiche befinden sich außerhalb der radioaktiv kontaminierten Zone. So soll sich das verlassene Gebiet, finanziert durch Steuern, in eine lebendige Touristensattraktion verwandeln, die für die Gesellschaft von Nutzen ist und nebenbei noch Profite statt Kosten für den Staat abwirft.
Vereinfachte Darstellung der Ideen.
Das gesamte Gebiet in der Vision der ZA Architects.
Bevor die Monorail in die jeweilige Station einfährt, wird sie gewaschen und getrocknet, um jegliche nukleare Verseuchung zu eliminieren. Ein Stockwerk unter dem Bahnsteig gibt es Not-Duschen und eine Dekontaminationszone für die Besucher, wo sie ihre Kleidung gegen unverseuchte Stücke eintauschen können.
Über das Gelände verteilt, mit Ausnahme der kontaminierten Zone, befinden sich mobile Wohneinheiten in Wabenform, in denen vier Personen logieren können. Die dystopische Ausstrahlung der futuristischen Ferienhäuser passt in die zufällig entstandene Postkarten-Welt in nuklearem Ambiente.
Modulare Ferienwohnungen mit Küche, Bad, Gemeinschaftsraum und Dekontaminierungszone für den Entstrahlungsbedarf.
Im gesamten Territorium findest du für den Blick in die renaturierte und die verstrahlte Landschaft sechseckige Aussichtstürme. Zur Sicherheit bieten auch diese im Erdgeschoss Schutzräume für radioaktive Gefahrenszenarien.
Die Aussichtstürme inspirieren naheliegenderweise zu Breakdance-Moves.
Die Revitalisierung der Zone rund um Tschernobyl ist eine zwiespältige Angelegenheit. Natürlich gibt es auch schon heute Katastrophentourismus—Auch in dem ukrainischen Sperrgebiet, das 2011 für den Tourismus geöffnet wurde und wenn du dich an bestimmte Regeln wie den Nicht-Verzehr von Pflanzen, Tieren und Wasser hältst, ist ein Besuch der verlassenen Gegend womöglich sogar sicherer als Fallschirmspringen oder eine Mount Everest-Besteigung.
Auf der anderen Seite frage ich mich, ob du bei dem Blick aus der leise dahingleitenden Monorail vielleicht auch dreiäugige Kaninchen und mutierte Wildschafe zu sehen bekommst. Ist es ein verharmlosender Katastrophentourismus oder eine progressive Idee mit den weltweiten menschgemachten Problemen umzugehen? In diesem Fall kann sich die kreative Elite noch in unendlichen Projekten austoben. Wie wäre es mit ozeanweitem U-Boottourismus inklusive Müllfangarm als ökologisch-orginelles Geschicklichkeitsspiel? Oder einer klärenden Teilnahme an den olympischen Schwimmwettkämpfen im Abwasserpool von Rio de Janeiro?
Die Zukunft ist eine irre Geschichte. Und bis jetzt scheint die Eröffnung des Tourismusresorts Tschernobyl noch in einer ungewissen, fernen Zeit zu liegen. Arina Agieieva berichtete mir etwas emotionslos vom gegenwärtigen Stand des Projekts, das sie schon vor drei Jahren vorstellten: „Seit wir die Idee veröffentlicht haben ist nichts passiert. Niemand hat mich kontaktiert, um das Projekt umzusetzen.”