Unterwegs in einem Boxclub der Antifa
Alle Fotos vom Autor

FYI.

This story is over 5 years old.

valeurs nobles

Unterwegs in einem Boxclub der Antifa

Um Rechtsradikalen den Nährboden für Wählerstimmen zu entziehen, trainieren Antifas aus halb Europa Bewohner in einem Arbeiterviertel in Marseille.

La Place Jean Jaurès, besser bekannt unter La Plaine. Hier, auf dem berühmten Platz in Marseille, gibt es neben Bistrots, Graffitis und zahlreichen Dealern auch einen beliebten Boxclub. Und nicht irgendeinen. Denn mitten in Marseille kommen Transsexuelle, Einwanderer, Frauen mit Kopftüchern und Jugendliche aus dem Bezirk zusammen und trotzen allen äußeren Unterschieden. Und um das Ganze auf die Spitze zu treiben: Hier wird unter der Flagge des Antifaschismus und Antikapitalismus geboxt. Am wichtigsten ist den Mitgliedern der Kampf gegen rechtsextremes Gedankengut. „Hier lernt man sich nicht über Vorurteile, sondern gemeinsamen Einsatz kennen", erklärt mir Hazem, einer der Gründer des Boxclubs.

Anzeige

Vor drei Jahren von militanten Antifaschisten gegründet, hat sich der Club seitdem stark diversifiziert. „Hier triffst du auf unterschiedlichste Menschen: Schwule, Transgender, Alte, Junge, Einwanderer, Studenten, Arbeitslose… Die Leute kommen zu uns, weil sie sich hier zu Hause fühlen können. Die meisten unserer Mitglieder sind Frauen. Manche kommen verschleiert. Und im Gegensatz zu vielen anderen Boxclubs sieht man hier nur ganz selten Gewalt."

Wie andere Sporteinrichtungen erfüllt auch der Boxclub eine wichtige soziale Funktion. Doch hier—im Gegensatz zu anderen Vereinen—haben die Mitglieder eine besonders ausgeprägte Bereitschaft, sich mit anders gearteten Mitmenschen zu vermischen. Weswegen die meisten auch von einem Nachbarschafts- und nicht von einem Antifa-Verein sprechen.

Hinter dieser bunten Mischung steckt dennoch ein Kernmotiv des antifaschistischen Kampfes: das Kollektiv. „Die Antwort auf jede Form von Unterdrückung ist das Kollektiv", erklärt mir Hazem. „Eine Person ist immer dann verwundbar, wenn sie isoliert und ungeschützt ist. Wir befinden uns hier in einem Arbeiterviertel. Hier bekommen die Menschen die Unzulänglichkeiten der Gesellschaft regelmäßig zu spüren. Dank diesem Verein lernen sie, mit ihren Problemen besser umzugehen. Sie lernen hier nicht nur einen Sport, sondern auch Lehren fürs Leben. Das Kollektiv ist kein Wunschtraum. Hinter jedem Kollektiv steckt der Wille mehrerer Individuen, etwas Gemeinsames aufzubauen und dabei seine persönlichen Stärken mit einfließen zu lassen."

Anzeige

Das Kollektiv kommt sogar bei ausgemachten Einzelübungen zum Einsatz. Als es ans Bauchmuskeltraining ging, haben sich alle erstmal Arm in Arm in einem großen Kreis versammelt. Als der Trainer das Signal gab, begann man paarweise die Übungen. Dabei haben die Stärkeren die Schwächeren gepusht und angefeuert, noch eine Wiederholung mehr zu schaffen.

„Die Zusammenarbeit und das Gemeinschaftsgefühl ermöglichen es, seine individuellen Ziele zu übertreffen", so Hazem weiter.

Im Marseille der 90er war der Kampf gegen Rechtsradikalismus einer der am härtesten geführten in ganz Frankreich. Auch wenn der Kampf noch andauert, er ist weniger extrem geworden—und die Methoden haben sich verändert. Gegen Rathäuser, in denen Politiker der Front National das Sagen haben, werden schon lange keine Molotowcocktails mehr geworfen. Heute bevorzugen Marseilles Antifas, das Gesellschaftskonzept der Rechten mit Bürgerinitiativen zu bekämpfen. So wie beispielsweise mit dem Boxclub auf dem Place Jean Jaurès. Der Buchautor Frédéric-Joël Guilledoux erklärt uns: „Beim antifaschistischen Kampf geht man davon aus, dass die Rechten vor allem wegen der gesellschaftlichen Mängel bei den Wählern erfolgreich sind. Darum versucht die Antifa-Bewegung auch, überall dort anzupacken und zu helfen, wo es in ihrer Macht steht."

Für Guilledoux hat die Entradikalisierung der linken Szene in Marseille auch mit der (augenscheinlichen) Entradikalisierung der Front National zu tun. Vorbei scheinen die Zeiten, als der 17-jährige Ibrahim Ali 1995 von einem Mob rechtsradikaler FN-Anhänger umgebracht wurde, was die Antifa zu einer Serie von Vergeltungsschlägen veranlasst hat.

Anzeige

Mittlerweile haben viele Antifa-Anhänger eingesehen, dass sie nicht viel ausrichten können, wenn sie wegen gewaltvoller Übergriffe im Gefängnis sitzen. Und was gibt es für ein besseres Mittel gegen Rassismus, als Boxkurse zu leiten, wo Franzosen mit afghanischen Einwanderern zusammen trainieren? Seit Anfang dieses Jahres organisiert Hazem Zusammentreffen dieser Art. Und zeigt sich als kein Fan großer und schöner Worte: „Tolle Gespräche und tolle Worte bringen nichts. Unsere Werte und Prinzipien werden erst in unseren Handlungen sichtbar. Man kann von sich behaupten, tolerant zu sein, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Bei uns wird Toleranz aber gelebt."

Ebenfalls wichtig für die Gründer des Boxclubs ist eine antikapitalistische Haltung. Und damit einhergehend das Prinzip der Selbstverwaltung. Man ist stolz darauf, dass eine Mitgliedschaft nur zehn Euro im Monat kostet. „Die Kursteilnehmer sind für uns keine Kunden, sondern Mitglieder eines Kollektivs", so Hazem weiter. Und weil jeder einen Teil dazu beitragen will, arbeiten die Trainer hier ehrenamtlich.

Einer von ihnen ist Roman aus der Ukraine. Der ist für die erfahreneren Kämpfer zuständig. Unterstützt wird er von Fawzi, einem jungen Mann aus der Nachbarschaft. Das Training von Roman basiert „auf all dem, was ich in verschiedenen Ecken Europas gelernt habe. Ich will meine Techniken weitergeben an solche, die die Trainer von morgen sein könnten. Und dafür sorgen, dass es den Club hier auch in Zukunft gibt."

Anzeige

Es sieht ganz so aus, als sei der antifaschistische Boxclub in Marseille gekommen, um zu bleiben. Für die Hafenstadt in Südfrankreich ist das eine gute Nachricht.