„Internetpornos sind schlimmer als Heroin“

Sexsucht ist ein Phänomen, das es vor allem durch den Promibonus immer wieder in die Medien schafft. Michael Douglas wird seit den 90ern nachgesagt, sexsüchtig zu sein, Tiger Woods bekannte sich selbst dazu, nachdem ihm sein notorisches Fremdgehen eine Scheidung und ziemlich üble Schlagzeilen eingebracht hatte, und David Carradine soll seine Sexsucht sogar umgebracht haben.

Was dabei meist bleibt, ist der Eindruck eines Luxusproblems—berühmte, reiche (meist männliche) Typen können jeden (meist weiblichen) Sexpartner haben und nutzen diese Möglichkeit auch aus. David Duchovny und Charlie Sheen, denen ebenfalls dieselbe Abhängigkeit nachgesagt wird, verkörpern diese Rolle quasi selbst in Californication und Two and a Half Men. Gleichzeitig ist es manchmal wohl auch gezielte PR, wenn etwa Megan Foxx verkündet, sie sei sexsüchtig („Ich hab die Libido eines Fünfzehnjährigen”).

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Abseits von all dem Gossip stellt Sexsucht jedenfalls für viel mehr Menschen in der Normalbevölkerung ein reelles Problem dar, als man denkt. Dr. Christina Raviola, Sexualpsychologin, Verhaltenstherapeutin und Dozentin für Sexualwissenschaften, geht davon aus, dass etwa 3 bis 5 Prozent der österreichischen Bevölkerung an so etwas wie Sexsucht leiden. Das wären in absoluten Zahlen einige Hunderttausende Personen. Nur was ist Sexsucht eigentlich? Was zeichnet einen Sexsüchtigen aus und warum ist es überhaupt ein Problem, süchtig nach Sex zu sein?

Für Antworten habe ich mich an die Selbsthilfegruppe der Anonymen Sexsüchtigen, auch „Sexaholiker” genannt, gewandt. Sie sieht sich als letzte Anlaufstelle für Menschen, die ihren sexuellen Zwängen gegenüber machtlos geworden sind. Dabei geht die Gruppe fast identisch vor wie ihr bekannteres Pendant für Alkoholsucht. Es gibt die zwölf Traditionen, die zwölf Schritte, die wöchentlichen Gruppenmeetings. Diese finden neben Wien auch in Wiener Neustadt, Krems, Wels, Graz und Innsbruck statt. Es bestehe sogar die Möglichkeit, an einem englischsprachigen Meeting teilzunehmen.

„Für Alkoholiker gab es lange keine Hilfe, außer sich in eine Klinik einsperren zu lassen”, meint Robert*, Anonymer Sexsüchtiger und Gründungsmitglied der Grazer Gruppe. Die Gründer der AA hätten mit dem Konzept der Gruppentherapie und dem Austausch unter Gleichgesinnten bahnbrechende Fortschritte gemacht, weshalb sich irgendwann in den 1970ern auf dieser Basis auch eine Therapiegruppe für Sexsucht entwickelt habe.

Roberts Geschichte beginnt eigentlich recht unspektakulär. Mit elf Jahren erklärte ihm ein Fußballfreund, was Selbstbefriedigung ist. „Das hat mich eigentlich sofort gefesselt und fasziniert und ich hab’s ab da auch jeden Tag gemacht.” Im Kontakt mit Mädchen war er anfangs unsicher. „Wenn ich mir Pornos angeschaut habe, sah ich da die perfekten Frauen, mit denen ich eigentlich zusammen sein wollte, für die ich mich aber zu minderwertig hielt.”

In der Realität bediente er sich deshalb in erster Linie an Alkohol und suchte nach Tipps wie man Mädels aufreißt, etwa bei den Pick-up-Artists. „Mädels abschleppen wurde für mich zum Sport. In meinem Freundeskreis galt ich deshalb bald als Frauenheld.”

Ein Kriterium für die Sucht, so sagt er heute, ist ein Voranschreiten in irgendeiner Form—sei es immer mehr Zeit für Pornografie, häufigere Selbstbefriedigung oder immer mehr sexuelle Kontakte. Ein anderes ist, dass es einem nicht möglich ist, mit seinen Handlungen aufzuhören, auch wenn man es sich noch so stark vornimmt.

Mit 20 begann er auch, zu Prostituierten zu gehen. „Wenn ich das Geld gehabt hätte, wäre ich wohl jeden Tag dort gewesen”, meint er heute. Und auch mit Transvestiten hatte er Sex—nicht weil er dahingehend eine besondere Neigung hatte, sondern weil es sich ergeben habe und die Personen „einfach verfügbar waren und das Gleiche wollten”.

Wenn sich Robert mit seiner Mutter über Sexualität und Partnerschaft unterhielt, sprach er oft darüber, dass sich Männer genau wie im Tierreich von Natur aus so viel paaren würden wie möglich. Sie ging zu dieser Zeit in eine Angehörigengruppe der Anonymen Alkoholiker hatte bekam dabei irgendwann einen Info-Flyer der Anonymen Sexsüchtigen in die Hand, den sie intuitiv auch ihren Sohn weiterreichte. „Ich hab mir das nach einiger Zeit durchgelesen—und da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, dass ich ein kranker Typ bin.” Als Robert zum Meeting der AS ging, war er 25.

Klaus, ein anderer Betroffener, fand erst mit etwa 40 zu der Gruppe, ist mit Unterbrechungen nun aber schon 20 Jahre dabei. Ein Suchtcharakter sei bei ihm immer schon vorhanden gewesen, sagt er heute und blickt vor allem auf ein Leben unzähliger kaputter Beziehungen zurück. Diese wurden immer kürzer, immer variabler. Treu konnte er nie sein. Er hatte Verhältnisse mit Frauen und Männern gleichermaßen und ging auch immer häufiger zu Prostituierten.

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Für jemanden wie ihn, der für Pornografie früher bezahlen musste, kam das Aufkommen der Internetpornografie einem „El Dorado”, gleich—gratis, und in jede erdenkliche Fetisch-Richtung im Überfluss verfügbar. Klaus nutzte dieses Angebot täglich für viele Stunden, war sich in späteren Jahren aber immer mehr seines Zwanges bewusst. Jedenfalls geriet er in eine Spirale, die mit immer schwereren Depressionen einherging. „Auch, wenn ich mir gesagt hab ,Tu’s nicht, dann geht’s dir noch schlechter’, hab ich’s trotzdem getan. Ich wollte es nicht tun, ich musste es tun.”

Der trockene Alkoholiker, der auch mit anderen Drogen einige Erfahrungen gesammelt hat, ist sogar der Meinung, dass Internetpornos die meisten anderen Suchtmittel um Längen schlagen. „Internetpornos sind schlimmer als Heroin”, sagt er. „Vor allem, was die psychischen Schmerzen angeht. Für mich war meine Sexsucht immer eine Mischung aus Schmerzen über das eigene Verhalten vor dem Computer und Schmerzen wegen den Beziehungen, die ich deswegen nicht hatte oder die wegen meiner Sucht weggebrochen sind.” Das hat ihn schließlich veranlasst, Hilfe von Außen zu suchen.

Logo der Anonymen Sexsüchtigen

Ein anderer Anonymer Sexsüchtiger, Josef, 48, erzählt, dass er bei den ersten Meetings zunächst regelrecht abgeschreckt war. „Viele erzählten von ziemlich extremen Handlungen, die ich selbst nie gemacht habe. Meine Sucht war eine sehr Introvertierte.” Er selbst ging nie wirklich fremd. Stattdessen steigerte sich Josef hauptsächlich in seine eigene Fantasien, die er mit Pornografie und Masturbation auslebte. Aber auch das reichte schon aus, damit Josef seine Arbeit vernachlässigte und Beziehungen in die Brüche gehen ließ. Über die Jahre hinweg fiel es ihm immer schwerer, echte Partnerinnen zu finden. „Ich lief Gefahr, völlig zu vereinsamen, weil mich Pornos vom echten Umgang mit Frauen entfremdet haben.”

Zu Beginn meiner Gespräche mit den Sexsüchtigen war ich zugegeben skeptisch, ob die Betroffenen in erster Linie nur anderen Moralvorstellungen nacheifern und hab mir auch die Frage gestellt, wo denn reges Sexualverhalten aufhört und Sucht anfängt. „Letztlich muss das jeder für sich selbst entscheiden”, heißt es von der Gruppe. Für sie ist durch die Sucht jedenfalls ein enormer Leidensdruck entstanden. Man denkt unweigerlich an Michael Fassender in Shame, der mit leerem Blick vorm Laptop sitzt oder auf mechanische Weise mit mehreren Frauen schläft, ohne dabei eigentlich Lust zu empfinden.

„Auch, wenn ich mir gesagt hab ,Tu’s nicht, dann geht’s dir noch schlechter’, hab ich’s trotzdem getan. Ich wollte es nicht tun, ich musste es tun.”

Bei den Mitgliedern der AS äußert sich die Sucht jedenfalls in verschiedenen Bereichen—von Beziehungunfähigkeit über Pornosucht und Sucht nach Selbstbefriedigung bis hin zu Sex mit Prostituierten. Auffallend oft tritt sie anscheinend in Kombination mit anderen Süchten auf—Alkohol, Drogen, Glücksspiel oder im Fall von Robert sogar Zucker. Dass es sich dabei also eigentlich um die Kompensation eigener, mehr oder weniger tief verwurzelter Probleme handelt, sprechen die Betroffenen dabei teils offen an—Robert erwähnt seine Minderwertigkeitskomplexe und Klaus wurde von einer Therapeutin Borderline attestiert.

„Im Grunde liegt bei Betroffenen eine Art Persönlichkeitsstörung vor”, bestätigt auch Expertin Dr. Raviola. „Fast immer hängt ein ganzer Rattenschwanz an psychologischen und psychosomatischen Faktoren dran.” Sie meint auch, dass Beschwerden hinsichtlich Sexsucht seit einem Jahrzehnt zunehmen und sieht sich sowohl durch Studien, als auch den Alltag in ihrer Praxis bestätigt.

Gleichzeitig beschwichtigt sie aber. „Es ist für sich genommen kein Problem, am Tag ein oder zweimal zu masturbieren. Bei meinen Patienten, die überwiegend männlich und gut gebildet sind, kommt das in der Regel viel, viel öfters vor.” Mit einer qualitativen Behandlung, die in mehreren Bereichen ansetzt, gebe es bei Beschwerden jedenfalls „sehr gute Heilungschancen”.

Wie bei den Anonymen Alkoholikern gibt es auch bei den Sexaholikern eine sogenannte Trockenheitsdefinition, die von den Mitgliedern angestrebt wird: „Komplett auf jede Form von Sexualität verzichten, sei es Selbstbefriedigung oder Sex mit anderen—außer mit dem Ehepartner”, heißt es da. Ein frommes Ziel also. Robert beteuert aber, dabei keiner christlichen Tradition anhängen zu wollen; das System habe sich einfach über die Jahrzehnte so bewährt.

Er selbst ist dieser Definition zufolge seit sieben Jahren trocken. „Ich war drei Jahre lang völlig abstinent—bis ich meine heutige Ehefrau kennengelernt habe.” Aber auch in der Ehe müsse man gegebenenfalls Abstinenzphasen einführen, meint er. „Oder man kontaktiert sogenannte Sponsoren, wenn man Gefahr läuft, dass die Sucht wieder ausufert—das sind erfahrene Gruppenmitglieder, die sich dann in Einzelmeetings austauschen.” Robert selbst vermeidet es heute, Filme oder auch nur Bilder mit sexuellen Inhalt anzusehen.

„Ich lief Gefahr, völlig zu vereinsamen, weil mich Pornos vom echten Umgang mit Frauen entfremdet haben.”

Das Übel ihrer Sucht liegt für die Anonymen Sexsüchtigen im allgemeinen heutigen Umgang mit Sexualität. Dieser sei „äußerst ungesund”, bis hin zu „krank”, wie sie es nennen. Geht man nach ihrer Philosophie, wären demnach nicht nur sie süchtig, sondern ein überwiegender Teil der Gesellschaft.

Auch wenn diese Einschätzung ziemlich übertrieben ist, kann man sie zumindest als Ausgangspunkt für ein Gedankenexperiment nehmen und sich fragen, in welche Richtung sich unsere moderne Sexualität generell entwickelt. Wir hören die Geschichten der Anonymen Sexsüchtigen—von wahllosem Sex, von totaler Lustlosigkeit, von Abstumpfung und überhandnehmendem Pornokonsum—und mögen vielleicht den Kopf schütteln. Gleichzeitig sind wir selbst nicht wahnsinnig weit von solchen Geschichten entfernt.

Ich will damit nicht sagen, dass jeder, der sich ansatzweise in den Geschichten der Betroffenen wiedererkennt, ein Suchtproblem hat; das würde das Problem dieser Menschen nur verharmlosen. Und vielleicht geht es ja sogar eher ins Gegenteil: Allgemeine Hypersexualisierung, die nicht nur zu Abstumpfung sondern auch zu mehr Asexualität führt? Oder wirkt sich die Zunahme von Online-Sexualität (in Pornos oder in Virtual Reality-Form) so aus, dass wir uns immer weniger auf reale Partner einlassen können? Slavoj Zizek hat sich das etwa schon vor zwanzig Jahren gefragt.

Und der Philosoph geht (wie immer) noch einen Schritt weiter und meint: Was uns an virtuellem Sex am meisten stört, ist die Tatsache, dass er uns vor Augen führt, was Sex immer schon war—nämlich eine egoistische Triebbefriedigung, bei der es noch nie um „den anderen” ging. „Die ganze Sache ist komplexer, als man sich vorstellen mag”, fasst es jedenfalls Expertin Raviola zusammen.

Thomas auf Twitter: @t_moonshine


*Die Namen der Befragten wurden von der Redaktion geändert