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Schulschwänzer

Jedes Jahr landen weit über 1.000 Schüler wegen Schulschwänzens im Jugendknast

Das ergab eine VICE-Recherche. Das Gesetz behandelt Jugendliche wie Kriminelle, mit teils fatalen Folgen, warnen Experten.
Fotos: Pixabay || imago | Bild13 || Collage: VICE

Jeder macht mal blau, weil er auf die Doppelstunde Kurvendiskussion am Morgen keinen Bock hat. Schulschwänzen gehört zur Schule, seit es sie gibt. Wenn Schüler gar nicht mehr zum Unterricht erscheinen, steckt dahinter aber meistens nicht Bocklosigkeit. Die häufigsten Ursachen dafür sind laut Richtern und Wissenschaftlern Drogensucht, familiäre Probleme oder Mobbing. Im Idealfall werden solche Schüler von einem Netz aus Sozialarbeitern, Lehrern und Psychologen aufgefangen. Oder sie landen im Jugendknast.

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Tatsächlich ist 2017 genau das über 1.000 Schülern passiert. Diese Schätzung ergab eine Recherche von VICE, auf Basis der Daten der Bundesländer. Wie viele Schüler wegen Schwänzens tatsächlich hinter Gitter mussten, weiß in Deutschland allerdings keiner so genau.

Jens Buck ist Jugendrichter und Abteilungsleiter am Amtsgericht Hannover. "Die Missachtung der Schulpflicht", sagt er zu VICE, "ist keine Straftat." Es sei also gar nicht möglich, deswegen zu Arrest verurteilt zu werden. Trotzdem passiere genau das. Und zwar, weil Schulschwänzen in Deutschland eine Ordnungswidrigkeit ist.

Wenn ein Schüler über Wochen oder Monate gar nicht mehr zum Unterricht erscheint, sprechen die Schulen zuerst mit ihm, den Eltern und den Lehrern. "Erst wenn das zu nichts führt", sagt Buck, wird das Ordnungsamt eingeschaltet. Das erlegt den Schwänzern ein Bußgeld auf. In Niedersachsen sind das fünf Euro pro geschwänztem Schultag. "Wird dieses Bußgeld nicht bezahlt, kann ein Jugendgericht Arbeitsstunden verhängen." Nur wer die nicht ableistet, weiter nicht zahlt und immer noch nicht in der Schule auftaucht, wird zu Jugendarrest verurteilt. Der Gang in den Jugendknast ist also das Ende einer langen Kette von Maßnahmen. Das Ergebnis bleibt das Gleiche: Tausende Schüler werden eingesperrt, weil sie nicht zur Schule gegangen sind.

Niedersachsen schickte 2016 über 680 Schulschwänzer in den Jugendarrest

Bis auf ihre Insassen ähneln Jugendarrestanstalten normalen Gefängnissen. Wer hier landet, wird nachts in seiner Zelle eingesperrt, hat keinen Zugang zum Internet, keinen Fernseher und darf nur zu bestimmten Zeiten Besuch empfangen. Das heißt: früh aufstehen, Morgenappell, dann ein streng getakteter Tag, früh ins Bett, Licht aus. Die Insassen sollen lernen, was Freiheitsentzug bedeutet. Die pädagogische Idee dahinter: Wer einmal eingesperrt war, wird später alles dafür tun, nicht wieder hinter Gitter zu müssen. Die meisten Jugendlichen sitzen wegen Drogendelikten, Körperverletzung, oder Diebstahl ein. Im Vergleich dazu wirkt Schulschwänzen harmlos.

Deswegen, erklärt Richter Buck, können Schulschwänzer den Arrest bis zum letzten Tag vor Haftantritt abwenden. Dafür müssen sie bloß ihr Bußgeld zahlen. Oder sie arbeiten es ab, indem sie Praktika absolvieren oder regelmäßig zum Jugendpsychologen gehen. "Der Arrest erfolgt nur in den seltensten Fällen", sagt Buck.

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Das ändert aber nichts daran, dass in Niedersachsen, wo auch Buck Jugendrichter ist, mehr Schulschwänzer verknackt werden als in jedem anderen Bundesland. 683 waren es 2016. Die genauen Zahlen für 2017 sind noch nicht ausgezählt, laut dem niedersächsischen Justizministerium gebe es aber keinen Grund anzunehmen, dass sich die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr stark verändert hätten. Warum ausgerechnet in Niedersachsen die meisten Schulschwänzer im Arrest landen, weiß das dortige Justizministerium auch nicht. Es gäbe keine "besondere Linie", heißt es.

Die zweitmeisten Schulschwänzer landen in Bayern im Jugendarrest: 336 waren es 2017. Es folgen Sachsen mit 200 Arresten im letzten Jahr und Sachsen-Anhalt mit 187. In Thüringen, Hamburg, Schleswig Holstein, dem Saarland und Rheinland-Pfalz wurden letztes Jahr noch einmal insgesamt 301 Schüler zu einem einwöchigem Aufenthalt im Jugendknast verurteilt. Alles in allem wurden laut den offiziellen Zahlen und vorliegenden Schätzungen 2017 über 1.700 Schüler eingesperrt, weil sie chronisch geschwänzt haben.

Illustration: VICE | Deutschland-Karte: Pixabay

"Wir reden hier nicht von Schülern, die mal zwei Stunden blau machen", sagt Jugendrichter Buck. "Das sind Jugendliche, die über Monate einfach nicht mehr zur Schule gehen." Die Eltern seien machtlos, die Schüler häufig psychisch krank oder drogenabhängig. Dass es besonders viel Sinn macht, sie wegzusperren, bezweifelt der Richter allerdings selbst: "Der pädagogische Nutzen des Arrests ist begrenzt." Die wenigsten ließen sich davon beeindrucken. "Immer wieder habe ich Jugendliche vor mir sitzen, die vor einem halben Jahr bereits im Arrest waren und trotzdem wieder hier landen." Warum tut man das also? Warum sperrt man Schüler, die mit ihrem Alltag offenbar massive Probleme haben, mit Straftätern ein, die sich viel Schlimmeres geleistet haben? Auf eine Anfrage von VICE sagt das niedersächsische Justizministerium: "Die Anzahl der Schulverweigerer im Jugendarrest in Niedersachsen ergibt sich schlicht aus der konsequenten Anwendung der gesetzlichen Regelungen."

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"Der Jugendarrest soll dem Jugendlichen helfen, die Schwierigkeiten zu bewältigen, die zur Begehung der Straftat beigetragen haben." – §90 Jugendgerichtsgesetz.

"Ich kann mir schon vorstellen, dass so ein Arrest Abschreckungswirkung hat", sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, zu VICE. "Gerade an sozialen Brennpunkten wie in Berlin kann so etwas Wirkung zeigen." Gerade in Berlin gibt es aber die Möglichkeit gar nicht, Schulschwänzer in den Arrest zu schicken. Genausowenig übrigens in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg. "Das bestätigt doch meine These", sagt er. "Gäbe es das, lägen die Dinge vielleicht weniger im Argen."


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Christoph Müller ist Sozialwissenschaftler und Sonderpädagoge. Er hat ein Buch darüber geschrieben, was für Folgen ein Aufenthalt im Jugendarrest für Jugendliche haben kann. Schon dessen Titel macht klar, dass er den Arrest kritisch sieht. "Haftschaden", das sei ein Wort, das jeder im Jugendarrest kenne, sagt Müller. "Jugendarreste sind Ausdruck einer 'Harte-Linie-Politik'", sagt er. "Dahinter steckt weniger ein pädagogischer Ansatz, als eine gesellschaftliche Funktion." Jugendliche, die man in den Arrest schicke, reagierten auf diese Härte, indem sie sich zunehmend selber als hart begreifen. "Es gibt eine hohe Rückfallquote", sagt Müller. "Wer im Arrest landet, ist stigmatisiert. Er gilt als jemand, der in der Gesellschaft gescheitert ist." Jugendliche fügten sich in diese Rolle ein. "Sie empfinden einen Aufenthalt im Arrest als Zäsur", sagt Müller. "Viele von den Arrestanten, die ich interviewt habe, sagten Dinge wie: 'Früher hatte ich das und das vor.'" Der Arrest kann dazu führen, dass diese Ziele aufgeben werden. "Man bringt sie dazu, sich selbst als gescheitert zu betrachten."

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Der Umgang mit Schulschwänzern ist Ländersache. Die SPD in Sachsen-Anhalt will den Arrest zum Beispiel abschaffen, in anderen Bundesländern findet diese Diskussion bisher nicht statt. Auch auf Bundesebene spielt das Thema keine Rolle. Die Konferenz der Kultusminister schreibt VICE, überhaupt nicht zu wissen, wie viele Schulschwänzer es gibt: "Eine bundesweite Statistik liegt nicht vor." Jugendarrest für Schulschwänzer sei "derzeit auch kein Gegenstand länderübergreifender Koordinierung". Dabei hat die Vereinigung Deutscher Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen bereits 2012 eine Studie dazu in Auftrag gegeben. Schon darin heißt es, "die Praxis der Arrestvollstreckung sei bisher nicht hinreichend bekannt".

Die Studie kam zu dem Schluss, dass sich nur sehr schwer untersuchen lässt, wieso Schulschwänzer im Arrest landen. Ob Schüler, die einmal weggesperrt waren, danach keine einzige Stunde mehr sausen lassen, was für Auswirkungen der Arrest auf sie hat, wie sich die Zahl der verurteilten Schwänzer zusammensetzt, darüber konnten 2012 keine klaren Aussagen getroffen werden. Wie viele Schüler genau im Jugendknast landen, war offenbar vor sechs Jahren genau so wenig bekannt wie heute. "Über 2.000 im Jahr", heißt es in der Studie. Das deckt sich mit der Recherche von VICE.

Die "Bedeutung von Schularresten" würde "bundesweit erheblich variieren", heißt es am Ende der Studie. Im Klartext heißt das: Niemand weiß genau, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass Minderjährige im Knast landen, weil sie die Schule nicht besuchen. Das hat sich bis heute nicht geändert. In den Ministerien weiß man allerhöchstens über die Situation im eigenen Bundesland Bescheid. Und auch das nicht immer.

In manchen Bundesländern wissen auch die Ministerien nicht, wie viele Schulschwänzer im Arrest landen

In Bremen gibt man an, keine Schulschwänzer in den Arrest zu schicken, in Niedersachsen, die aus Bremen mit einzurechnen. Dort werden die Zahlen genau wie in Hamburg elektronisch erfasst. In Sachsen schätzt das Justizministerium die Zahl der Arrestierten bloß und im Saarland tut man sich schwer damit, die saarländischen Schüler und die aus Rheinland-Pfalz auseinanderzuhalten. Immerhin weiß man dort aber, wie viel es ungefähr sind. In Nordrhein-Westfalen und Hessen können die Ministerien nämlich erst gar keine Zahlen nennen. Eine Sprecherin des Bildungsministerium in Baden-Württemberg war sich noch nicht einmal sicher, ob Schulschwänzer dort überhaupt im Arrest landen. Die dortige Jugendarrestanstalt in Göppingen bestätigte VICE aber, dass manche ihrer Insassen genau deswegen einsitzen würden.

In der Studie im Auftrag der Jugendgerichte von 2012 heißt es, "statt in Schulordnungswidrigkeitenverfahren, sollten die Bundesländer ihre Steuergelder doch lieber in gute Schulen und Jugendhilfe investieren". Diese Erkenntnis scheint auch sechs Jahre später zu den jeweiligen Ministerien noch nicht vorgedrungen zu sein.

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