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Wieso der Franz-Josefs-Bahnhof der großartigste Ort der Welt ist

Vergesst das Servitenviertel, den Brunnenmarkt oder den Karmelitermarkt. Der Franz Josefs Bahnhof bietet alles, was man zum Glücklichsein braucht.
Foto: Hannah Schindler

Wien ist die Stadt von Sisi und Franz, Hofburg und Schönbrunn, Sachertorte und Spritzwein. Aber Wien ist auch die Stadt der Grätzl, wienerisch für kleine, mehr oder weniger in sich subkulturell autarken Stadtvierteln, die zwar auf keiner Karte eingezeichnet, aber dennoch in sich abgeschlossene Bedeutungseinheiten sind. Wer sich ein bisschen auskennt, denkt jetzt natürlich an den Brunnenmarkt, den Karmelitermarkt oder das Servitenviertel.

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Aber daneben existieren auch weitere, oft in ihrem Auftreten etwas subtilere Kieze, die genauso eine Betrachtung verdienen. Nicht zuletzt, weil auch sie Wien repräsentieren und durch ihre manchmal rustikale, manchmal etwas sperrige Erscheinung ein Gesamtbild schaffen.

Eines dieser Grätzl ist das Viertel rund um den Franz-Josefs-Bahnhof. Ähnlich gut verborgen wie die Stationen der Dharma-Initiative in Lost wurde hier eine Wohlfühloase geschaffen, die euch spontan an eure Kindheit mit Charles Manson und seiner Family, euren letzten antihierarchischen Stuhlkreis im Publizistikstudium oder euer letztes Dianetik-Wochenendseminar zurückdenken lässt. Hier trifft ländlicher Charme auf großstädtische Geschäftigkeit, Urbanität kriegt ein (oft allzu) menschliches Antlitz—und nicht zuletzt hat der Billa einfach immer offen (wenn ihr in Wien, ach was, in Österreich lebt, wisst ihr das zu schätzen).

Die Einkaufsmöglichkeiten

Neben dem bereits erwähnten Billa, der allerdings einen eigenen Unterpunkt verdient, gibt es noch weitere Möglichkeiten, den Rubel ordentlich rollen zu lassen. Es ist Sonntagmittag und du hast vergessen, dir eine Zahnbürste zu besorgen, aber einen Geschmack im Mund, als hättest du in einem Großraumbüro höchstpersönlich den Staub aus dem Teppichboden geknabbert, den du dem vergangenen Samstagabend schuldest? Kein Problem; bekommst du.

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Auch Fast Food ist in jeder Ausformung vorhanden—egal ob amerikanisch (McDonald's), levantinisch (Kebabstand) oder klassisch wienerisch (Würstler). Daneben gibt es noch eine Trafik, in der du noch schnell deine Panini-Sammlung aus Tschickpackerl-Ekelbildern vervollständigen kannst, sowie einen Bäcker (den ich selber nur gerüchteweise kenne, soll aber OK sein). Hier bekommst du die Vielfalt eines bunten Blumenstraußes an Geschäften—und das (fast) ganz ohne diese nervigen jungen Pärchen mit Kindern, die die Shopping-Malls am Rande von Wien an den Wochenenden fluten.

Der Billa

Eigentlich fast zu unprätentiös. Um dem tatsächlichen panoptischen Erleben gerecht zu werden, sollte eigentlich von DEM BILLA gesprochen werden, ähnlich wie die Zeugen Jehovas in ihren Manifesten das Wort GOTT immer GROSS und FETT schreiben. Seid ihr Marxisten? Hängt ihr der Romantik des Klassenkampfes nach? Hier wird er im Kleinen simuliert.

In den Schlangen an der Kassa wird ähnlich wie in der U-Bahn oder der DDR gleich gemacht, was nicht augenscheinlich gleich ist, und Obdachlose und Unternehmensberater treten hier im Schulterschluss gegen Menschen an, die mit Kleingeld zahlen und noch dazu vergessen haben, ihr Obst abzuwiegen. Und dann wären da noch die bereits eingangs erwähnten Öffnungszeiten. Kennt ihr Amazon? Genau so. Nuff said.

Das Gebäude an sich

Kennt ihr diese sowjetischen Raumfahrtposter aus den 1960ern? Aus der Zeit, in der Atomkraft noch der Shit war und alle noch sendungsbewusst und nicht ganz so kulturkritisch und zukunftspessimistisch waren wie heute? Diese spezielle Romantik, gepaart mit der Vision einer retrofuturistischen Mars-Wohnsiedlung der Geschmacksrichtung Isaac Asimov—das ist der Look, den der Franz-Josefs-Bahnhof verkörpert.

Vergesst Notre Dame, vergesst alles, was ihr über Le Corbusier zu wissen glaubt—hier wurde dem Fortschritt ein Tempel errichtet. Und zwar in einer Form, die zirka zwei Jahre nach Fertigstellung schon nicht mehr nach Zukunft, sondern eher nach Sowjet-Science-Fiction ausgesehen hat und schnell zusammen mit dem eisernen Vorhang zu einer Anekdote aus der Vergangenheit wurde. Wer sich dennoch für mit Glas verkleidete Sichtbetonbauten in quasi direkter ästhetischer Nachfolge des Brutalismus begeistern kann, findet hier ein echtes Juwel vor, das für sich alleine den Städtetrip aus Ludwigshafen oder Sexten wert ist.

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Die Menschen

Seit Menschengedenken suchen Philosophen, Visionäre und Sektenführer nach einem Ort, an dem der Mensch einfach Mensch sein kann. Ohne die fakultativen Imperative internalisierter Fremderwartungen, ohne gesellschaftliche Zwänge, die totale Lossagung des Selbst von jeder Konvention. Wenn ihr jetzt allerdings glaubt, dieser Ort existiert (a) nur in eurer Vorstellung, (b) erst dann, wenn die sozialistische Weltrevolution den Kapitalismus vom Antlitz der Erde getilgt hat oder (c) nur und auch nur unter Einfluss psychoaktiver Drogen in einem Yoga-Surf-Ayurveda-Retreat in Goa, dann habt ihr euch getäuscht.

Zwischen Dosenbier und studentischem MacBook wird hier gesellschaftliche Utopie gelebt.

Der mentale Barfuß-Spaziergang durch die Brandung eines unbekannten, unentdeckten Ozeans, der Nackt-Tanz im Sommerregen auf einer Dachterrasse in Barcelona: all das wird wahr, sobald man die Gegend rund um den Franz-Josefs-Bahnhof betritt. Hier ist der Mensch reduziert auf das Sein, kann loslassen, sich frei fühlen.

Bis zur Erreichung tatsächlicher Singularität werdet ihr euch niemals so sehr unter Gleichgesinnten auf der Suche nach totaler Befreiung fühlen. Die innere BH-Verbrennung sämtlicher vermeintlicher Schranken hat hier längst stattgefunden. Zwischen Dosenbier und studentischem MacBook wird hier gesellschaftliche Utopie gelebt. Menschen aller Nationen singen und tanzen zwischen Mülleimern, Parkbänken und den Resten von McDonald's-Mahlzeiten. Lasst euch darauf ein!

Die Verkehrsanbindung

Wenn ihr glaubt, dass ein so mystischer Ort nur dann erreicht werden kann, wenn man dem weißen Kaninchen in seinen Bau folgt oder den Minotauros in seinem Labyrinth besiegt, kann ich euch beruhigen: Der Franz-Josefs-Bahnhof ist in nur wenigen Fahrminuten gleich über mehrere Langstrecken-Tramverbindungen in der Verkehrszone 100 erreichbar und von jedem Ort in Wien niemals weiter weg als 2,20 Euro. Darüber hinaus existieren allerdings auch Regionalverbindungen, die zwar kein Tor zur Welt, zumindest aber eine Katzenklappe nach Niederösterreich und Tschechien aus dem kleinen Bahnhof machen.

Foto: Hannah Schindler

Abschließend noch eine persönliche Anekdote, um die Magie greifbarer zu machen ( falls ihr nicht ohnehin schon komplett angefixt seid, was notfalls übrigens ebenfalls direkt am Bahnhof erledigt werden kann): Ich hole mir mein Frühstück oft beim Billa im Franz-Josefs-Bahnhof. Eines Morgens bin ich also, noch leicht müde und noch nicht wirklich im Tag angekommen, auf dem Weg zum Eingang, wo gerade ein Lieferant die Back-Rohlinge in roten Plastikkisten vor sich stapelt, mit denen er den Bäcker bei Billa beliefert. Rund um mich erwacht das Leben, ein Obdachloser erleichtert sich gegen einen Baum, der Würstelstandler schmeißt den Grill an, die Blumenhändler richten ihre Sträuße her. Auf einmal klatscht der Lieferant in seine Hände und rund um die Kisten mit Gebäck steigen unzählige, wenn nicht hunderte Tauben gleichzeitig auf. Als bei mir der Ekel nachließ, war dieser Moment sehr episch. Das muss man aushalten. Das kann man feiern. Das ist die schöne Seite von Wien.