Ich habe mich zum Weihnachtsmann ausbilden lassen

Technische Universität Berlin, Mensa, Seminarraum KR3. Eine Anwesenheitsliste wird herumgereicht, 15 Teilnehmer hocken mit Stift und Papier vor einem Flipchart. In der Ecke des Raumes hängen rote Plüschjacken und einige weiße Perücken. Heutiges Seminar: “Einführungsworkshop für Weihnachtsfrauen, Weihnachtsmänner und Engel”.

“Mit Theodor Storms Gedicht ‘Knecht Ruprecht’ in die Wohnung zu kommen, hat sich aus meiner Erfahrung bewährt”, sagt Marian Feldel und schreitet zu einem Flipchart, auf dem in roter Schulkindschrift Begriffe wie “Theorie”, “Bescherung” und “Ehrenkodex” stehen. Der 26-jährige Student leitet den Einführungsworkshop an der TU Berlin. “Wir sind Europas größte Weihnachtsmannagentur”, sagt Marian. Mit seinen kurzen dunkelblonden Haaren, dem braunen Wollpulli und der eckigen Brille sieht er eher aus wie der Logistik-Praktikant des Weihnachtsmanns, doch bereits seit 2013 arbeitet er als Weihnachtsmann – nun bildet er erstmals auch aus. Bereits seit 1949 vermittelt das Berliner Studierendenwerk Studenten als Weihnachtsmänner zu Familien- und Firmenfeiern. Rund 2.500 Aufträge und 220 Weihnachtsmänner gab es im letzten Jahr – Tendenz steigend.

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Auch ich will mich zum Weihnachtsmann ausbilden lassen, weniger als vier Stunden soll das dauern. Früher hatte ich Angst vor dem Weihnachtsmann, wenn er bei der Weihnachtsfeier im Fußballverein einritt. Er hatte dieses allwissende Gold-Buch, in dem stand, dass ich mit meinen Hausaufgaben genauso unambitioniert war wie bei der Manndeckung meiner Gegenspieler. Außerdem roch der Weihnachtsmann damals manchmal nach Zigaretten und Bier. Aber wer sind die Leute hinter den Bärten und warum verbringen sie Heiligabend lieber mit Fremden als mit ihrer eigenen Familie?

Fast allen Weihnachtsmännern geht es ums Geld

In der Vorstellungsrunde beantwortet sich diese Frage schnell: “Viel Geld in wenig Zeit”, sagt ein junger Typ, den ich mir mit seinen weichen Gesichtszügen partout nicht als weisen Santa Claus vorstellen kann. Fast alle anderen sehen das auch so. “Natürlich geht es auch um die Kinder, aber am Ende ist es ein Job, bei dem ich an einem Abend viel verdienen kann”, sagt ein anderer.
46 Euro kriegt ein Weihnachtsmann pro Familie – 15 Prozent behält das Studierendenwerk. Dazu kommt Trinkgeld, laut Marian meist bis zu 10 Euro. “An Heiligabend kann man bis zu 600 Euro bei zehn bis zwölf Aufträgen rausholen”, erklärt Marian, als er auf das Flipchart in großen Buchstaben “Geld” schreibt. “Das sind mit der Vorbereitung und Vorgesprächen mit den Familien um die 25 Euro Stundenlohn.” Definitiv einer der bestbezahlten Studentenjobs.

Während des Seminars an der TU

In dem sterilen, so unweihnachtlichen Raum sitzen zwischen den Studenten auch drei Männer, die deutlich über 30 sind. Torsten, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, ist einer von ihnen. Er brauche das Geld nicht, sagt er. Der Sozialarbeiter ist neu in Berlin und seit Kurzem wieder Single. “Ich mache das hier für mich, denn ich will Weihnachten einfach nicht alleine verbringen“, sagt er. “Ich kann Kinder glücklich machen und Weihnachtsfeste mit anderen Menschen feiern.” Dass solche idealistischen Weihnachtsmänner selten sind, merkte offenbar auch das Studierendenwerk. Vor einigen Jahren habe es mit Flyern geworben, auf denen stand: “500 Euro an nur einem Tag”, erzählt Marian. So einfach ist das dann aber doch nicht: Um Santa zu werden, scheint es mehr Regeln zu geben als für artige Kinder.

“Kommen wir zur Theorie”, sagt Marian und verteilt ein 18-seitiges Weihnachtsmann-Manifest. Er erntet dafür rollende Augen und genervte Blicke der Studenten, die nach einem 5-Stunden-Unitag offenbar nicht mit noch mehr Texten gerechnet hatten. Neben einem Fragenkatalog für die Familien finden sich auch die Mindestanforderungen für das Kostüm: “Dünne Filzmäntel von Amazon sind verboten”, sagt Marian. Das Studierendenwerk beharre auf ein gutes Kostüm. Zudem sei ein “würdiges” Weihnachtsgesicht sehr wichtig. Auch Kinder verstehen, dass die Augenbrauen weiß geschminkt sein müssen, wenn Bart und Perücke es auch sind. Und Marian hat für uns Amateure einen Profi-Tipp: Wir sollen Süßigkeiten kaufen, damit man auf offener Straße nicht so aufgeschmissen ist wie der versiffte Weihnachtsmann aus Kevin – Allein zu Haus.

Seit diesem Jahr gibt es Weihnachtsfrauen – aber kaum jemand bucht sie

Neben mir meldet sich Konstanza, die als einzige im Kurs eine Weihnachtsfrau werden will. “Und was ziehen die Frauen an?”, fragt sie. Marian erklärt ihr, dass sie ein rotes Kleid und keinen Bart tragen. Weihnachtsfrauen gibt es in diesem Jahr zum ersten Mal in Berlin. “Alle sollen die Chance bekommen, Geld zu verdienen”, sagt Marian. Vor sexistischen Kindern hat Konstanza keine Angst. “Ich gehe davon aus, dass es den Kindern egal ist, ob ein Mann oder eine Frau die Geschenke bringt”, sagt sie. Und falls die Kinder doch mal nachhaken, hat sich das Studierendenwerk sogar eine Background-Story ausgedacht: Die Frau des Weihnachtsmannes half zu Anfang ihrem Mann dabei, die Wunschzettel und Briefe durchzusehen, die Geschenke zu verpacken sowie das Goldene Buch zu füllen. Da es aber immer mehr Kinder auf der Welt gebe (stimmt übrigens nicht, die Zahl der Kinder stagniert) und der Weihnachtsmann nicht mehr alles allein bewältigen könne, zieht sie seit diesem Jahr ebenfalls los. “Leider sind meine Touren sehr weit voneinander entfernt, weil das Modell der Weihnachtsfrau noch nicht so gefragt ist”, sagt Konstanza.

Weiße Handschuhe und eine Glocke gehören ebenfalls zum Kostüm

Außerdem lernen wir: wie man Touren plant, um an Heiligabend möglichst viele Familien zu erreichen; wie man Vorgespräche führt, um Infos über die Kinder für das Goldene Buch zu sammeln; wie man mit Eltern Geschenke und Honorar übergibt, ohne dass die Kinder das mitbekommen; und dass Steuernummer und Steuer-ID zwei verschiedene Paar Weihnachtssocken sind.

Ich hatte mit vier Stunden lustigen Schauspiel-Übungen gerechnet, fühle mich nach zweieinhalb Stunden allerdings, als müsste ich wie die Kinder, die wir beschenken, die Schulbank drücken. Im Ehrenkodex ist wie in den Zehn Geboten aufgelistet, was der Weihnachtsmann darf und was nicht: Der Weihnachtsmann soll “alle Kinder von 0 bis 100 und älter” mögen, Güte und Harmonie ausstrahlen und nie fluchen. Wir sollen schlechtes Benehmen nicht tadeln, sondern nur Gutes hervorheben. “Auch wenn einige Eltern dich bitten, dem kleinen Timmy zu sagen, dass er in Zukunft nicht mehr in die Hose pinkeln soll – macht das nicht”, sagt Marian. Außerdem gilt: Der Weihnachtsmann telefoniert, raucht und trinkt nicht. “Und wenn die Familie mir das anbietet”, frage ich. “Das passiert sehr selten, aber auch dann nicht”, sagt Marian und blickt in enttäuschte Gesichter. “Wenn ihr unbedingt rauchen müsst, dann sucht euch eine dunkle Ecke aus und nehmt Kaugummis mit”, erklärt er. “Niemand will, dass der Weihnachtsmann wie Onkel Jochen riecht.”

Wir müssen Lieder singen und Blockflöten-Solos ertragen können

Nächster Tagesordnungspunkt: Singen.

“Wenn ihr in der Wohnung seid, wollen die Familien meist ein Lied singen und die solltet ihr kennen”, erklärt Marian. Ich werde nervös. Ich hatte vergessen, dass es Familien gibt, die vor der Bescherung singen wollen. Ich blätter durch die Seiten und finde von “Alle Jahre wieder” über “Stille Nacht! Heilige Nacht!” bis Theodor Storms “Knecht Ruprecht” nur Lieder und Gedichte, die ich nicht auswendig kann. Und selbst bei “Oh Tannenbaum” merke ich, dass ich eigentlich nur zwei Zeilen kenne. “Müssen wir wirklich alle Lieder kennen?”, meldet sich ein Weihnachtsmann-Kommilitone. “Weil: Ich kann nichts.” Marian schaut so irritiert wie Ron Weasley, wenn er wieder einen Strickpulli von seiner Mutter zu Weihnachten geschickt bekommt. “Natürlich, was habt ihr gedacht?”, entgegnet er. Und führt aus: “Weihnachtsmann zu sein, ist einer der anstrengendsten Jobs überhaupt.” Es stinke, man schwitze und man müsse immer der besonnene alte Mann sein, der es allen recht macht. Also lernen wir so ziemlich jede unangenehme Situation kennen, die Marian angeblich schon passiert ist.


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Die betrunkene Tante Gerlinde kann einen mit Tanz-Aufforderungen nerven und Onkel Hermann will unbedingt mal auf dem Schoß des Weihnachtsmanns sitzen. Und nach dem Singen möchte der kleine Lukas noch mit seiner Blockflöte “Oh Tannenbaum” spielen. “Falls die Kinder wissen wollen, wo der Schlitten steht, oder ob du der echte Weihnachtsmann bist, dürft ihr immer mit irgendwelchen hanebüchenen Lügen antworten, ihr seid schließlich der Weihnachtsmann”, sagt Marian. Sobald die Geschenke verteilt seien, habe sowieso kein Kind mehr einen Blick für uns. “Dann lasst ihr euch von den Eltern zur Tür bringen, steckt das Geld ein und spurtet zur nächsten Familie.” Der Weihnachtsmann muss so viel laufen wie seine Helfer im Lager bei Amazon.

Nach drei Stunden kommen wir zur Prüfung. Ich darf im Weihnachtsmannkostüm einmal vor Publikum meine Performances zeigen. Ich schlüpfe in die schwitzige Plüschjacke und rieche im Second-Hand-Bart den Mundgeruch meines Vorgängers. Nachdem ich zweimal mit der Glocke läute, mache ich so ziemlich alles falsch, was wir in den drei Stunden vorher gelernt haben. Ich vergesse die ersten Zeilen aus Theodor Storms Gedicht bei der Begrüßung, murmle bei den Liedern nur mit, und einem neugierigen Test-Kind, das wissen will, ob ich der echte Weihnachtsmann bin, übergebe ich überfordert das Geschenk seines fiktiven Bruders. “Wenn du alles auswendig kannst und das noch einige Male mit Kindern probst, dann schaffst du das sicher”, sagt einer der anderen Azubis zu mir.

Nach rund vier Stunden erhalte ich eine Urkunde und kann mich offiziell Weihnachtsmann nennen. Ein echter Weihnachtsmann werde ich aber wohl nie sein: Ich kann weder singen, noch habe ich die Muße, Lieder und Gedichte auswendig zu lernen und sie mehrmals vor dem schwersten Publikum der Welt zu performen. Trotz der verlockenden Bezahlung will ich an Heiligabend keine Geschenke bei Fremden verteilen, sondern bei meiner Familie sitzen – und irgendwann so riechen wie der Weihnachtsmann damals bei uns im Fußballverein.

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