Menschen erzählen, warum sie früher andere Schüler gemobbt haben

Wer früher nicht selbst zum Mobbing-Opfer wurde, kannte mit Sicherheit eins. Vielleicht waren es fiese Spitznamen oder Gerüchte, vielleicht wurde man aber auch wegen der Größe, Haarfarbe oder Stimme fertiggemacht. Im schlimmsten Fall kam es zu körperlichen Übergriffen. Und jetzt, im Zeitalter des Internets, hat Mobbing noch mal eine neue, digitale Plattform bekommen.

Wenn man zum Ziel solcher fiesen Angriffe wird, fragt man sich natürlich: “Warum?” Als ich ehemaligen Bullys genau diese Frage stellte, fand ich heraus, dass Bullys keineswegs immer die Starken und Gewinner sind. Viele Bullys waren selbst Opfer oder haben mit persönlichen Unsicherheiten und Problemen zu Hause zu kämpfen. Auch wenn das keine Entschuldigung ist und den Opfern nicht hilft: Viele ehemalige Ekel haben sich inzwischen zu vernünftigen Menschen entwickelt und bereuen ihre Taten von damals.

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Drei frühere Tyrannen erzählen, wie alles anfing, wie sie ihre Mitschüler mobbten, wie sie heute über ihr damaliges Verhalten denken und wie es war, als sie ihre Opfer nach Jahren wiedersahen.


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Richard, 35

Früher war ich dick und schon als ich jung war, wurde ich deswegen gemobbt. Bereits im Kindergarten machten sich die älteren Kinder über mich lustig. Um mich besser zu fühlen und um vor den anderen Jugendlichen besser dazustehen, fing ich irgendwann selbst an, “leichte Ziele” fertigzumachen. Ich empfand das damals nicht als Mobbing. Aber mit der Zeit wurde mir klar, dass das alles Teil eines Teufelskreises war.

Wegen meines Gewichts hielt ich mich nie gut genug für meine Mitschüler, die alle sehr sportlich waren. Also machte ich mich über andere Kinder lustig, um die Lacher auf meiner Seite zu haben. Erst später wurde mir bewusst, wie sich das auf meine Opfer auswirkte. Sie wollten aus Angst vor mir gar nicht mehr zur Schule kommen. So wie ich damals nicht auf die Leute treffen wollte, die mich fertiggemacht hatten. Ich habe nie realisiert, dass ich mich wie ein Arschloch verhielt – und zu dem geworden war, vor dem ich mich gefürchtet hatte.

Ich weiß noch, wie ich mit meinem Kumpel im Unterricht saß und er eine Mitschülerin als “Fettarsch” bezeichnete und lachte. Wir machten uns da keine Gedanken drüber, weil wir sie eigentlich gar nicht dick fanden. Trotzdem war sie wegen unserer Kommentare kurz davor, eine Essstörung zu entwickeln.

“Nie hat mich jemand gefragt, ob ich überhaupt weiß, was ich da mache.”

In der Grundschule lief ich zusammen mit ein paar Freunden – und das Ganze passiert immer mit Freunden, weil man die beeindrucken will – einen Radweg entlang und uns kam ein jüngerer Schüler entgegen. Ich weiß nicht mehr, was genau ich sagte, aber ich streckte die Brust raus, starrte dem Jungen wütend in die Augen und stellte meine Dominanz über ihn offen zur Schau. Eine oder zwei Wochen später musste ich dann zum Rektor, der mich über den “Vorfall” belehrte. Was ich damals gar nicht bemerkte: Der Junge, den ich eingeschüchtert hatte und der ebenfalls beim Rektor war, zitterte vor Angst am ganzen Körper.

Geschlagen habe ich nie jemanden. Schubsen und Beleidigungen waren das Höchste der Gefühle. Wenn mich die Lehrer oder irgendwelche Eltern erwischten, wollten sie mir direkt ins Gewissen reden – aber immer in einem drohenden Ton. Nie hat mich jemand gefragt, ob ich überhaupt weiß, was ich da mache.

Genau das ist auch das Problem: Bullys finden es doch super, wenn sich jemand über ihr Verhalten aufregt. Sie wollen eine Reaktion bekommen. Ich fand es damals total lustig, wenn sich Erwachsene aufregten. Manchmal denke ich darüber nach, wie ich heute reagieren würde, wenn ich Jugendliche sehen würde, die jemanden mobben. Ich glaube, ich würde ganz besonnen mit ihnen reden, anstatt richtig wütend zu werden. Letzteres bringt nämlich gar nichts.

Jim, 27

Als ich elf oder zwölf war, gab es einen Jungen, den ich total süß fand. Ich wusste aber nicht, wie ich mit diesen Gefühlen umgehen soll. Ich war mir meiner Homosexualität noch nicht bewusst. Also verprügelte ich ihn immer, ich schnappte ihn mir regelmäßig auf dem Spielplatz und polierte ihm die Fresse. Ich glaube, dass viele Menschen ihre eigenen Probleme in anderen Leuten erkennen und sie deswegen hassen.

In meiner Jugend wurde ich öfter mit dem Wort “Schwuchtel” angeredet als mit meinem eigenen Namen. Außerdem hat mich mein Stiefvater oft verprügelt. Elf Jahre lang hielt ich das aus. Rückblickend hätte ich den Jungen vielleicht nicht so behandelt, wenn es mir damals anders ergangen wäre. Anfangs hingen wir sogar viel zusammen ab und verstanden uns gut. Aber dann fing er an, sich komisch zu verhalten und unglaubwürdige Dinge zu sagen – zum Beispiel, dass seine Eltern ihm Pornos kauften. Andere Kinder machten sich schon über mich lustig, weil ich mit ihm befreundet war.

“Die ganzen beliebten Kids fanden das total witzig. Und ich wurde deswegen in Ruhe gelassen.”

Als ich ihn zum ersten Mal schlug, spürte ich völlig grundlos diesen Gruppenzwang. Ich wollte vor den anderen Jugendlichen halt cool dastehen. Er kam auf mich zu, aber ich schubste ihn nur weg und sagte: “Verpiss dich!” Dann schubste ich ihn erneut und trat ihm in die Rippen. In der darauffolgenden Woche kam er wieder an und ich zog das Ganze erneut durch. So lief es mindestens vier- oder fünfmal. Die ganzen beliebten Kids fanden das total witzig. Und ich wurde deswegen in Ruhe gelassen.

Nach ein paar Monaten fuhr unsere Klasse ins Skilager, nur er und ich blieben zu Hause. Als wir uns die Zeit in der Schule vertrieben, fing er plötzlich an, mein Bein zu berühren. “Ich bin nicht schwul, sondern gerade nur richtig spitz”, sagte er dabei. Ich bin natürlich richtig ausgerastet und erzählte die Geschichte am darauffolgenden Tag, als alle wieder da waren, vor versammelter Klasse. Daraufhin wurde er so heftig fertiggemacht, dass er die Schule wechseln musste.

Jahre später traf ich ihn wieder, wir verstanden uns wieder ganz gut. Dann verloren wir uns jedoch erneut aus den Augen. Seitdem habe ich mehrmals erfolglos versucht, ihn ausfindig zu machen. Ich will mich für damals entschuldigen. Und ich bin der Meinung, dass wir ein verdammt süßes Pärchen abgeben würden.

Roxannne, 30

Ich bin außerhalb einer Kleinstadt aufgewachsen. Also etwa 45 Kilometer außerhalb – im Nirgendwo. Als ich jünger war, hatte ich deswegen kaum soziale Kontakte. Ich konnte nicht einfach mit den Nachbarskindern spielen, weil es keine Nachbarskinder gab. Als ich dann endlich in den Kindergarten kam, kannten sich alle anderen schon. Alle spielten miteinander, nur ich kannte niemanden. Auch über die ganze Grundschul- und Unterstufenzeit hinweg haben die anderen zusammen Sachen gemacht – sind zum Büdchen gegangen und so. Nur ich konnte nicht. Ich musste sofort nach dem Unterricht los, um noch nach Hause zu kommen. Ich fühlte mich extrem isoliert. Ich war sehr wütend. Und das wurde noch schlimmer, als ich dann in die Pubertät kam.

Auch in meiner High-School-Clique gab es niemanden, mit dem ich besonders eng war. Bei vielen Dingen, die Teenager sonst zusammen machen, konnte ich nicht dabei sein. Das erste Gruppenbesäufnis war zum Beispiel komplett an mir vorbeigegangen. Ich fing an, anderen Menschen feindselig gegenüberzustehen. Im Gegenzug begannen andere, mich mehr und mehr als Bully wahrzunehmen. Ich selbst sah mich überhaupt nicht so. Ich wusste, dass ich wütend war, aber ich ahnte nicht, dass mein Verhalten andere einschüchtern könnte.

“Ich dachte mir: ‘OK, jetzt bin ich die Höherstehende und so behandelt man Menschen, die nicht so cool sind wie man selbst.’”

Ich glaube, es hatte viel mit meiner Außenseiterinnenrolle zu tun. Außerdem dachte ich mir, dass “höherstehende” Menschen einfach alle so behandeln, die unter ihnen sind. Als ich jünger war, wurde ich selbst gemobbt. Ich war immer davon ausgegangen, dass sich meine Bullys so gemein verhalten konnten, weil sie über mir standen. Als ich dann älter wurde, einen Sinn für Humor entwickelte und Jungs anfingen, sich für mich zu interessieren, wuchs auch mein Selbstbewusstsein und ich wurde sozialer. Ich dachte mir: “OK, jetzt bin ich die Höherstehende und so behandelt man Menschen, die nicht so cool sind wie man selbst.”

Zum Beispiel war ich einmal bei diesem Mädchen zu Hause und sie schlief mit offenem Mund. Ich erinnere mich noch, wie ich vom Fensterbrett eine Handvoll toter Käfer und Spinnen zusammengekratzt und ihr in den Mund gestopft habe. Auch hinter ihrem Rücken war ich richtig gemein zu anderen. Ich verbreitete eine Menge richtig fieser Gerüchte. In der neunten Klasse habe ich Leuten erzählt, dass das gleiche Mädchen von der Käfergeschichte … Gott, das ist so furchtbar. Ich habe rumerzählt, dass dieses Mädchen ein sexuelles Verhältnis mit ihrer Katze hat. Und die Leute haben es mir geglaubt.

Es gab auch noch diesen Typen, der anscheinend in mich verknallt war. Ich bin rumgelaufen und habe allen erzählt, was für ein Psycho und Creep er doch sei. In Wahrheit war er nichts davon. Er hat einfach nur versucht, mein Freund zu sein. Die Leute aus meiner Clique meinten immer so: “Na, wie geht’s deinem Stalker?” Und ich wollte Teil davon sein. Ihm direkt gegenüber war ich nett. Sobald er mir den Rücken zukehrte, sagte ich sofort Sachen wie: “Alter, was für ein krasser Psycho!” Eines Tages kam er zu mir rüber, als ich mit ein paar Freunden zusammen war, und ich habe ihm einfach dieses ganze furchtbare Zeug direkt ins Gesicht gesagt – alles, was ich davor ständig hinter seinem Rücken rumerzählt hatte. Für ihn muss das komplett aus dem Blauen gekommen sein. Ich weiß noch, wie mich dieses heftige Ego-Gefühl durchströmte. Dieses unglaubliche Selbstbewusstsein. So nach dem Motto: “Ich werde den Leuten zeigen, wie cool ich bin, indem ich diesen Wurm auf seinen Platz verweise.” Ich habe einfach nicht nachgedacht. Ich wusste, dass meine Aktionen nicht besonders nett sind. Gleichzeitig dachte ich aber, dass sie jetzt auch keine so große Sache seien.

Am schlimmsten habe ich wahrscheinlich meine Mutter tyrannisiert. Ich war so grausam zu ihr, dass sie irgendwann nicht mal mehr nach Hause kommen wollte. Einmal – sie hatte sich den Knöchel gebrochen – war sie auf ihrem rollbaren Krankenbett im Wohnzimmer eingeschlafen. Sie konnte ja nicht die Treppe hochgehen. Ich nahm ihr die Krücken weg und schloss sie im Badezimmer ein. Dann weckte ich sie auf, nur um ihr zu sagen, was für ein Stück Scheiße sie sei und wie sehr sie als Mutter versagt habe. Dabei ist meine Mutter wirklich die liebevollste, zuvorkommendste und fürsorglichste Person, die man sich wünschen kann. Ich trug aber einen unglaublichen Zorn in mir und wusste nicht, wohin damit. In meinen Augen war sie einfach nur ein leichtes Ziel. Mein eigener Umgang mit meiner Mutter machte ich so sauer auf mich selbst, dass daraus schnell eine selbsterfüllende Prophezeiung wurde. “Wenn ich schon so scheiße bin, dann kann ich auch alle anderen wie Scheiße behandeln.” Diese Einstellung brachte ich mit mir in die Schule.

Und sie zog sich bis in mein junges Erwachsenenleben. Irgendwann schlug ich einen sehr dunklen Weg ein. Mit 16 schmiss ich die Schule. Ich wurde ziemlich gewalttätig und bekam diverse Anzeigen wegen Körperverletzung. Ich liebte es einfach, Leuten in die Fresse zu schlagen. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Diese Wut in mir war einfach immer so schnell da. Eines Tages dann hatte ich den Eindruck, dass mir Gott erschien. Es war, als hätte bei mir mit einem Schlag die Empathie eingesetzt. Ich fing einfach nur an zu weinen. “Oh mein Gott. Mein Handeln hat Auswirkungen auf Menschen.” Von diesem Moment an wurde ich extrem sensibel. Das bin ich immer noch. Ich kann mir sogar kaum Filme anschauen, in denen Menschen grausam zueinander sind. Ich schätze, ich habe einfach mein Pensum an Bosheiten fürs Leben erfüllt.

“Ich war einfach ein verdammt gemeiner Mensch. Jeder, der mit mir in Kontakt kam, hatte nichts zu lachen.”

Wenn ich zurückschaue, bin ich heute ein komplett anderer Mensch. Meine Einstellung hat sich grundlegend geändert. Ich habe Dinge getan, die ich heute niemals tun würde. Niemals. Ständig frage ich mich, was ich mir damals nur dabei gedacht habe. Ich hatte wohl einfach diese Vorstellung, dass keine meiner Handlungen die Macht hatte, andere zu verletzen.

Wenn ich ehrlich bin, wäre es richtig hart für mich, mich mit Menschen in Verbindung zu setzen, die ich verletzt habe. Ich habe darüber nachgedacht, wen ich überhaupt kontaktieren würde, um mich zu entschuldigen. Aber ich weiß es nicht. Ich bin einfach generell mit dieser Einstellung durch die Welt gegangen. Es war nie zielgerichtet. Ich war einfach ein verdammt gemeiner Mensch. Jeder, der mit mir in Kontakt kam, hatte nichts zu lachen – wenn die Person mich nicht gerade eingeschüchtert hat.

In manchen Fällen bekam ich es aber auch zurück. Da war dieses Mädchen, das mich in der Unterstufe geärgert hatte. Als ich mit 20 wieder zur Schule gegangen bin, war sie meine Lehrerin. Und sie mobbte mich immer noch – dieses Mal vor der ganzen Klasse.

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